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Caroline von Schelling to Amalie Reichard

[Gotha, Ende Februar 1794].
In einem Zufall, der sich gestern ereignete, finde ich die erste Veranlaßung ein Stillschweigen zu brechen, das, so kurz unsre Bekantschaft war, doch unter uns sehr unnatürlich ist. Mad. Gotter glaubte Sie nicht annehmen zu können, weil ich bey ihr war. Mein hiesiger Aufenthalt mag auch nur kurze Zeit dauern, so können diese Fälle sich doch zu oft erneuern, als daß sie nicht meine Freunde in Verlegenheit sezten. Erlauben Sie mir also insbesondre eine Erklärung über mein eignes Gefühl in dieser Lage. Da ich hieher kam, war es nur meine Absicht einige Menschen noch einmal zu sehn, von denen ich in der Folge auf immer scheiden muß; ich wolte keinen meiner Bekannten besuchen, und auch Sie nicht. Das erforderte die Diskretion, die ich andern, und die Schonung, die ich mir selbst schuldig bin. Daß man mich aber so ängstlich vermeiden, daß man sich sogar hüten würde, nur meinen Nahmen gegen Personen zu nennen, mit denen man sonst von mir gesprochen hatte, und die ihre Theilnahme an meinem Schicksaal nicht verleugnen, das konte ich, wenigstens von einigen Einzelnen, nicht erwarten, und von Ihnen gar nicht. Denn eben Sie müßen die Kette von Begebenheiten sich denken können, welche ohne eine andre Schuld als die eines lebhaften Mitgefühls und vorübergehender Irthümer mir so unaussprechlich harte Unfälle zuzogen – Sie müßen einsehn, wie grundlos die Beschuldigungen sind, durch die ich in einen Zeitpunkt allgemeiner Erbittrung, bey solchen und von solchen, die nie mich kanten, vielleicht nie mich sahen, entstellt worden bin – und fühlen, wie unwahrscheinlich es ist, daß ein kurzer Zeitraum mich so ganz und gar verwandelt haben sollte, um im Gedränge so mannichfacher Leiden nicht auf ein ehrenvolles Mitleid Anspruch machen zu dürfen. – Der Mann, den wir beyde einst innig bedauerten, sagt in einem Brief, den er mir wenig Wochen vor seinem Tode schrieb: „ich kan mir die Lieblosigkeit der Menschen gegen Sie denken; auf eine andre Art, und doch nicht anders hab ich sie an mir erfahren. Die Unmöglichkeit zu irren ist bey den meisten derer, die so gern richten und verdammen, nur eine Folge ihres Egoismus. Daß das daraus entspringende Unglück Verirrungen schonungswerth machen kan, daß es uns mit dem Fehlenden aussöhnen muß, wenn wir auch unzufrieden mit ihm gewesen wären, davon haben diese Leute keinen Begriff.“
Ich habe geglaubt, Amaliens Herz würde sie zu dem billigen Urtheil leiten, von dem er redet, und daß er ihr gewiß zugetraut hätte – aber das Verfahren, welches sie sich auferlegt zu haben scheint, überführt mich beynah eines andern. Mancherley Rücksichten verhindern jeden weitern Umgang unter uns – wollen Sie mir nur dies zu verstehn geben, so wundert mich, daß Sie es nicht für überflüßig halten. Glauben Sie mir Misbilligung zeigen zu müßen um Ihrentwillen, so fällt doch das da weg, wo das Publikum gar nicht mit Ihrer Gesinnung bekant werden kan. Soll es aber Ahndung seyn, die mich trift – so laßen Sie mich Ihnen versichern, daß sich niemand härter tadelt wie ich mich selbst, wo ich mich tadelnswerth finde – daß aber kein Glaube irgend eines andern, keine Art des Benehmens gegen mich die Gründe erschüttern wird, welche meine ruhige Meinung über die Vergangenheit bestimmen. Ich frage Sie also so offenherzig, wie ich, wenn ich blos meine eigne Empfindung zu rath zöge, gegen jedermann verfahren dürfte, wollen auch Sie unnüzer weise dazu beytragen, meine Lage zu erschweeren? Oder wollen Sie nicht lieber der Stimme folgen, die Ihnen das gewiß immer da verbietet, wo Sie Ursach haben, jemand für unglücklich zu halten. Und kan Amaliens sanftere Menschlichkeit vergeßen, wie schrecklich ich für jede mögliche Unbesonnenheit gebüßt habe, oder vielmehr das Opfer einer solchen Verbindung von Umständen geworden bin, über die ich nicht Herr war?
Ich werde Sie nicht aufsuchen, und nicht verlangen, daß Sie es thun möchten – nur seh ich nicht ein, warum wir jeder Möglichkeit uns zu treffen so geflißentlich aus dem Wege gehn sollten, daß es einem Dritten Zwang auflegt. Ich scheue den Blick keines Menschen, dem ich zutrauen darf, daß er ein Herz hat. Meinen Sie aber dennoch mich vermeiden zu müßen, so wünschte ich es wenigstens bestimt genug zu wißen, um von meiner Seite ganz gerade zu dabey verfahren zu können.
C. B.
Metadata Concerning Header
  • Date: Ende Februar 1794
  • Sender: Caroline von Schelling ·
  • Recipient: Amalie Reichard
  • Place of Dispatch: Gotha · ·
  • Place of Destination: Gotha · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Caroline von: Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz vermehrt hg. v. Erich Schmidt. Bd. 1. Leipzig 1913, S. 321‒323.
Language
  • German

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