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Friedrich Schleiermacher to Carl Gustav von Brinckmann

Deine Briefe, liebster Brinkmann, bleiben für meine Begierde viel zu lange aus, und ich kann mir das Vergnügen nicht versagen mich wieder einmal mit Dir zu unterhalten ob ich gleich nach der Etikette des Briefwechsels erst eine Antwort von Dir abwarten sollte – inzwischen hoff’ ich Du wirst mir die Verlezung desselben verzeihen, wenn Du anders bei den vielen Beschäftigungen und Zerstreuungen welche Dir Dein Aufenthalt in Berlin an die Hand geben muß, noch Zeit genug übrig hast um die Briefe Deines alten Freundes zu lesen. Ich lebe noch immer der Hofnung Dich nach Ostern in Berlin zu sehn, aber die Zeit bis dahin dünkt mir noch ein wenig lange; ich denke unterdeß mit einer gewißen Ungeduld an Dich; ich wünsche mir oft zu sehn wie Du mit Deiner Zeit und mit Deiner Kraft zureichst, um alles zu faßen was in den weitläuftigen Gesichtskreis gehört, welchen Du Dir gezogen hast und das einzige was ich fürchte ist dieses, daß der junge Politikus und der feine Mann, der sich für die große Welt bildet in Dir nach und nach den Freund der Literatur und der Philosophie verschlingen wird. Dadurch wirst Du freilich immer mehr eine bemerkte Partikel in jenem großen Chaos werden wo sonst die meisten Theile in dem Ganzen völlig verschwinden, aber leider wird dadurch auch das Bild eines abwesenden Freundes immer schwächer in Deiner Seele werden, wenn er nicht ernstlich darauf bedacht bald diesen bald jenen Zug desselben wieder aufzufrischen bis er sich Dir zu einer glüklichen Stunde selbst wieder darstellen kann. Wenn ich besorge Du werdest Dich von der Literatur und Philosophie entfernen, so heißt das nicht: ich fürchte Du werdest jemals aufhören, diese auszuüben und jene mit Deinen eignen Produkten zu bereichern sondern nur Du werdest den Faden der genauen Bekantschaft mit derselben verlieren, und auch dies ist mir schon eine unangenehme Idee. Deine arme Epistel an eine junge Gräfin hat, wie ich sehe eine abermalige Verfolgung ausgestanden. Der Recensent hat sich nemlich berufen gefühlt, sein Urtheil gegen das Eberhardische Gegenurtheil gebührend zu vertheidigen – Was es doch für eine große Kunst ist aus ein paar abgerissenen Zeilen eine unbestimmte Beschuldigung herauszudrechseln. Dies schöne Beispiel hat mir vor dem ganzen Kritiken und AntikritikenWesen einen kleinen Ekel beigebracht. Es komt dabei gar zu viel auf den guten Willen an und über diesen wird der Partheigeist, welchen die Kantianer im höchsten Grad besizen bei dem geringsten Anlaß Herr. Sie haben würklich omnem lapidem in Bewegung gesezt um dem Magazin einen Kleks anzuhängen. Bei der Recension im Junius wußte Reinhold noch nicht daß der Kantische Commentator den Eberhard einmal citirt hatte Herr Schmidt war – und wie konnte er auch bei seiner πολυπραγμοσυνη auf eine solche Kleinigkeit gesehn haben, ob sie gleich sehr merkwürdig ist – jezt hat er es glüklich erforscht | er hat ihn mit sich fortgezogen und nun haben diese drei Herren unserm guten Theophron in dem Intelligenzblatt des Julius eine rangirte Bataille geliefert. Du hast dies alles vielleicht schon wieder vergeßen; ich aber habe es erst vor weniger Zeit gelesen und mich dabei des Lächelns nicht enthalten können. solche Künste geben bei mir für die Sache zu deren Behuf sie ausgeübt werden kein gutes Praeiudicium. Niemand hat wol in dieser Sache deutlicher bewiesen daß die große Philosophie nicht für den gröbsten Fehlschlüßen sichert als Reinhold. Er will behaupten daß weil jeder Schriftsteller ohnstreitig der beste Ausleger seiner Meinung ist, auch seine Autorität am besten entscheiden kann ob ein andrer ihn verstanden hat. Dies auf Eberhard und Kant angewendet würde freilich ein für den ersten ziemlich nachtheiliges Resultat geben, aber der Schluß sezt voraus daß Kant auch Eberhards Auslegung verstanden hat und das läßt sich doch wenigstens nicht so unerwiesen auf Autorität annehmen. – Alles dies muß Dir ziemlich Antikantisch scheinen und dennoch kann ich Dich aufrichtig versichern, daß ich von Tag zu Tage mehr im Glauben an diese Philosophie zunehme, und zwar desto mehr je mehr ich sie mit der Leibnizischen vergleiche. Hiezu hab’ ich kürzlich einen trefflichen Beitrag gefunden, da wo ich es am wenigsten vermuthete. Du mußt wissen, daß ich jezt ziemlich fleißig in den traurigen und finstern Abgründen der Theologie herumirre; in der Absicht mir vielleicht ein neues Licht dafür anzuzünden griff ich neulich Töllners vermischte Aufsäze eine periodische Schrift die leider nicht lange gedauert hat. Ich hatte nur gelehrte theologische Abhandlungen erwartet und erstaunte nicht wenig einen Schaz von Metaphysik zu finden; ich sah daß Töllner als Philosoph eben so merkwürdig ist, als als Theolog, und ich wurde überzeugt daß er, wenn er jezt noch lebte die Kantische Philosophie eben so eifrig vertheidigen würde, als er zu seiner Zeit der Leibniz-Wolfischen anhing, denn er war scharfsinnig genug verschiedene Mängel derselben einzusehn, ob er gleich nicht den rechten Weg einschlagen konnte ihnen abzuhelfen. Er tadelt gleich Anfangs alle damaligen Beweise für den Saz des Nichtzuunterscheidenden sehr scharfsinnig und unternimmt daher einen neuen Beweis der Einheit Gottes zu führen welcher mit diesem Saz nicht zusammenhing. Er nimmt ihn daher daß Gott unter allen Realitäten auch die größte äußere Möglichkeit zukommen müße, welches nicht möglich wäre wenn es mehr als ein Individuum dieser Art gäbe. So wenig dieser Beweis Stich hält so scharfsinnig ist er doch und mit dem vorigen verglichen hat er mir zu allerhand Betrachtungen Anlaß gegeben. Es läßt sich für das Principium indiscernibilium ein strenger Beweis führen weil die innern Bestimmungen (nach Wolfischer Terminologie) nicht nur als Grund sondern auch als Folge der äußern denken läßt. Dieser Beweis läßt sich mit der kan- tischen Entscheidung über diesen Grundsaz sehr gut reimen, aber er gibt auch das Resultat, daß die Grenzlinie die die Wolfische Philosophie zwischen innern und äußern Bestimmungen zieht nicht richtig gezogen seyn kann, welches noch deutlicher daraus erhellt weil die beziehen-|den Bestimmungen wirklich Mitteldinge zwischen beiden sind und sich also beide in einander verlaufen. Wenn man mit diesen Begriffen zu der Lehre von der Einheit Gottes geht, so findet man, daß wirklich Gott die größte äußere Möglichkeit zukommen muß, nicht nur sofern er als Grund von allen übrigen Dingen gedacht wird, sondern auch als Folge von ihnen allen, wegen der Vorstellungen die er von ihnen bekommt und wegen des Einflußes derselben auf seinen Willen. So zeigt sich daß alles was wir von Gott wißen und jemals wißen können ebenfalls nur äußre Bestimmungen sind. Aber ich muß meiner geschwäzigen Feder Einhalt thun die sonst noch eine ganze Seite Metaphysik hinschreiben würde, ohne zu fragen ob Dich diese Sachen auch hinlänglich interessirten – So geht es denen, die ein so einförmiges Leben führen als ich; sie wißen von nichts zu reden als von dem kleinen Kreis von Vorstellungen an welchem sie sich grade jezt reiben; euch andern strömen die Gegenstände zur Empfindung und zur Betrachtung von allen Seiten zu und ihr verliert dafür nichts als den kleinen Vortheil daß ihr euch nicht nach Belieben auf einen gewißen Punkt concentriren könnt. Dies lezte ist das einzige, was mir jezt zu thun möglich ist, aber es hat auch seine Unbequemlichkeiten. Ein Körper, der zu stark und zu anhaltend zusamengedrükt wird verliert nach und nach seine Elasticität. So geht es unsrer Seele bei dem Zurükziehn in sich selbst wenn sie sich nicht von Zeit zu Zeit des Druks entladen und ihre ganze Substanz wieder weiter ausdehnen kann. Hiezu gibt es nur zwei Hülfsmittel welche ich beide entbehre: Naturgenuß und abwechselnde Gesellschaft; ich fühle den Nachtheil, der daraus entsteht, und wünsche bald in eine andere Sphäre versezt zu werden, wozu mir mein Berlinisches Examen den Weg bahnen soll. Ich fürchte nur mein guter Genius wird ominös die Flügel über meinem Haupt schütteln und davon fliehn wenn ich von theologischen Subtilitäten Red’ und Antwort geben soll, die ich im Herzen – verlache. Aber Eberhard hat sich auch einmal mit aller seiner Kezerei vom Consistorio müßen examiniren laßen.
Die Selmariana sind schon in Schlesien, wenigstens in dem Herrnhutischen Theil desselben bekannt, und man kennt den Verfasser. Meine Schwester in Gnadenfrei welche weiß, daß ich das Glük habe mit Dir in einger Bekantschaft zu stehn hat an mich verschiedne Fragen gethan wegen einiger Stüke darin. Da sie aber nur die Seitenzahl citirt hat, so konnte ich ihr nicht Genüge thun. Wenn ich daran denke bin ich sehr unwillig auf meinen Beutel, der mir nicht einmal erlauben will diese läppischen 2 Thlr. zu spendiren um mir dafür ein Vergnügen zu schaffen welches mir Selmars persönliche Gegenwart gewißermaßen ersezen könnte. – Ich hoffe | daß Du mir bald mehr von den Urtheilen über diese Deine Erstgeburt melden wirst.
Heithausen – wenn Du es noch nicht wißen solltest – heirathet die eine reiche Tschirschky und sie bringt ihm 20000 f mit. – Meine Augen an denen ich einen bösartigen Fluß habe erlauben mir nicht weiter zu schreiben und Du mußt dismal mit einer kahlen Epistel vorlieb nehmen, welche Dir nichts als meine Begierde bald etwas von Dir zu hören, ausdrükt. Erfülle sie, liebster Selmar und lebe wol.
Schleyermacher.
Drossen d. 3t. Febr. 1790.
Wenn Du an Eberhard schreibst, so empfiehl mich ihm – weißt Du nicht, ob das fünfte Stük des Magazins schon heraus ist?
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 3. Februar 1790
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Carl Gustav von Brinckmann ·
  • Place of Dispatch: Drossen ·
  • Place of Destination: Unbekannt
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 1. Briefwechsel 1774‒1796 (Briefe 1‒326). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1985, S. 190‒193.
Manuscript
  • Provider: Brinckmann-Archiv, Trolle-Ljungby

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