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Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher to Friedrich Schleiermacher

Reichenbach, den 6. May 1790.
Mein lieber Sohn!
Gestern habe ich meinen Geburtstag Gott Lob! recht froh und dankbar und, wie du wohl vermuthen wirst, in der Gesellschaft Deiner Schwester zugebracht, froh und dankbar über mein Glück als Vater, welches ich ganz fühlte, indem wir im Geist alle beisammen waren und Lottchen mich den ganzen Vormittag mit Vorlesung Deiner und Carl’s Briefe unterhalten und erfreut hat. Da bitte ich Dich nun gleich anfangs, lieber Sohn, ja ich befehle Dir es, ihr darüber keine Vorwürfe | zu machen, wenn Du nicht haben willst, daß ich Dir welche mache, die Du freilich wohl verdient hättest, indem Du mich so sehr verkannt und eben dadurch so wenig Zutrauen zu mir gefaßt, welches mir denn so manches Vergnügen entzogen hat, welches Deine Briefe mir hätten gewähren können, wenn Du nicht, wie ich beinahe fürchte, unter die Zahl der finstern Väter mich gesetzt hättest, die die Freuden des Alters sich dadurch verderben, daß sie nicht mit Kindern Kinder und mit Jünglingen Jünglinge sein können. Wenn Du so fortfährst, lieber Sohn, welches ich doch nicht hoffen will, dann werde ich, da Du nun in Berlin bist, wohl auch nichts erfahren von allem dem, was Deine Seele fühlen wird, wenn der Anblick so mancher Werke der Kunst, dieser Nachahmerin der schönen Natur, Dich neue bisher fast ungekannte Freuden wird genießen lassen, Freuden, die Dich immer näher zu dem Schöpfer derselben, der lauter Liebe ist, führen werden. Und glaubst Du denn, lieber Sohn, daß Du auf solche Weise Deine selige Mutter ehren und Deinem treuen Dich zärtlich liebenden Vater in seinem Alter Freude machen werdest, wenn Du fortfahren wolltest, entweder aus einer malplacirten Schüchternheit, die man ganz fälschlich mit dem Namen kindlicher Ehrfurcht belegt, oder, welches schlimmer wäre und welches ich doch nennen muß, obgleich Du es ungern hörst, aus Egoismus Deinem liebenden, menschlichen und nie die Menschheit verkennenden Vater in Dir den angenehmen Jüngling zu verbergen, den gesetzten Mann vorzuspiegeln, und ihn dadurch so mancher Herzensfreude zu berauben. Hättest Du auch nur ein einziges Mal mit einem so angenehmen prosaischen Gedichtchen, als Deines an Selma ist, mich an meinem Geburtstage oder mit etwas Aehnlichem erfreut, so wollte ich alles Andere Dir verzeihen. Jedoch ich thue es auch ohne das in der Hoffnung, daß, da ich des persönlichen Umgangs mit Dir entbehren muß, Du ins Künftige mir diesen gewiß großen Verlust meines Alters durch natürlichere und offnere Briefe wenigstens einigermaßen ersetzen werdest. |
Und nun, mein lieber Sohn, will ich Dir nochmals zu Deinem Examen, wo es nicht schon vorbei ist, und zu Deiner Probepredigt Gottes Gnade und Segen wünschen, wie auch, daß Du, wenn es sein Wille ist, in Berlin Dein Unterkommen finden mögest, und da suche denn, so oft Du kannst, die Gesellschaft des Herrn Professor Garve, den ich in Breslau besucht habe und der mir sagte, daß er nach Berlin reisen werde. Empfiehl mich Deinen Herrn Examinatoren, besonders dem Herrn Hofprediger Sack, von dessen Vater ich examinirt und ordinirt worden bin, und danke ihnen in meinem Namen für ihre mit Dir genommenen Bemühungen.
Schweidnitz, den 7ten Mai 1790.
[...] Etwas muß ich doch noch nachholen aus Deinem vorlezten Briefe, wo Du die Parthey der von Dir so genannten unterdrückten Parthie der Theologen nimmst. Thue das nicht, lieber Sohn! um alles, was ich Dich bitten kann, nimm lieber keine Parthie, auch nicht die der Orthodoxen, sondern suche und ehre Wahrheit, wo Du sie antriffst. Die Art und Weise, wie man den Catechismus hat aufdringen wollen, ist mir selbst verhaßt. Man hätte ihn lieber als ein der allgemeinen religions-politischen LehrNorm des protestantischen Europa conformes Lehrbuch bloß empfehlen sollen. Denn daß eine gewisse Lehr-Norm notwendig sey, wirst Du doch nicht verkennen wollen; es ist kein protestantisches Land in Europa, welches sie nicht hätte, sogar das aufgeklärte Engeland; und unsere Augsburg’sche Confession ist mit dem politischen System | des protestantischen Europa so fest verknüpft, daß kein Staat sich ohne Gefahr davon losmachen kann. Und was wird denn auch endlich aus dem von Gott der Menschheit geschenkten Elementarbuch unserer Bibel werden? Wenn man so, wie bißher geschehen ist, fortfährt sie zu erklären, so ist sie nach 20 Jahren kein Elementarbuch mehr für’s Volck, weil es sie ohne Lehrer und Commentare nicht verstehen kann, folglich sie ihm gewissermaßen entrissen ist, und dann sind wir wieder in den finstern Catholischen Zeiten, wo das Volck sie nicht lesen durfte. Ich wünschte, lieber Sohn! daß Du mit Nachdenken Lessing’s Erziehung des Menschengeschlechts lesen wolltest, da würdest Du über verschiedene Dinge, die von den Neueren so sehr bestritten werden, Dir lichtvolle Ideen verschaffen; und dann will ich Dir von mir selbst ein Beispiel, ob es Deiner Nachahmung werth ist, zur Untersuchung empfehlen. Ich habe wenigstens 12 Jahr lang als ein würcklicher Ungläubiger gepredigt. Ich war völlig damals überzeugt, daß Jesus in seinen Reden sich den Vorstellungen und selbst den Vorurtheilen der Juden accommodirt hätte, aber diese Meinung leitete mich dahin, daß ich glaubte, ich müste eben so bescheiden gegen Volcks-Lehre seyn; nie hab’ ich mir es können erlauben, den Artikel von der Gottheit Jesu und seiner Versöhnung zu bestreiten, weil ich es aus der Kirchengeschichte und aus eigener Erfahrung an andern Menschen wußte, daß diese Lehre vom Entstehen des Christenthums an Millionen Menschen Trost und Lebens-Besserung gegeben hatte, und pflegte sie auch allemal, wo es das Thema erlaubte, obschon ich selbst nicht von ihrer Wahrheit überzeugt war, auf Moralität und Liebe gegen Gott und Menschen anzuwenden; ich wünschte, wenn Du auch von der Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens Dich nicht überzeugen kannst, daß Du wenigstens doch jene Lehre nie öffentlich bestreiten möchtest. In Berlin wirst Du auch wohl Gelegenheit haben, Müller’s philosophische Aufsätze zu lesen; es ist gewiß viel Wahres und Gutes darin; auch empfehle ich Dir des Hemsterhuis philosophische Schriften und, wenn Du es bekommen kannst, auch des Baco novum organum scientiarum zu lesen. Da wirst Du sehen, lieber Sohn, daß wahre Philosophen und Selbstdenker auch sehr bescheidene Leute sind und selten Partie ergreifen, welches denn auch zu Erforschung der Wahrheit schlechterdings nothwendig ist. Ich hoffe nun, daß Du, sobald Du etwas Muße hast, mir um | ständlich schreiben werdest, und ach! wie herzlich würde ich mich freuen, wenn Du Dich überwinden könntest, ganz offen und aus Deinem Herzen alle Tage etwas als an Deinen besten und zärtlichsten Freund an mich zu schreiben.
Nun, mein lieber Sohn, ich empfehle Dich Gott und seiner Gnade und drücke dich mit treuer Liebe an meine Brust als Dein Dich zärtlich liebender Vater
Schleyermacher.
Schreibe doch auch zuweilen an den armen guten Carl; nur hüte Dich, daß Du ihn in seinem Glauben nicht irre machst.
Metadata Concerning Header
  • Date: 6. und 7. Mai 1790
  • Sender: Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Reichenbach (Schlesien) · , Schweidnitz · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 1. Briefwechsel 1774‒1796 (Briefe 1‒326). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1985, S. 196‒199.
Manuscript
  • Provider: Abschrift bei Verlagsarchiv de Gruyter
  • Classification Number: Schleiermacher H8, S. 180-186

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