Schlobitten d. 5ten Mai 1791.
Wie sollt’ ich mich enthalten können, bester, geliebtester Vater, an einem Tage, der uns allen, denen Sie lieb sind, so wichtig ist, Ihnen wenigstens zu sagen, daß ich in den ersten Morgenstunden schon daran | denke, und daß ich dafür empfinde, wenn ich Ihnen auch gleich meine Empfindungen selbst nicht ausdrücken kann. Ich bin froh, über alles froh und von Herzen dankbar gegen Gott, der mich mit einem so seltenen Vorzug des Lebens begabt hat, der mir einen so guten, zärtlichen und weisen Vater gab, und mir ihn so lange läßt. Ich fühle mich so glücklich vor vielen andern Menschen; ich bin fähig zu empfinden, wie trefflich es ist, unter guten Menschen zu sein, und Gutes um sich her zu sehn. Ich bin fähig, nicht nur hier, sondern, will’s Gott, auch künftig in andern Kreisen nützlich zu sein und das Wohlbefinden Anderer zu vermehren; ich bin fähig, selbst innerlich glücklich zu sein, indem mir mein Herz sagt, daß ich das Gute und Edle aufrichtig liebe, daß ich die Wahrheit suche, daß ich mich für die bessere Menschheit interessire, und daß ich die schönen und trefflichen Gaben zu schätzen weiß, womit der gute Gott auch dieses Erdenleben beschenkt. Und, bester Vater, auf wen kann ich wohl nächst Gott alles dieses genauer beziehen, als auf Sie? War ich gleich von Kindheit an weniger um Sie, als vielleicht die meisten Kinder um ihre Väter sind, so weiß ich dennoch, wie sehr Sie von jeher auf mich gewirkt haben; ich fühle, wie sehr ich alles Gute, was ich bin, dem größten Theil nach durch Sie bin; ich fühle, daß ich Sie immer lieben werde, daß meine Dankbarkeit immer steigen wird, je mehr ich mich wahren Glücks empfänglich und würdig fühle, und das macht mir heute so wohl – denn diese süße Last will ich gern tragen, gern so schwer als möglich tragen.
Aber, liebster Vater, ich habe so lange nichts von Ihnen gehört! ich hoffe, daß das nichts Schlimmes bedeuten kann, und ich bin auch gar nicht fähig, heute einem üblen Gedanken Raum zu geben, denn es ist mir, als müßte Gott Ihnen heute auch einen guten Tag geben. Aber wo Sie ihn wohl feiern mögen? Ich wünsche und vermuthe – denn Sie richten es ja gern so ein, wenn es Ihnen möglich ist – daß Sie ihn unserer lieben Charlotte schenken, der eine solche Aufmunterung vielleicht sehr zu statten kommt, und ich hoffe noch weiter, daß diese meinen letzten Brief schon bekommen haben wird, daß sie ihn Ihnen vorliest, und daß Sie also auch heute fleißig an Den denken, der zwar recht glücklich ist, aber doch so weit von Ihnen und so Vielen, die ihm lieb sind! Ach, wenn uns doch der Himmel alle noch einmal zusammen führte, uns Kinder und Sie, und unsere Mutter, und unsern lieben, trefflichen Onkel! – Der Gedanke ist heute so natürlich, so süß, aber auch so weit. Doch man muß nicht undankbar sein, und über dem Guten, was man wünscht, nicht das vergessen, was man hat. |
Den 15. Mai.
Ich bin vor ein paar Tagen aber auch nur auf eine sehr kurze Zeit in Königsberg gewesen, welche so eben hinreichte, mich mit dem Ort bekannt zu machen, und ein Paar von den dasigen Gelehrten von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Unsern Predigern die Visite zu machen, dazu bin ich nicht gekommen, aber ein halbes Stündchen habe ich bei Kant und ein paar andern Professoren zugebracht. – Um des halben Stündchen willen werden Sie es mir verzeihen, daß ich nicht mehr von ihnen sage; denn was kann man in einer so kurzen Zeit anders sehen, als ob die großen Männer ihren Kupferstichen und Gipsbüsten ähnlich sind oder nicht, und ob die Beschreibungen, die man von ihnen gehört, und die Vorstellungen, die man sich von ihnen gemacht, zutreffen oder nicht. In der Stadt bin ich aber ziemlich herumgestiegen; sie ist groß, aber alt, und von schöner Architektur ist wenig darin zu sehn – hätte mein Fuß es mir nicht verboten, so würde ich den Thurm des alten Doms bestiegen haben, um das ganze Chaos übersehen zu können. Noch einen Mann habe ich hier gesehen, den ich schon vor 8 Tagen in Schlobitten kennen gelernt habe, der sich Ihren Freund nennt, und mir viel Empfehlungen an Sie aufgetragen hat. Er heißt Braunlick, ist Hofmeister bei einem Grafen Dönhoff, aber ehmals in Glatz im Hause des General Götze gewesen. Es ist ein Mann, der in hiesiger Gegend sehr bekannt ist und durch viele böse und gute Gerüchte geht – er ist Maçon, ist aber auch von den Häuptern einer gewissen Societät, die gemeiniglich mit dem Nahmen Gichtelianer belegt wird. – In wie fern ihnen dieser zukommt, weiß ich nicht, noch weniger, was ich von Herrn Braunlick zu halten habe, das aber möchte ich wohl wissen, ob er in Schlesien mit der Brüdergemeinde in einiger Verbindung gestanden hat, und darüber würden Sie, bester Vater, mir vielleicht einige Auskunft geben können. Ich möchte gern etwas haben, um der üblen Meinung von diesem Manne bei mir selbst ein gutes Praejudicium entgegenzusetzen, bis ich mehr über ihn zu entscheiden im Stande bin. Er hat sich [beklagt], wie mich Graf Wilhelm versichert, daß der erste Empfang, den ich ihm hier gemacht, ungeachtet des für mich so wichtigen Titels, den er sich gab, so wenig Wärme gehabt habe. Ich bin mir aber bewußt, daß ich ihm nicht kälter begegnet bin, als allen Menschen, die ich zum ersten Male sehe, und ich wünsche, er wüßte, daß es meine Art nicht ist, jemanden mit Wärme auf den ersten Anblick entgegen zu kommen.
(Den 7. Juli) Ich habe so lange nicht an Sie geschrieben und immer gehofft, wieder etwas von Ihnen, bester Vater, zu hören, aber ich bin nun schon seit langer Zeit ganz verlassen. Kein Brief von Ihnen, | keiner von Charlotten, keiner vom Onkel, aber nun muß ich Ihnen doch etwas erzählen, denn es war gestern ein gar zu schöner Tag, und ich habe soviel dabei an Sie gedacht. Es war der Geburtstag des Grafen, der auf eine sehr schöne Weise gefeiert wird. Des Morgens kamen alle seine Kinder in Prozession, ihm ihre Geschenke darzubringen; jedes hatte eine Zeichnung, und von den abwesenden wurden Briefe vorgetragen; der kleine Helvetius, ein Kind von 2 ½ Jahren, welches noch nicht recht sprechen kann, ging voran, streute dem Grafen Rosen entgegen, und rief immer dabei: Papa, da hast! Dieser gute Vater war sehr gerührt und sehr zärtlich, er empfahl sich seinen Kindern, und bat sie, Geduld mit einem 50jährigen Mann zu haben. Ich glaube, es war Niemand, dem nicht die Thränen dabei in den Augen standen. Hernach wurde in einer Laube mit der Inschrift: ,,O Vater, tritt herein, und laß uns diesen Tag Dir weihn!“ ein Frühstück gegeben, welches die jungen Gräfinnen allein bereitet hatten, und wobei sie auch allein servirten – es wurde dabei ein sehr schönes Lied gesungen, es war so erbaulich, so häuslich, so schön – und so verging der Tag auf eine sehr glückliche Weise. Vater und Familie fühlten ihr Glück auf eine so lebhafte Art. Was Wunder, bester Vater, daß mein Herz halb hier und halb bei Ihnen und bei unserm zerstreuten Häuflein war? Es ist so süß, einen Vater zu lieben, und so süß, es ihm zu sagen, aber nicht mit der todten Feder – ach, wenn man um ihn ist, so giebt es eine Sprache ohne Worte, die weit deutlicher spricht. – Aber was muß es auch für eine herrliche Empfindung geben, sich als Vater und Hausvater zu fühlen, zu fühlen, daß man geliebt ist, daß man menschlicher Weise als der Schöpfer von dem Glücke so vieler theuren Seelen betrachtet werden kann! O, das sahe ich gestern auf dem Angesichte des Grafen – ach, wann, wann werde ich es auf dem Ihrigen sehen? Doch ich kann es im Geiste wenigstens, wenn ich nur das Meinige dazu beitrage. – O, bester Vater, recht, recht viel Freude an mir und an uns allen!
(Den 20. Juli.) Bei einem sehr süßen Geschäft, einen von mir sehr geliebten Kranken zu pflegen, erhielt ich 6 Meilen von Schlobitten gestern vor 8 Tagen den reichen Segen von Briefen, den ich wirklich mit Angst und Bekümmerniß schon lange erwartet hatte, und es waren zwei so liebe Briefe von Ihnen, bester Vater, dabei! – Alle hatten sich freilich sehr verspätet, aber ich genieße sie nun desto mehr. So hat mich meine Ahnung vom 5. Mai nicht betrogen. Sie sind bei Charlotten gewesen und haben an mich nicht nur gedacht, sondern auch geschrieben. Den herzlichsten Dank für alle Ihre Liebe und auch für den neuen Beweis derselben, für meine Pathenschaft. Lieben will ich meine kleinen | Schwesterchen mit der besten Bruderliebe, und – sorgen? O bester Vater! Gott gebe, daß ich es könne, ohne daß ich es zu thun brauche. Tausend Glück denn zu dieser neuen Vermehrung unseres Cirkels und Gottes besten Segen über das liebe kleine Geschöpf. O küssen Sie es doch in meinem Nahmen, und empfehlen Sie mich der lieben Mutter, der ich viel Glück wünsche und alles Heil für die Zukunft, und die ich bitte, mir doch neben diesen Kleinen auch ein Plätzchen in ihrem Herzen zu lassen. Es ist im Ganzen wohl ein seltenes Glück eines Kindes, Pathe seines Geschwisterchens zu sein, und ich thue mir recht etwas darauf zu gute. Es ist in Ihrem Brief noch Manches zu beantworten, und ich will wenigstens den Anfang damit machen. Bei meinem unangenehmen Vorfall mit der Gräfin mögen Sie, bester Vater, es wohl getroffen haben; sie hätte freilich bei ihrer außerordentlich großen Klugheit und Feinheit noch einen Ausweg finden können, wenn sie unbefangen gewesen wäre, aber das war sie nun einmal nicht, und also hätte ich mich freilich mehr hüten sollen. Inzwischen glaubte ich bei dem auffallenden Schritt, den ich that, ziemlich sicher zu sein, daß man es nicht so lassen würde, und ich muß gestehen, daß sich die Gräfin hernach sehr edel benommen hat. Daß wirklich nichts Unangenehmes zurückgeblieben, davon bin ich so überzeugt, als von meinem Dasein; kein Mensch geht im geringsten anders mit mir um als vorher, und ich könnte tausend kleine Züge anführen, wenn sie der Feder nur so Stand hielten; nur der Graf hat ein paar mal, wenn er mich so recht glücklich sah, darüber gescherzt und gesagt: „Nun ist ihm bene, seht doch, nun geht er nicht aus der Condition!“ Aber eben dieser Scherz beweist meines Erachtens mehr für als wider mich. – Mit der Haltung des Versprechens, das ich Herrn Sack gegeben habe, sieht es freilich ein wenig mißlich aus, denn erstlich widme ich viel Zeit meinen Geschäften und dem Vergnügen dieses mir so werthen Hauses, und dann ist es so unendlich schwer, hier Bücher geborgt zu bekommen; selbst in Königsberg hat kein einziger Gelehrter eine Bibliothek, und das wird mich wohl auch zwingen, mehr für Bücher auszugeben, als ich sonst gethan haben würde. Bis jetzt, glaube ich, erstreckt sich meine ganze Bücherausgabe noch nicht über 10 Thlr. Ueberhaupt sehe ich bis jetzt noch keine Aussicht zu sammeln. Ich bin zu sehr Meister im Ruiniren von Kleidern und Wäsche, und bin es doch diesem Hause schuldig, mich sehr ordentlich zu halten. So habe ich bis jetzt 120 Thlr. ausgegeben, ohne eigentlich zu wissen wie, und wenn ich nicht schon bis jetzt 25 Thlr. an Geschenken bekommen hätte, so würde ich dieses Jahr nicht einmal recht auskommen. Die Nahrungssorgen sind eine böse Sache! |
16. August.
Da ist unterdessen Graf Wilhelm aus Königsberg hier gewesen, und in der ganzen Zeit bin ich nicht dazu gekommen, diesen ewigen Brief zu beenden. An Lottchen und den Onkel habe ich indessen geschrieben, um besonders die Erste über das Lamento zu trösten, womit ich meinen letzten Brief geschlossen hatte – aber glücklich bin ich unterdeß in einem hohen Grade gewesen. Sie wünschen, ich möchte mich dieser Familie nothwendig machen; das weiß ich nun freilich nicht zu bewerkstelligen, aber ich fühle, daß sie beinahe mir nothwendig geworden ist. Es sind alles so gute Menschen und es ist eine so lehrreiche und zugleich eine so liebe Schule. Mein Herz wird hier ordentlich gepflegt und braucht nicht unter dem Unkraut kalter Gelehrsamkeit zu welken, und meine religiösen Empfindungen sterben nicht unter theologischen Grübeleien. Hier genieße ich das häusliche Leben, zu dem doch der Mensch bestimmt ist, und das wärmt meine Gefühle. Wie ganz anders wäre das gewesen, wenn ich z. B. in Berlin in irgend einer Schule unter kalten zusammengezwungenen Menschen freundlos hätte leben müssen! Gerne gebe ich dafür das Wenige, was ich an Kenntnissen vielleicht einbüße. Dabei lerne ich Geduld und eine Geschmeidigkeit, die aus dem Herzen kommt, und in der Dankbarkeit für geselliges Glück gegründet ist; ich lerne mich und Andere kennen, ich habe Muster der Nachahmung und fühle, daß ich ein besserer Mensch werde. Sie danken gewiß Gott mit mir für seine gnädige Fügung, und wünschen mir Segen, sie weislich zu benützen. Ach, und Sie tragen noch ferner bei zu meinem Glück, durch Ihre Liebe und durch Ihren Rath, der mir immer so willkommen ist. Gott segne Sie, bester Vater, und Alle, die uns lieb haben. Verzeihen Sie – nicht die Länge, sondern die lange Dauer dieses Briefes
Ihrem treugehorsamsten Sohne
Friedr. Schleiermacher.
Wie sollt’ ich mich enthalten können, bester, geliebtester Vater, an einem Tage, der uns allen, denen Sie lieb sind, so wichtig ist, Ihnen wenigstens zu sagen, daß ich in den ersten Morgenstunden schon daran | denke, und daß ich dafür empfinde, wenn ich Ihnen auch gleich meine Empfindungen selbst nicht ausdrücken kann. Ich bin froh, über alles froh und von Herzen dankbar gegen Gott, der mich mit einem so seltenen Vorzug des Lebens begabt hat, der mir einen so guten, zärtlichen und weisen Vater gab, und mir ihn so lange läßt. Ich fühle mich so glücklich vor vielen andern Menschen; ich bin fähig zu empfinden, wie trefflich es ist, unter guten Menschen zu sein, und Gutes um sich her zu sehn. Ich bin fähig, nicht nur hier, sondern, will’s Gott, auch künftig in andern Kreisen nützlich zu sein und das Wohlbefinden Anderer zu vermehren; ich bin fähig, selbst innerlich glücklich zu sein, indem mir mein Herz sagt, daß ich das Gute und Edle aufrichtig liebe, daß ich die Wahrheit suche, daß ich mich für die bessere Menschheit interessire, und daß ich die schönen und trefflichen Gaben zu schätzen weiß, womit der gute Gott auch dieses Erdenleben beschenkt. Und, bester Vater, auf wen kann ich wohl nächst Gott alles dieses genauer beziehen, als auf Sie? War ich gleich von Kindheit an weniger um Sie, als vielleicht die meisten Kinder um ihre Väter sind, so weiß ich dennoch, wie sehr Sie von jeher auf mich gewirkt haben; ich fühle, wie sehr ich alles Gute, was ich bin, dem größten Theil nach durch Sie bin; ich fühle, daß ich Sie immer lieben werde, daß meine Dankbarkeit immer steigen wird, je mehr ich mich wahren Glücks empfänglich und würdig fühle, und das macht mir heute so wohl – denn diese süße Last will ich gern tragen, gern so schwer als möglich tragen.
Aber, liebster Vater, ich habe so lange nichts von Ihnen gehört! ich hoffe, daß das nichts Schlimmes bedeuten kann, und ich bin auch gar nicht fähig, heute einem üblen Gedanken Raum zu geben, denn es ist mir, als müßte Gott Ihnen heute auch einen guten Tag geben. Aber wo Sie ihn wohl feiern mögen? Ich wünsche und vermuthe – denn Sie richten es ja gern so ein, wenn es Ihnen möglich ist – daß Sie ihn unserer lieben Charlotte schenken, der eine solche Aufmunterung vielleicht sehr zu statten kommt, und ich hoffe noch weiter, daß diese meinen letzten Brief schon bekommen haben wird, daß sie ihn Ihnen vorliest, und daß Sie also auch heute fleißig an Den denken, der zwar recht glücklich ist, aber doch so weit von Ihnen und so Vielen, die ihm lieb sind! Ach, wenn uns doch der Himmel alle noch einmal zusammen führte, uns Kinder und Sie, und unsere Mutter, und unsern lieben, trefflichen Onkel! – Der Gedanke ist heute so natürlich, so süß, aber auch so weit. Doch man muß nicht undankbar sein, und über dem Guten, was man wünscht, nicht das vergessen, was man hat. |
Den 15. Mai.
Ich bin vor ein paar Tagen aber auch nur auf eine sehr kurze Zeit in Königsberg gewesen, welche so eben hinreichte, mich mit dem Ort bekannt zu machen, und ein Paar von den dasigen Gelehrten von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Unsern Predigern die Visite zu machen, dazu bin ich nicht gekommen, aber ein halbes Stündchen habe ich bei Kant und ein paar andern Professoren zugebracht. – Um des halben Stündchen willen werden Sie es mir verzeihen, daß ich nicht mehr von ihnen sage; denn was kann man in einer so kurzen Zeit anders sehen, als ob die großen Männer ihren Kupferstichen und Gipsbüsten ähnlich sind oder nicht, und ob die Beschreibungen, die man von ihnen gehört, und die Vorstellungen, die man sich von ihnen gemacht, zutreffen oder nicht. In der Stadt bin ich aber ziemlich herumgestiegen; sie ist groß, aber alt, und von schöner Architektur ist wenig darin zu sehn – hätte mein Fuß es mir nicht verboten, so würde ich den Thurm des alten Doms bestiegen haben, um das ganze Chaos übersehen zu können. Noch einen Mann habe ich hier gesehen, den ich schon vor 8 Tagen in Schlobitten kennen gelernt habe, der sich Ihren Freund nennt, und mir viel Empfehlungen an Sie aufgetragen hat. Er heißt Braunlick, ist Hofmeister bei einem Grafen Dönhoff, aber ehmals in Glatz im Hause des General Götze gewesen. Es ist ein Mann, der in hiesiger Gegend sehr bekannt ist und durch viele böse und gute Gerüchte geht – er ist Maçon, ist aber auch von den Häuptern einer gewissen Societät, die gemeiniglich mit dem Nahmen Gichtelianer belegt wird. – In wie fern ihnen dieser zukommt, weiß ich nicht, noch weniger, was ich von Herrn Braunlick zu halten habe, das aber möchte ich wohl wissen, ob er in Schlesien mit der Brüdergemeinde in einiger Verbindung gestanden hat, und darüber würden Sie, bester Vater, mir vielleicht einige Auskunft geben können. Ich möchte gern etwas haben, um der üblen Meinung von diesem Manne bei mir selbst ein gutes Praejudicium entgegenzusetzen, bis ich mehr über ihn zu entscheiden im Stande bin. Er hat sich [beklagt], wie mich Graf Wilhelm versichert, daß der erste Empfang, den ich ihm hier gemacht, ungeachtet des für mich so wichtigen Titels, den er sich gab, so wenig Wärme gehabt habe. Ich bin mir aber bewußt, daß ich ihm nicht kälter begegnet bin, als allen Menschen, die ich zum ersten Male sehe, und ich wünsche, er wüßte, daß es meine Art nicht ist, jemanden mit Wärme auf den ersten Anblick entgegen zu kommen.
(Den 7. Juli) Ich habe so lange nicht an Sie geschrieben und immer gehofft, wieder etwas von Ihnen, bester Vater, zu hören, aber ich bin nun schon seit langer Zeit ganz verlassen. Kein Brief von Ihnen, | keiner von Charlotten, keiner vom Onkel, aber nun muß ich Ihnen doch etwas erzählen, denn es war gestern ein gar zu schöner Tag, und ich habe soviel dabei an Sie gedacht. Es war der Geburtstag des Grafen, der auf eine sehr schöne Weise gefeiert wird. Des Morgens kamen alle seine Kinder in Prozession, ihm ihre Geschenke darzubringen; jedes hatte eine Zeichnung, und von den abwesenden wurden Briefe vorgetragen; der kleine Helvetius, ein Kind von 2 ½ Jahren, welches noch nicht recht sprechen kann, ging voran, streute dem Grafen Rosen entgegen, und rief immer dabei: Papa, da hast! Dieser gute Vater war sehr gerührt und sehr zärtlich, er empfahl sich seinen Kindern, und bat sie, Geduld mit einem 50jährigen Mann zu haben. Ich glaube, es war Niemand, dem nicht die Thränen dabei in den Augen standen. Hernach wurde in einer Laube mit der Inschrift: ,,O Vater, tritt herein, und laß uns diesen Tag Dir weihn!“ ein Frühstück gegeben, welches die jungen Gräfinnen allein bereitet hatten, und wobei sie auch allein servirten – es wurde dabei ein sehr schönes Lied gesungen, es war so erbaulich, so häuslich, so schön – und so verging der Tag auf eine sehr glückliche Weise. Vater und Familie fühlten ihr Glück auf eine so lebhafte Art. Was Wunder, bester Vater, daß mein Herz halb hier und halb bei Ihnen und bei unserm zerstreuten Häuflein war? Es ist so süß, einen Vater zu lieben, und so süß, es ihm zu sagen, aber nicht mit der todten Feder – ach, wenn man um ihn ist, so giebt es eine Sprache ohne Worte, die weit deutlicher spricht. – Aber was muß es auch für eine herrliche Empfindung geben, sich als Vater und Hausvater zu fühlen, zu fühlen, daß man geliebt ist, daß man menschlicher Weise als der Schöpfer von dem Glücke so vieler theuren Seelen betrachtet werden kann! O, das sahe ich gestern auf dem Angesichte des Grafen – ach, wann, wann werde ich es auf dem Ihrigen sehen? Doch ich kann es im Geiste wenigstens, wenn ich nur das Meinige dazu beitrage. – O, bester Vater, recht, recht viel Freude an mir und an uns allen!
(Den 20. Juli.) Bei einem sehr süßen Geschäft, einen von mir sehr geliebten Kranken zu pflegen, erhielt ich 6 Meilen von Schlobitten gestern vor 8 Tagen den reichen Segen von Briefen, den ich wirklich mit Angst und Bekümmerniß schon lange erwartet hatte, und es waren zwei so liebe Briefe von Ihnen, bester Vater, dabei! – Alle hatten sich freilich sehr verspätet, aber ich genieße sie nun desto mehr. So hat mich meine Ahnung vom 5. Mai nicht betrogen. Sie sind bei Charlotten gewesen und haben an mich nicht nur gedacht, sondern auch geschrieben. Den herzlichsten Dank für alle Ihre Liebe und auch für den neuen Beweis derselben, für meine Pathenschaft. Lieben will ich meine kleinen | Schwesterchen mit der besten Bruderliebe, und – sorgen? O bester Vater! Gott gebe, daß ich es könne, ohne daß ich es zu thun brauche. Tausend Glück denn zu dieser neuen Vermehrung unseres Cirkels und Gottes besten Segen über das liebe kleine Geschöpf. O küssen Sie es doch in meinem Nahmen, und empfehlen Sie mich der lieben Mutter, der ich viel Glück wünsche und alles Heil für die Zukunft, und die ich bitte, mir doch neben diesen Kleinen auch ein Plätzchen in ihrem Herzen zu lassen. Es ist im Ganzen wohl ein seltenes Glück eines Kindes, Pathe seines Geschwisterchens zu sein, und ich thue mir recht etwas darauf zu gute. Es ist in Ihrem Brief noch Manches zu beantworten, und ich will wenigstens den Anfang damit machen. Bei meinem unangenehmen Vorfall mit der Gräfin mögen Sie, bester Vater, es wohl getroffen haben; sie hätte freilich bei ihrer außerordentlich großen Klugheit und Feinheit noch einen Ausweg finden können, wenn sie unbefangen gewesen wäre, aber das war sie nun einmal nicht, und also hätte ich mich freilich mehr hüten sollen. Inzwischen glaubte ich bei dem auffallenden Schritt, den ich that, ziemlich sicher zu sein, daß man es nicht so lassen würde, und ich muß gestehen, daß sich die Gräfin hernach sehr edel benommen hat. Daß wirklich nichts Unangenehmes zurückgeblieben, davon bin ich so überzeugt, als von meinem Dasein; kein Mensch geht im geringsten anders mit mir um als vorher, und ich könnte tausend kleine Züge anführen, wenn sie der Feder nur so Stand hielten; nur der Graf hat ein paar mal, wenn er mich so recht glücklich sah, darüber gescherzt und gesagt: „Nun ist ihm bene, seht doch, nun geht er nicht aus der Condition!“ Aber eben dieser Scherz beweist meines Erachtens mehr für als wider mich. – Mit der Haltung des Versprechens, das ich Herrn Sack gegeben habe, sieht es freilich ein wenig mißlich aus, denn erstlich widme ich viel Zeit meinen Geschäften und dem Vergnügen dieses mir so werthen Hauses, und dann ist es so unendlich schwer, hier Bücher geborgt zu bekommen; selbst in Königsberg hat kein einziger Gelehrter eine Bibliothek, und das wird mich wohl auch zwingen, mehr für Bücher auszugeben, als ich sonst gethan haben würde. Bis jetzt, glaube ich, erstreckt sich meine ganze Bücherausgabe noch nicht über 10 Thlr. Ueberhaupt sehe ich bis jetzt noch keine Aussicht zu sammeln. Ich bin zu sehr Meister im Ruiniren von Kleidern und Wäsche, und bin es doch diesem Hause schuldig, mich sehr ordentlich zu halten. So habe ich bis jetzt 120 Thlr. ausgegeben, ohne eigentlich zu wissen wie, und wenn ich nicht schon bis jetzt 25 Thlr. an Geschenken bekommen hätte, so würde ich dieses Jahr nicht einmal recht auskommen. Die Nahrungssorgen sind eine böse Sache! |
16. August.
Da ist unterdessen Graf Wilhelm aus Königsberg hier gewesen, und in der ganzen Zeit bin ich nicht dazu gekommen, diesen ewigen Brief zu beenden. An Lottchen und den Onkel habe ich indessen geschrieben, um besonders die Erste über das Lamento zu trösten, womit ich meinen letzten Brief geschlossen hatte – aber glücklich bin ich unterdeß in einem hohen Grade gewesen. Sie wünschen, ich möchte mich dieser Familie nothwendig machen; das weiß ich nun freilich nicht zu bewerkstelligen, aber ich fühle, daß sie beinahe mir nothwendig geworden ist. Es sind alles so gute Menschen und es ist eine so lehrreiche und zugleich eine so liebe Schule. Mein Herz wird hier ordentlich gepflegt und braucht nicht unter dem Unkraut kalter Gelehrsamkeit zu welken, und meine religiösen Empfindungen sterben nicht unter theologischen Grübeleien. Hier genieße ich das häusliche Leben, zu dem doch der Mensch bestimmt ist, und das wärmt meine Gefühle. Wie ganz anders wäre das gewesen, wenn ich z. B. in Berlin in irgend einer Schule unter kalten zusammengezwungenen Menschen freundlos hätte leben müssen! Gerne gebe ich dafür das Wenige, was ich an Kenntnissen vielleicht einbüße. Dabei lerne ich Geduld und eine Geschmeidigkeit, die aus dem Herzen kommt, und in der Dankbarkeit für geselliges Glück gegründet ist; ich lerne mich und Andere kennen, ich habe Muster der Nachahmung und fühle, daß ich ein besserer Mensch werde. Sie danken gewiß Gott mit mir für seine gnädige Fügung, und wünschen mir Segen, sie weislich zu benützen. Ach, und Sie tragen noch ferner bei zu meinem Glück, durch Ihre Liebe und durch Ihren Rath, der mir immer so willkommen ist. Gott segne Sie, bester Vater, und Alle, die uns lieb haben. Verzeihen Sie – nicht die Länge, sondern die lange Dauer dieses Briefes
Ihrem treugehorsamsten Sohne
Friedr. Schleiermacher.