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Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher to Friedrich Schleiermacher

Anhalt, den 23sten April 1792.
Mein lieber Sohn! Ueber Deinen Brief vom 13ten März hab’ ich mich herzlich gefreut, und darum hoffe ich auch, daß Du fortfahren wirst mir öfter zu schreiben, wenn ich Dir gleich auf jeden Brief nicht immer antworten kann. Kränklichkeit und mancherlei Sorgen haben den Winter hindurch fleißig bei mir zugesprochen, und dabei ist man denn zum Schreiben wenig aufgelegt. Es scheint, daß eine beschwerliche und täglich mit predigen und andern Geschäften abwechselnde Reise wie die, welche ich vom 29sten Februar bis zum 3ten April gethan habe, mir noch jetzt in meinem Alter zuträglicher ist als eine fortdauernde Ruhe; denn bei dieser werde ich von gichtischen Anfällen und dann auch von mancherlei Sorgen, die von meiner Lage unzertrennlich sind, mehr heimgesucht; ich genieße aber auch mehr häusliche Freuden und so, im Ganzen genommen, danke ich Gott für alles und sage mit gerührtem Herzen: Bis hieher hat der Herr geholfen und ich bin viel zu geringe aller Barmherzigkeit und Treue, die ich von Ihm erfahren habe. Mache Dir, lieber Sohn, aus dieser eigenen Erfahrung Deines Vaters den festen Grundsatz: daß man, bei treuer Erfüllung seiner Pflichten und einem rechtschaffenen Betragen, in dieser Welt nur alsdann glücklich sein kann, je weniger Prätensions man macht und jemehr man sich gewöhnt, alles, auch das mindeste Gute mit Dankbarkeit gegen Gott zu genießen, und | in dieser seligen Fassung wird man dann auch von der nämlichen wohlthätigen Hand das letzte Gute, den Tod, dankbar und vertrauensvoll annehmen. Zu dem ersten und anderen gelangt man durch eine gründliche Erkenntniß seiner selbst, durch Freude an anderen, und besonders durch eine entschiedene und alles überwiegende Ehrfurcht und Liebe gegen die, weit über alles von uns gekannte allerhöchste und verehrungswürdigste Person Jesu Christi, welcher sogar an sich selbst keinen Gefallen hatte.
Du beklagst Dich, daß Du Dir keine Bücher kannst anschaffen; ich aber gratulire Dir dazu, denn unsere Denkungsart verändert sich zu oft mit den Büchern, da wirft man denn die alten weg und kauft neue. Diese Bücher-Manie hat Deinem Vater viel Kummer gebracht, der sich jedesmal schmerzhaft erneuert, so oft ich alte Buchschulden zu bezahlen habe. Sei auch nicht zu besorgt über Deinen Vortrag im predigen, das wird sich schon geben. Wird Dir dereinst ein vermischtes Auditorium oder auch wohl gar eins von der niedrigsten Classe (welches ich Dir mehr wünsche als ein glänzendes) zu Theil, so wirst Du, wenn Du Deine Zuhörer lieb hast, Dich auch zu ihnen herablassen können und wirst es mit Vergnügen thun. Lieber Sohn, laß Dir meine Erfahrungen und die daraus gezogenen Lehren nicht mißfallen; was kann ich in meinem Alter wohl sonst noch für Dich thun, als daß ich Dir das, was ich jetzt vielmal bereue, zur Warnung darlege. Hiezu gehört auch besonders das, daß ich von jeher das Geld zu wenig geachtet habe, und darum bitte ich Dich inständig, befleißige dich einer guten Wirthschaft und genauen Eintheilung Deines Einkommens; vorzüglich aber untersuche besser, d. h. nicht nur mit Deinem gewöhnlichen scharfen, sondern mit einem ganz unparteiischen Blicke das, was man Generosität zu nennen pflegt; mache wenigstens den Anfang damit, es wird dabei doch am Ende des Jahres noch sehr viel daran fehlen, daß Du auch hierin völlig zufrieden sein könntest. Du hast doch ein schönes Einkommen und dabei alles frei, und wenn auch Deine | Kleidung, wie ich vermuthe, wesentlich kostbarer ist, als sie äußerlich zu sein scheint, so könntest Du doch auf einen Nothfall jährlich wenigstens 50 Rthlr. zurücklegen, und wie wohl würde Dir das Ersparte thun, wenn Vorfälle, die sowohl die Voraussicht des menschlichen Verstandes, als auch das festeste Zutrauen auf eigene Kräfte und Würde zu Schanden machen, eintreten. [. . .]
Charlotte ist Gottlob jetzt zufriedener, nachdem sie dem Ideengang und den Empfindungen, welche zur Erhaltung der Gemüthsruhe in einem Chorhause schlechterdings unentbehrlich sind, sich mehr ergeben hat. Ich selbst habe sie schriftlich und mündlich sehr oft dazu aufgefordert und ich bin gewiß, daß Deine zärtliche Liebe zu ihr ohne mich Dir schon rathen wird, daß Du sie nicht durch mancherlei, wenn auch herzlich gut gemeinte Allotria aus der Einfalt verrückest. Was ist wohl wünschenswerther, als Gesundheit und Gemüthsruhe, sei auch letztere zum Theil nur Einbildung, und mir ist nicht bewußt, daß jemand noch die eigentliche wahre Grenzlinie zwischen dieser und Realität je gezogen hätte.
Du wünschest nun auch etwas von der Mutter und den lieben kleinen zu hören; das gewisseste und beste, was ich Dir davon sagen kann, ist, daß wir alle gesund und mit einander herzlich vergnügt sind. Die Kinder hängen alle gar sehr an der Mutter, die aber auch ganz Mutter ist; sie lieben aber auch ihr altes Vaterle und dieses hat wieder seine Freude an ihnen. Die Liebe ist unter uns Quelle und Band des Vergnügens und der Freude; diese und gegenseitiges Zutrauen lassen auch wenig Unarten bei den Kindern aufkommen. Die älteste geht der Mutter zur Hand, spinnt, näht und strickt; noch mehr aber läuft sie umher und mit dem Lesen wills noch nicht recht fort; sie hat freilich schon ihre Mädchens-Launen und Eigenheiten, ist aber ein gutes Kind und eine treue Seele. Carolinchen ist ein liebes, lebhaftes und schmeichelhaftes Kind, die in ihren blonden Haaren, rundem Gesicht und großen blauen Augen gleich jeden gewinnt; in ihrer [. . .] Dein Pathchen ist ein so starkes, gut genährtes Kind, als keines | war, ist aber dabei sehr lebhaft und gutmüthig; bei nur erträglicher Witterung ist sie kaum in der Stube zu erhalten, geschweige bei guter, und so ist denn freilich der Garten seit einigen Wochen der Kinder liebster Aufenthalt. Uebrigens lassen wir unsern lieben Vater im Himmel für die Zukunft sorgen. Ich hoffe aber doch, lieber Sohn, Du wirst Dir wenigstens so viel zu ersparen suchen, daß Du uns hier noch vor meinem Ende sehen kannst, sobald es Deine Lage zuläßt. Es wird zwar oft von dem Bruder Fritze gesprochen, das ist aber auch alles. Weißt Du uns denn nicht ein angenehmes lehrreiches Kinderbüchlein für die Anne zu empfehlen? Und nun sei von uns allen herzlich gesegnet, und gegrüßt von Deinem Dich herzlich liebenden Vater.
Metadata Concerning Header
  • Date: Montag, 23. April 1792
  • Sender: Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Anhalt (Hołdunów) ·
  • Place of Destination: Schlobitten ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 1. Briefwechsel 1774‒1796 (Briefe 1‒326). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1985, S. 242‒245.

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