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Friedrich Schleiermacher to Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher

[. . .] wollen. Hier haben wir den ganzen April nur hie und da einen einzelnen schönen Tag gehabt und der Mai hat sich bis jetzt auch schlecht genug aufgeführt, so daß ich meinen Kleinen noch kein einziges mal das Vergnügen habe machen können, sie im Garten zu unterrichten, und wie ich ihnen von meinen kleinen Geschwistern erzählte, haben sie sie nicht wenig beneidet. Diese Tage, bester Vater, werden Sie wohl bei Lottchen zugebracht haben, für die das auch die größte Freude ist, die sie genießt. Das gute Mädchen hat auch mir in ihrem letzen Briefe sehr starke Versicherungen von ihrer Zufriedenheit gegeben, aber doch in einem solchen Ton, als ob sie wenig Hoffnung hätte, daß ich ihr so recht, wie sie es wünschte, glauben würde; und in der That, es geht mir auch schwer ein. Es ist wohl sehr wahr, daß man jedem seine eigene Gemüthsruhe lassen muß und daß, wenn man die Sache bloß an sich betrachtet, niemand sagen kann: meine Art ist die wahre und jede andere ist Einbildung; denn es kommt ja dabei bloß auf das Gefühl und das Bewußtsein eines jeden | an. Aber das gehört doch meines Erachtens schon wesentlich dazu, daß die Ruhe, die jeder genießt, seine eigene ist, daß die Empfindungen, wodurch sie hervorgebracht wird, ihm natürlich sind und mit seinen anderen Gesinnungen übereinstimmen. Das ist aber nach meinen Vorstellungen bei unsrer lieben Charlotte nicht der Fall; sie muß sich mit Gewalt in diese Empfindungen hineinversetzen und eine solche Spannung hält die Seele nicht lange aus. Die Täuschung – denn eine solche erzwungene Ruhe ist doch gewiß für nichts anderes zu rechnen – zerfließt und so fürchte ich, daß sie bald wieder mit mancherlei Mißmuth zu kämpfen haben wird. Dabei ist wirklich auch die beste Seele, und die sich in ihrem Betragen schon ziemlich in Acht zu nehmen weiß, im Chorhause bisweilen solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt, daß wirklich eine sehr lebhafte Ueberzeugung „daß man auf gar keine andere Weise glücklich sein könne“ dazu gehört, um mit einiger Zufriedenheit da zu sein. Um des willen glaub’ ich noch immer, daß es für sie auf die Dauer besser sein würde, wenn sie wieder in eine häusliche Lage versetzt werden könnte, jedoch ohne ihre Verbindung mit der Gemeine zu schwächen; denn die ist wohl zu ihrer Ruhe nothwendig. Könnte ich dazu etwas beitragen, bester Vater, so gestehe ich Ihnen gern, daß ich nach meiner Ueberzeugung es für meine Pflicht halten würde, es zu thun; da das aber nicht möglich ist, so können Sie auch fest überzeugt sein, daß ich nicht das geringste thun werde, um ihr ihren Zustand, ehe sie es selbst fühlt, verdächtig zu machen oder sie in dem Genuß des guten, was darin liegt, zu stören. Es kann nichts aufrichtiger von Herzen gehn, als meine Wünsche, daß Gottes Segen immer mit ihr sein und sie leiten möge; und daß sich ihr gefühlvolles Herz nie verengen, sondern auch für die wahre freundschaftliche Schwesterliebe, die sie gegen mich hat, immer Raum behalten möge. Daß ich nach langer Zeit einmal wieder etwas von Carl höre, ist mir auch sehr lieb. Es freut mich, daß er seine Lehrjahre überstanden hat und sich in sein Geschäft findet; wie er sich | aber unterdeß geformt und welch’ eine Art von jungem Menschen er unterdeß geworden ist, das werde ich wohl erst erfahren, wenn ich ihn einmal sehe.
Ein Buch für Annchen weiß ich Ihnen nicht anzugeben, bester Vater; ich kann mich überhaupt mit wenigen Kinderbüchern vertragen und glaube auch, daß ein Buch eigentlich nicht eher für ein Kind gehört, bis es einen Verstand von 8 oder 9 Jahren hat. Wäre der große Schritt geschehn, der an sich nur eine Kleinigkeit, aber mir wenigstens für diesen Theil der Erziehung von großer Wichtigkeit zu sein scheint, daß wir mit einerlei Lettern schrieben und druckten, so könnte man mit weniger Mühe immer das schreiben, was ein Kind lesen sollte und auf die Art, wie es zu allem übrigen paßte, und es könnte nie mehr oder etwas anderes lesen als man wollte. Das würde wichtigere Folgen haben, als manche Neuerung, wovon man als von einem großen Schritt zur Verbesserung des Menschengeschlechts ein großes Geschrei macht.
Empfehlen Sie mich der guten Mutter aufs beste und dankbarste und geben Sie den Kleinen viele Grüße und Küsse von mir. Lassen Sie sie immer vom Bruder Fritz plaudern bis er endlich kommt; Sie aber, bester Vater, erhalten Sie mir immer Ihre väterliche Freundschaft und sein Sie versichert, daß ich nichts inniger fühle als die dankbare kindliche Liebe, womit ich an Ihnen hänge als Ihr treugehorsamster Sohn.
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 9. Mai 1792
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Schlobitten ·
  • Place of Destination: Anhalt (Hołdunów) ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 1. Briefwechsel 1774‒1796 (Briefe 1‒326). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1985, S. 245‒247.

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