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Friedrich Schleiermacher to Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher

Schlobitten, den 10. Februar 1793.
Liebster Vater!
Wohl habe ich alle mögliche Ursache, mich sehr zu schämen; es sind nun zwei Monat beinah, daß ich Ihren Brief habe und nun erst fange ich an darauf zu antworten. Wenn ich Ihnen auch alle unsre Pilgrimschaften von Schlobitten nach Finkenstein und von Finkenstein wieder nach Schlobitten und noch hundert andere Dinge vorrechnen wollte, so würden Sie wohl daraus ersehn, was wir unterdeß für eine Lebensart geführt, aber Sie würden darin ebensowenig als ich eine Ursach finden, die mich hätte verhindern können, an Sie zu schreiben. Also will ich lieber ganz gerade heraus mit der Ursach gehen. Ihr Brief selbst, bester Vater, hat mich abgehalten, anstatt mich anzutreiben, und das vermittelst des annexi wegen der Predigt. Diese abzuschreiben, dazu habe ich nicht recht kommen können und es war mir unmöglich mich hinzusetzen und einen Brief anzufangen, wo ich Sie hätte vertrösten müssen, daß es noch erst geschehn würde. Ich habe es verschiedene Male versucht, aber es ging nicht. Nun liegt sie abgeschrieben oder vielmehr aufgeschrieben vor mir und ich schreibe mit leichtem Herzen; im Grunde ist das ein wunderliches närrisches Gefühl, aber es hat mich beherrscht. Da nun aber die Predigt der Stein des Anstoßes gewesen ist, so will ich auch lieber gleich alles abhaspeln, was ich darüber auf dem Herzen habe, besonders da es in mancher Rücksicht auch zu den Dingen gehört, worüber ich mich zu schämen habe. Sie wünschten eine von meinen neuesten Predigten. Hätte ich dieses Wort übersehn, so würde ich irgend eine vom Anfang des vorigen Jahres abgeschrieben haben, aber von meinen neuesten war keine einzige aufgeschrieben. – Sie haben die Sünde gehört, lieber Vater, hören Sie auch die Vertheidigung. Faulheit liegt freilich bei diesem Verfahren zum Grunde, aber doch nicht die Faulheit überhaupt, sondern nur die Faulheit zu schreiben, welche von üblen | Augen und von allerhand andern Dingen unterstützt wurde. Ich kann eine Predigt nicht eher anfangen aufzuschreiben, bis ich sie völlig auch in den kleinsten Theilen durchgedacht habe, weil ich sonst gar zu leicht in Gefahr gerathe etwas zu anticipiren oder an eine falsche Stelle zu setzen. Nun ließen mir in der letzten Hälfte des verflossenen Jahres die Umstände nicht zu, dieses Durchdenken zur rechten Zeit hintereinander anzustellen, sondern es mußte bisweilen zerstückt in einzelnen Augenblicken geschehn und dann kam das ganze corpus der Gedanken gemeiniglich erst des Sonnabends zu Stande; freilich ist es dann noch sehr möglich eine ganze Predigt, wenn sie so vollkommen durchgedacht ist, zu concipiren, aber dann muß es doch sehr hintereinander weggehn und dazu war ich denn theils zu faul, theils wollt’ ich’s meinen Augen nicht zu Leide thun, theils auch nicht meinem Gedächtniß, welches dasjenige gar zu leicht verwirrt, was ich hintereinander geschrieben habe (in Absicht des Lesens kann ich ihm diesen Fehler nicht Schuld geben). Also ließ ich denn das Schreiben sein. Das aber kann ich Sie versichern, daß mir diese Predigten weit mehr Mühe gemacht haben, als andere; ich machte mir dann eine ganz entsetzlich genaue Disposition und suchte nun für jeden Gedanken mehrere Arten des Ausdrucks; ich nahm ein Stück der Predigt vor und hielt es in Gedanken, dann wieder ein anderes und ein drittes, dann kam ich wieder auf jenes erste zurück, da ich es denn doch gewiß wieder etwas anders ausdrückte, und so hielt ich meine Predigt immer stückweise, aber zusammengenommen gewiß mehreremal, memorirte auch das ganze Skelet. Um Ihnen nun dieser Predigten eine dennoch schicken zu können, habe ich unter ihnen nicht die beste und interessanteste aussuchen können, sonst wäre meine Wahl anders ausgefallen, sondern ich habe diejenige nehmen müssen, auf welche ich mich noch am genauesten besann, bin auch ganz ehrlich zu Werke gegangen und habe mich überwunden manches nicht zu verbessern, wovon ich noch genau wußte, daß ich es so gesagt, eben weil es | mir aufgefallen war. Manche Fehler werden sich Ihnen aufdringen, die bloß in dieser Procedur ihren Grund haben, und einzelne undeutliche nicht genug bestimmte Ausdrücke, die hernach durch verkleidete Wiederholungen wieder gut gemacht werden sollen, welches ich immer that, wenn ich merkte, daß ich etwas nicht so gut gesagt hatte, als es hinter dem Ofen decretirt worden war, und dann, daß der Eingang weit mehr Stil hat, als alles übrige; ich denke, das kommt daher, weil es bei einem so einzelnen detachirten Stück dem Gedächtniß leichter wird, es ganz so wiederzugeben, wie es es bekommen hat, denn besonderen Fleiß habe ich nie darauf gewendet. Ich habe solcher Predigten sieben gehalten, wovon ich Ihnen doch die Themata hersezen will: 1) am 2ten Ostertag: über die Pflichten, welche die Gewißheit der Auferstehung uns auflegt; 2) nach Ostern: über die Geschichte vom Thomas, vom vernünftigen Glauben; 3) die wahre Furcht Gottes; 4) eine Communions-Predigt über die wahre Einigkeit der Christen, Text: Joh. 17. 20—22; 5) die welche Sie bekommen; 6) von der nothwendigen Einschränkung der Anhänglichkeit ans irdische Glück, über das Evangelium am 2ten Advent; 7) die durch Christum aufgehobene Unmündigkeit des menschlichen Geschlechts, über die Epistel am Sonntag nach Weihnacht. Ich habe Ihnen dies Verzeichniß gegeben, weil ich mich über meine Predigten beklagen will; die Themate klingen alle so simpel und leicht und doch haben die Predigten alle, und fast alle in noch größerem Maße als die abgeschriebene, etwas eigenes und schweres; ich weiß nicht, kommt es von der Sucht, das Thema zu erschöpfen, wenigstens so einzurichten, daß jeder Einwurf, den ich mir denken kann, explicite oder implicite eine Antwort findet, oder von einer mir selbst verborgenen Begierde, es von einer neuen Seite anzusehn, oder davon, daß ich zu sehr von meinen jedesmaligen Bedürfnissen und den Ideen, die mir dann just auffallend sind, ausgehe. Dies letzte mag wohl viel dazu beitragen und darum ist es bei dieser Predigt weniger der Fall, weil ich das Thema auf Anregen der | Gräfin Friedrike wählte, wegen des bevorstehenden Marsches ihres Bruders. Dennoch hat auch diese Form und Materie etwas besonderes, kurz es scheint mir, als ob meine ersten Predigten weit mehr Predigten wären, als es meine jetzigen sind. Es ist meine ernstliche Bitte, bester Vater, daß Sie mich darüber entweder beruhigen oder mir Rath geben mögen; denn ich bin bei jeder neuen Predigt in Gefahr irre an der Sache zu werden. Der Grund dieses schweren liegt nicht im Nichtconcipiren, denn es findet sich auch in andern Predigten und scheint auch nicht im Ausdruck, sondern in der Anordnung oder Beschaffenheit der Gedanken zu liegen. Darum giebt mir auch das Beispiel von Blair’s Predigten wenig Trost, weil das auszeichnende davon mehr im Ausdruck liegt, der freilich eben so verständlich als schön ist. Bei mir finde ich aber eine so besondere Unverständlichkeit in den Gedanken. Diesen Sommer hab’ ich dem Onkel vier ältere Predigten geschickt und auch schon meine Klage darüber eingegeben, aber er hat sich nicht so weitläufig darüber ausgelassen, als ich wohl wünschte.
Den 14ten.
Wenn ich nicht eine Entschuldigung oder doch wenigstens eine Erklärung hätte voranzuschicken gehabt und die Predigt so genau damit zusammenhinge, so würde ich Ihnen schon letzthin davon gesprochen haben, was mich damals ganz einnahm und auch jetzt noch mir sehr oft vorschwebt, ich meine den unglücklichen Tod des Königs von Frankreich. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß ich bis jetzt noch nie mit Ihnen von diesen Angelegenheiten gesprochen habe, aber jetzt beschäftigt mich die Sache zu lebhaft. Offen, wie ich mit allen meinen Gesinnungen ge|gen Sie herausgehe, scheue ich mich gar nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe, freilich, wie Sie es wol ohnehin von mir denken werden, ohne Alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann – mit zu loben, und noch viel mehr ohne den unseligen Schwindel einer Nachahmung davon zu wünschen, und Alles über den Leisten schlagen zu wollen – ich habe sie eben ehrlich und unpartheiisch geliebt; aber dies hat mich von ganzer Seele mit Traurigkeit erfüllt, da ich den guten König als sehr unschuldig ansehe, und jede Barbarei gar herzlich verabscheue. Aber fast eben so sehr, als ich mich an der Sache selbst geärgert habe, hab’ ich mich über die Art geärgert, wie ich so viele Menschen habe darüber urtheilen hören. Manche verdammen die Handlung nur deswegen, weil er ein gesalbtes Haupt ist; Andere entschuldigen die Sache selbst mit der Politik, und ihr Abscheu betrifft nur das verfehlte Decorum, und was dergleichen schiefe Urtheile mehr sind. Ich habe mich dabei oft aufgeführt wie die Stimme eines Predigers in der Wüsten, und ist mir auch grade so gegangen. Wenn ich den Leuten das Wahre vorhielt, daß keine Politik der Welt zu einem Morde berechtige, und daß es infam sei, einen Menschen zu verdammen, dem nichts erwiesen sei, so hatten sie dazu keine Ohren; wenn ich ihnen aber das Falsche ihrer Gründe vorhielt, daß, wenn die Todesstrafe überhaupt etwas Rechtmäßiges sei, und Ludwig etwas verbrochen hätte, was sie den Gesetzen gemäß verdiente, das Gesalbtsein seiner Verdammung weiter nicht hinderlich wäre; wenn ich ihnen sagte, daß das Decorum im Grunde nur eine Kleinigkeit sei und nichts darauf ankomme, wer ihm die Haare abgeschnitten habe: so wollen sie sich kreuzen und segnen, und schreien mich wol gar für gefühllos aus. So ist es mir in der ganzen französischen Sache schon bei tausendmalen gegangen. Indem ich mich nicht enthalten kann, die Partheilichkeit und Einseitigkeit der Menschen nach bestem Wissen und Gewissen zu bestreiten, und ihnen zu dem audiatur et altera pars hie und da praktische Anleitung zu geben, so verderbe ich es mit Allen, und ich armer Mensch, der ich sehr selten über einzelne Dinge eine Meinung habe, und also noch viel weniger im Ganzen zu einer Parthei gehören kann, | gelte bei den Demokraten nicht selten für einen Vertheidiger des Despotismus und für einen Anhänger des alten Schlendrians, bei den Brauseköpfen für einen Politikus, der den Mantel nach dem Winde hängt, und mit der Sprache nicht heraus will, bei den Royalisten für einen Jakobiner und bei den klugen Leuten für einen leichsinnigen Menschen, dem die Zunge zu lang ist. So ist mir’s mit der Theologie auch schon seit langer Zeit gegangen, und ich weiß mich zu besinnen, daß ich in einer Viertelstunde in der nämlichen Stube von dem Einen für einen Lavater’schen humanen Christen, von dem Andern wenigstens für einen Naturalisten, von dem Dritten für einen strengen dogmatischen Orthodoxen und von dem Vierten für einen kri-
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Metadata Concerning Header
  • Date: 10. bis 14. Februar 1793
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Schlobitten ·
  • Place of Destination: Anhalt (Hołdunów) ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 1. Briefwechsel 1774‒1796 (Briefe 1‒326). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1985, S. 277‒281.

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