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Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher to Friedrich Schleiermacher

Anhalt den 18ten April 1793.
Lieber Sohn! Obschon ich übermorgen den zweiten Theil meiner Reise antrete, so will ich doch, da mir jetzt besser ist, noch Deinen Brief beantworten. Schon seit 2 Monaten ist mir nicht wohl gewesen; ein verschleimter Magen mit rheumatischen Säften und Stockschnupfen vereinigt war die Quelle des Uebels, welches aber nach dem Gebrauch zweckmäßiger Mittel größtentheils gewichen ist. Ich komme zunächst auf Deine Predigt die mir in Absicht auf die Materie und die Gedanken im ganzen gut, in der Form aber weniger gefällt. In Ansehung der ersten scheint es mir, daß Du bei Deinem Ideensammeln zu local und nicht genug auf ein vermischtes Auditorium bedacht bist. Der arme Bauer will doch auch erbaut sein und sein Wunsch ist nicht zu verachten. Wäre es nicht besser gewesen, wenn Du im ersten Theil gezeigt hättest, woher die Sorgen der Menschen entstehen, 2) wie sie abzuwenden und 3) wie die unabwendbaren auf Gott zu werfen seien? Der reiche Gedanke in Deinem Eingang von dem unseligen [ ] genießen, von der Unzufrie|idenheit mit dem, was man hat, und Plane auf unstatthafte Wünsche und herrschende Leidenschaften errichten – hätten den Stoff zum ersten, dankbare Erinnerung und Genuß des Vergangenen und Gegenwärtigen, treue Beobachtung unerläßlicher Pflichten und Vergnügen an ihrer Erfüllung zum andern Theil, und dann thätiger Glaube an Gott aus Beispielen der Schrift besonders dem erhabensten von Jesu Christo gegeben, hätten Dir in Verbindung mit dem, was Du angeführt hast, Motive genug zum dritten gegeben.
Bei der Form und dem Stil fühlst Du selbst das schwerfällige; Du meinst aber, daß das vorzüglich schöne im Blair bloß im Ausdruck bestehe. Ist denn aber nicht der Ausdruck der Körper der Gedanken? ich dächte wo diese vollkommen deutlich, wo sie der Sache und dem Verhältniß der Zuhörer völlig angemessen sind, da müsse auch die Darstellung gefällig sein. Diese gefällige Darstellungskunst gelingt Dir ja selbst sehr gut im historischen Stil, und ich habe eben davon ein ganz vortreffliches Muster vor mir an Zöllner’s Briefen über Schlesien. Ich empfehle Dir also nochmals den Blair, und wenn es Dir wirklich darum zu thun ist, Deinen Vortrag populärer zu machen, so wird auch Dein Scharfsinn gar bald die Quellen des entgegengesetzten Fehlers aufdecken. Ich sehe das schwere davon sehr gut ein, glaube aber doch, daß es bei Deinen Kräften, mit gutem Willen verbunden, bald damit gelingen werde. Fern sei es übrigens von mir, Dir auch das declamatorische des Blair, welches, wie auch Herr Sack anzeigt, in der 5ten Predigt des ersten Bandes so sehr auffallend ist, empfehlen zu wollen; man sieht aber auch hieraus einestheils, wie da, wo Ueberzeugung fehlt, Declamation die Stelle vertreten muß, anderntheils aber auch seine große Behutsamkeit, die festgesetzte Lehrnorm nicht zu verletzen, und das scheint mir auch für jeden christlichen Prediger Pflicht zu sein, daß er da, wo er von der objectiven Wahrheit sich nicht überzeugen kann, sich dennoch verbunden halten muß, nach der von ihm angenom|menen Lehrnorm seinen Zuhörern die von ihnen geglaubte subjective Wahrheit so vernunft-, schrift- und zweckmäßig, als er nur kann, zu ihrem Trost, Fortschritt im guten und Hoffnung auf die Zukunft darzulegen. Ich glaube übrigens ganz gewiß, lieber Sohn, daß von jeder der drei Ursachen Deines schwerfälligen Vortrags, die Du selbst anführst, jede ihren Theil daran hat; erstens die Sucht, das Thema zu erschöpfen; hiebei bedenke, daß Du keine Disputation, sondern eine Erbauungsrede hältst und erspare das Erschöpfen bis zu einer Privat-Unterredung, auch bis dahin 2) die Begierde, es von einer neuen Seite anzusehn, und das dritte habe ich schon gleich anfangs erwähnt; doch hierin bist Du wenigstens bei dieser Predigt durch die Aufgabe der Gräfin Friedrike zu entschuldigen. Ich bitte Dich nun auch (und Du wirst mir mit der Erfüllung Freude machen) mir sobald Du kannst nach Deinen angezeigten Thematen folgende drei Predigten zu schicken: 1) über die Pflichten, welche die Gewißheit der Auferstehung uns auflegt, 2) über die Geschichte vom Thomas und vernünftigen Glauben, 3) die durch Christum aufgehobene Unmündigkeit des menschlichen Geschlechts. Hiebei werde ich denn viel Gelegenheit haben, meine Ideen mit den Deinigen zu wechseln, und mit wem könnte ein solcher Commerce mir wohl angenehmer sein als mit Dir. Vergiß auch nicht mir Dein Urtheil über die Kritik aller Offenbarung zu schreiben. Ich glaube nicht daß es als ein Bruch Deines Gelübdes kann angesehen werden, wenn Du das Buch für Dich allein und nachher noch einmal mit Deinem Freunde zusammen liest. Ich bedaure Dich, lieber Sohn, daß Du im politischen Fach nur mit Leuten vom allergewöhnlichsten Schlag zu kämpfen hast. Sollte es denn in Deiner Gegend so wenig philosophische und geschichtskundige Köpfe geben, die es nicht einsehn wollen, daß wenngleich die französische Revolution in Absicht auf ihre Quellen in der Folge für Herrscher und Völker überaus lehrreich ist, sie doch nach dem Ideal, was man sich davon gebildet hat, unmöglich Statt finden könne, wenn man nämlich die Menschen so | nimmt wie sie sind. Unsere Idee von moralischer und politischer Vollkommenheit ist in dieser Welt eben sowenig ausführbar als es die platonische Republik, der Friedenstraum vom Abbé St. Pierre und Heinrich IV. gewesen sind und als das französische Freiheits- und Gleichheits-System es sein wird, und das bestätigt auch die Erfahrung, daß die Aufklärung der Menschheit nur von jeher revolutions- und cirkelmäßig, nie aber in gerader Linie fortschreitend gewesen ist. Jetzt hoffe ich, werden schon viele Deiner Antagonisten über ihre vorigen Behauptungen sich beschämt fühlen. Ich glaube, man kann jenen Idealisten zu ihrer Heilung nichts Vorzüglicheres zu lesen empfehlen als Vogt’s Europäische Republik und Gibbon’s Geschichte über die Ursachen des Verfalls des Römischen Reichs. Uebrigens möchtest Du Deine Demokraten fragen, ob sie es in Wahrheit glauben, daß eine demokratische Republik von dem Umfange als Frankreich ist, je werde bestehn können; wenigstens ist davon kein Beispiel in der Geschichte und es giebt auch keine, als ein paar kleine unbedeutende Kantons in der Schweiz. [. . .]
Nun mein lieber Sohn, muß ich auf eine Zeit lang Abschied von Dir nehmen, hoffe aber, daß Du mich auf einen Brief von Dir nicht so lange, als das letztemal wirst warten lassen.
Gott erhalte Dich gesund und segne Dich und Deinen alten Dich zärtlich liebenden Vater.
N.S. Du darfst die 3 Predigten nicht zugleich sondern jedem Brief nur eine beilegen.
Metadata Concerning Header
  • Date: Donnerstag, 18. April 1793
  • Sender: Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Anhalt (Hołdunów) ·
  • Place of Destination: Schlobitten ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 1. Briefwechsel 1774‒1796 (Briefe 1‒326). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1985, S. 288‒291.

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