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Friedrich Schleiermacher to Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher

Schlobitten den 5ten Mai 1793.
Bester Vater! Es war ohnehin meine Absicht in diesen Tagen an Sie zu schreiben. Ihr Brief, den ich gestern bekommen habe, und der heutige Tag treiben mich doppelt dazu an. Möchte er Ihnen doch froh vergehn und viel Zufriedenheit und Gesundheit auch künftig Ihr Theil sein. Wahrscheinlich werden Sie sich so eingerichtet haben heute in Gnadenfrei zu sein, und da gebe | Ihnen der Himmel mit der guten Charlotte und Karln recht viel Freude! – Um auf Ihren Brief zu kommen, so bin ich in dem, was Sie von meiner Predigt sagen, ganz Ihrer Meinung; aber es hat mich gewundert, daß Sie einen Punct gar nicht berühren; daraus schließe ich, daß ich Ihnen nichts davon geschrieben habe, welches ich doch wollte. Ich habe nämlich schon seit einiger Zeit aufgehört meine Predigten wörtlich zu concipiren; ich mache eine vollständige Disposition, worin kein Gedanke und kein Uebergang ausgelassen ist; die Diction aber schreibe ich nur bei solchen Stellen auf, die mir schwierig scheinen, bei den übrigen wird sie nur auf mannigfaltige Weise durchgedacht und dann höchstens die Art des Satzes bestimmt. Aus diesen Angaben habe ich die Predigt, die Sie verlangten, hergestellt und so werde ich auch die andern herstellen müssen. Ich hatte Ihnen von dieser Verfahrungsart und den Gründen, wie ich dazu gekommen bin, schreiben wollen und weiß nicht, wie ich es habe vergessen können; ich erwartete gewiß in Ihrem Briefe die Billigung oder Mißbilligung davon zu finden. – Die Predigt von der aufgehobenen Unmündigkeit der Menschen soll meine nächste Arbeit sein, aber die von den Pflichten, welche uns die Lehre von der Auferstehung auflegt, kann ich Ihnen nicht versprechen, weil mir mehr als die Hälfte davon fehlt; ich müßte denn noch mehr davon finden. Ebenso wenig werde ich Ihnen jetzt schon etwas von meinem Urtheil über die Kritik aller Offenbarung sagen können, denn ich habe sie noch nicht wieder zurück.
Den 7ten Mai.
Die Ortsveränderung, bester Vater, wovon Sie eine Ahnung bei mir bemerkt haben, ereignet sich eher als ich es vermuthete, denn ich bin wirklich im Begriff, sobald meine Angelegenheiten in Ordnung gebracht sind von hier abzureisen. Es war gestern Abend, als ich, bei Gelegenheit eines Widerspruchs, mit dem Grafen in einen Streit gerieth, worin er sehr heftig wurde und ein | deutliches Wort von Abschied sprach. Natürlich nimmt sich ein adeliges militairisches Wort nicht so leicht zurück, als ein bürgerliches durch eine Dame veranlaßtes wie das vor zwei Jahren, und so ist es denn dabei geblieben. Für mich schickte es sich nicht es zurück zu bitten und ich wäre dadurch unausbleiblich in eine sehr abhängige und unangenehme Lage gekommen, worin ich über vieles nichts hätte sagen dürfen. Hätte es der Graf zurücknehmen wollen, so hätte er ebenfalls befürchten müssen, meinem ihm so scheinenden Bestreben nach Unabhängigkeit und eigenmächtigem Verfahren zu viel Spielraum gegeben zu haben; so waren also beide Parteien in einer Lage, worin, nachdem das Wort einmal heraus war, das Zurücknehmen desselben nichts wünschenswürdiges gewesen wäre. Heut früh ließ er mich rufen und es war schon alles, was sich auf die Sache bezog, in Richtigkeit gebracht. Bei vielen Versicherungen von Freundschaft und Achtung versicherte er mich mehrere male, daß ihm das gestern im Eifer gegen seinen Willen entfahren wäre. Ich gab ihm denn, so fein ich konnte, zu verstehn, daß ich diesen Eifer gleich mit in Anschlag gebracht und deswegen nichts weiter erwiedert hätte, äußerte aber, daß schon lange keine rechte Harmonie gewesen wäre und er schon lange unzufrieden mit mir geschienen hätte; er wollte zwar das nicht zugeben, allein das Gespräch kam doch auf Materien, wobei die gegenseitigen Beschwerden an den Tag kamen, auf den Charakter der Kinder und auf die Methode u.s.w., das alles sehr gelassen, freundschaftlich von beiden Seiten und mit einer den Umständen angemessenen Mischung von Offenheit und Feinheit. Er führte mancherlei von ihm vorgeschlagene Einrichtungen an, auf die ich gar keine Rücksicht genommen hätte; ich suchte meine Consequenz zu vertheidigen und zeigte, wie selten mit mir darüber berathschlagt oder mir Gelegenheit gegeben worden, meine Gegengründe anzuführen und wie man sich in einer solchen Sache, wie die Erziehung, unmöglich damit bei sich rechtfertigen könne, daß man nachgegeben und das befohlene gethan, sondern seiner Ueberzeugung | soviel möglich treu bleiben müsse, und so zeigte sich denn am Ende der Hauptfehler darin, daß man sich von Anfang an nicht gehörig verständigt und auf den rechten Fuß gesetzt. Ich glaube, daß dieses Exempel für künftige Fälle beiden Theilen nützlich sein wird. Das Finanzfach war, wie ich schon oben sagte, völlig arrangirt. Der Graf sagte mir, er hätte mir bis Ende September auszahlen lassen und Reisegeld. Es versteht sich, daß, wenn er mit mir hätte handeln wollen, mir niemals eingefallen wäre das zu fordern, und daß ich es nicht einmal würde genommen haben, wenn noch irgend eine Spur von rancune bei ihm gewesen wäre, oder wenn er es de mauvaise grace gethan. So aber wollte ich es nicht ausschlagen, denn es wäre mir mit Recht für Groll und dummen Stolz ausgelegt worden; eben so wenig aber machte ich große Danksagungen, welches ich überhaupt nicht, und bei Geldsachen am wenigsten mag, sondern ich sagte nur lächelnd, er thäte sich großen Schaden, den ich ihm nicht würde anmuthen gewesen sein.
Den 10ten Mai.
Sie können leicht denken, bester Vater, daß ich den größten Theil dieser Tage nicht viel zu etwas anderem angewandt habe, als über das vorige nachzudenken und mich in meine jetzige Lage hineinzuversetzen. Was das erste anbelangt, so glaube ich wirklich, einzelne Fälle ausgenommen, wo mich eine Schwachheit übereilt hat, in den Sachen meines Amtes consequent und den Umständen angemessen gehandelt zu haben, und aller Stoff zur gegenseitigen Unzufriedenheit, bei dem am Ende eine solche Katastrophe auf eine oder die andere Art unvermeidlich war, scheint mir natürlich, ohne daß ich weder mir selbst Vorwürfe zu machen habe, noch auch Bitterkeit oder Groll gegen irgend jemand fassen kann. Da ich es niemals zu gründlichen Erläuterungen über die streitigen Punkte bringen konnte, indem es beim Grafen und der Gräfin Grundsatz ist, Erörterungen zu vermeiden, so konnte ich natürlicher | Weise nur laviren. Der Graf hat es im Charakter in allen Geschäften oft von schnellen neuen Ideen überrascht zu werden und diese dann gleich zur Ausführung bringen zu wollen. Die kamen ihm gewöhnlich, wenn er dem Unterricht einen Augenblick zusah, wurden dann gleich in Gegenwart der Kinder vorgebracht und sollten ausgeführt werden. That ich dann einen festen, kalten, entscheidenden Widerspruch, so war ich zwar sicher Recht zu bekommen, aber auch ihn sehr verdrießlich zu machen, also that ich das nur, wo es mir unumgänglich nöthig schien, und suchte übrigens seine Einfälle so unschädlich als möglich zu modificiren und nach Gelegenheit der Umstände wieder einschlafen zu lassen. Hätte ich mich in jedem solchen Fall hinter die Gräfin gesteckt, die ihn auf eine [. . .] bringen weiß, so hätte ich etwas mehr darin leisten können, aber ich denke, zu einem Mittel, was so an den Grenzen der Moralität steht, ist man nicht verbunden: Sie sehen also das πρωτον ψευδος ist immer das, daß wir von Anfang an unsere Verhältnisse nicht genug bestimmt haben, und da habe ich mich freilich theils aus Unerfahrenheit, theils aus Zutrauen, zu unbedingt hingegeben. Es scheint aber doch aus dem, was mir der Graf bei unsrer letzten Unterredung sagte, daß ich auch anfangs darin nicht sehr glücklich gewesen sein würde. – Was nun den zweiten Punkt, das Versetzen in meine jetzige Lage betrifft, so können Sie sich leicht denken, wie sehr schwer es mir in vieler Rücksicht wird, Schlobitten zu verlassen. Sie wissen, wie viel glückliche Stunden ich hier gelebt habe, und wie ich die meisten Menschen hier in einem hohen Grade liebe und ehre; nun an so viel schöne Tage denken, die ich nicht mehr mitgenießen werde, so viel schöne Orte sehen, die ich nicht mehr wiedersehe, und alle die guten trefflichen Menschen, von denen ich scheide – das läßt sich so nicht beschreiben, es wäre nur Papier-Verschwendung. Aber das versichere ich Sie, diese Idee des Scheidens hält mich so fest, daß der Gedanke an das ungewisse meiner nun beginnenden Lage gar keinen Eindruck auf mich macht. – Nur das ist mir ängstlich, | daß ich eine Zeit lang mein Brod nicht verdienen werde, aber es ist auch nur ein ziemlich kalter Eindruck. – Was es mich kostet, von hier zu gehn, weiß hier so keiner, indem ich mich immer wenig über meine Gefühle ausgelassen habe. Auch das ist für das Fortkommen in der Welt ein Fehler, der aber zu tief in meinem Charakter liegt: ich hasse das Schwatzen bis in den Tod; wer nicht sehn kann, was in mir vorgeht, dem werde ich es niemals auskrähn, und das sprechen von Empfindungen ist bei mir schlechterdings nur für die Abwesenden, die aus meinem Betragen nichts davon sehn können.
Den 14ten Mai.
Die Post geht heute ab und ich werde diesen Brief so abschicken müssen. [. . .] Ich hatte noch so vieles schreiben wollen, aber es geht nicht; auch einen Brief an Lottchen wollte ich anfangen, um sie mit den letzten Tagen meines Schlobitten’schen Lebens bekannt zu machen; aber auch das hat mir nicht von Statten gehn wollen, das Herz war zu voll. Es wird mir schwer mich wegen der ganzen Sache zu trösten und ich wünsche, daß Ihnen das besser gelingen mag. Was die Zukunft anbelangt, so hoffe ich, der Himmel wird für mich sorgen. Bekäme ich bald die Versicherung einer Stelle, so wäre mein höchster Wunsch der, das Geld was ich mitbringe, zu einer Reise nach Schlesien anzuwenden; ist das aber nicht der Fall, so weiß ich auch nicht, ob es rathsam wäre. – Ich warte hier noch die Rückkunft des Grafen ab, der eine kleine Reise gemacht hat, dann gehe ich auf ein paar Tage zu Herrn Bornemann nach Schlodien, der mich sehr darum gebeten hat, so daß ich kaum eher als nach dem Fest auf den Postwagen kommen werde. Alsdann sind Sie vielleicht wieder zu Hause und denken sich nichts weniger als diese schnelle Veränderung. Ich denke, dieser Brief wird Sie auch schon wieder zu Hause finden, da der zweite Theil der Reise nie so lange zu dauern pflegt als der erste; dann empfehlen Sie mich herzlich der | guten Mutter und viel brüderliche Grüße und Küsse an die kleinen. Machen Sie sich nicht zu viel Sorge um mich; erhalten Sie mir Ihr Herz und schließen Sie in Ihr Gebet Ihren Sie herzlich liebenden gehorsamen Sohn.
Metadata Concerning Header
  • Date: 5. bis 14. Mai 1793
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Schlobitten ·
  • Place of Destination: Anhalt (Hołdunów) ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 1. Briefwechsel 1774‒1796 (Briefe 1‒326). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1985, S. 291‒295.

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