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Friedrich Schleiermacher to Lotte Schleiermacher

Berlin d 18t August 1797.
Recht zur Schande hab ichs mir selbst angethan, daß ich in diesem Augenblik, da ich mich endlich hinsezen will einen Brief zu beginnen, nach gesehen habe wann die lezte Epistel abgegangen ist – den 4ten Juni! Und dabei habe ich den Anfang Deines lezten Briefes gelesen, worin Du eine so saumselige Korrespondenz so armselig findest, und diese Saumseligkeit von beinahe drei Monat ist, hoff ich, noch nie unter uns übertroffen worden, und ich hänge sie in der Gallerie meiner Thorheiten auf als ein seltenes Kabinetsstük. Ja ja es mit mit der Fingerträgheit eine eigene Sache und sie ist fast meine größte Verdamniß und mein größter Schade in der Welt. Da kann ich sizen Stundenlang und mit dem größten Vergnügen meine Gedanken und Empfindungen ansehn, wie die indianischen Gymnosophisten ihre Nasenspitze oder ihren Nabel, denn von diesen hat man auch noch nie gehört, daß es einem eingefallen wäre, die besagten Gegenstände seiner Betrachtungen zu Papier abzumahlen. Und diesen Sommer geht es mir ganz besonders so, daß ich alles innerlich habe meine Briefe, meine Idyllen, meine Predigten, meine Philosophie. Wenn Du und Wedeke alle Briefe hättest, die ich im Kopf an Euch geschrieben habe, wie lange wärst Du schon im Besiz der größten Epistel! und von überall her datirt: von meiner Stube[,] vom Thiergarten, von Charlottenburg[,] von jedem Haus und jeder Straße die ich zu wandeln habe. Wedeke, dem ich auch schon unendlich lange einen Brief schuldig bin kann ich das eher begreiflich machen als Dir, denn er leidet an derselben Krankheit; aber Du lebst in einem so schönen Schreibegeist, der bei euch ganz besonders einheimisch ist. Die großen Tagebücher, welche die meisten halten, die vielen Auszüge die man sich macht, weil man einen so flüchtigen Büchergenuß hat, die lieblichen Korrespondenzen die oft von einem Tisch zum andern geführt werden, das alles giebt einem jeden der länger dort gewesen eine Leichtigkeit und Geläufigkeit im Schreiben um die ich Brinkmann zum Beispiel so oft beneide als ich sein Wesen mit ansehe. Natürlich fällt mir hier Mahler ein, der auch ein gewaltiger Schreiber vor dem Herrn war, und ich überschreibe daher das erste Kapitel meines Briefes (denn da es viel zu spät ist, um auf die gewöhnliche Art chronologisch zu schreiben, so wird die Epistel diesmal in Kapitel getheilt)
Die Geister
Drei Menschen sind also seit kurzem von der Erde verschwunden, die zu verschiedenen Zeit in mein Leben eingegriffen haben, jeder auf seine Weise: Mahler, Kohlreif, Dedenroth. Wenn Du keine Zeitungen liesest so weißt Du wol auch von dem lezteren noch nichts – nach der Anzeige der Wittwe war es, wo ich nicht irre, ein Brustfieber, was ihn nach kurzem Krankenlager hinrafte. Du weißt, was für Freude es mir vor einigen Jahren machte, den Mann hier wieder zu sehn, den ich als Freund, und in meinen Gedanken gewißermaßen als Zögling unsers unvergeßlichen Vaters ansah, denn wie jung und bildsam war er nicht noch, als er sich an ihn anzuschließen anfing. Noch in Landsberg blieb ich | in schriftlicher Verbindung mit ihm, und wie männlich und dabei doch zart und gefühlvoll behandelte er meine Lage bei dem Verlust unsres Vaters. Er wurde mir da werther als je und es ist mir lieb daß ich noch einige schriftliche Denkmale seines Daseyns und seiner Sinnesart habe. Seit seiner Versezung nach Stolpe habe ich aber nichts von ihm gehört. Ich wollte immer den Faden wieder anknüpfen, den er hatte fallen laßen; es ist aber beim Wollen geblieben. Sie sind in einem großen Convolut Briefe, in welches alle Personen geheftet wurden, die nur seltner an mich schrieben. Wie viele sind da beisammen die sich untereinander gar nicht kennen, die sich auch unter einander gar nicht lieben würden, wenn sie sich kennten, ja von denen vielleicht mancher den Kopf über mich schütteln würde, wenn er wüßte, daß mir der andere auch nicht wenig gilt, und doch habe ich an allen etwas, und jeder ist an eine Saite meines Wesens geknüpft, die ich nicht missen könnte. Wird noch so mancher von ihnen sterben daß ich sein Bild in jener Welt suchen muß, und eine leere Stelle in dieser wahrnehme wenn ich seine Züge ansehe? Wahrscheinlich ist es nicht, denn sie sind alle wenn auch nicht jünger doch stärker als ich – aber: heute hüpft im frohen Tanz noch der muntre Knabe p und Mahler war auch stärker und lebendiger als ich. Es ist doch im Menschen nicht so wie in der Welt wo jede Stelle wieder besezt wird, die sich erledigt. Wenn uns Jemand stirbt bleibt immer eine leere Stelle. Es fehlen uns Mittheilungen und Empfindungen die so nicht wieder erregt werden, eine Saite unseres Wesens hat ihren Resonanzboden verloren, und das geht so fort bis endlich das ganze Ding in die Polterkammer geworfen wird, aus welcher nur der große Musikmeister alle diese veralteten Instrumente zu einem himlischen und ewigen Konzert wieder hervorzieht und erneuert. – Kohlreif deßen Tod ich auch aus den Zeitungen erfahren habe, war mir ein lieber Mann, ja ich kann sagen unter allen Vorsteherbrüdern mit denen ich in näherer Verbindung gestanden habe der liebste. Ich weiß, daß er in der Gemeine auf mancherlei Weise verkannt worden ist; kam das etwa daher, weil er einen liberaleren Gesichtspunkt hatte, als manche, und Mängel sah, über die er freimüthig sprach? Ich habe noch einen besondern Eindruk von seinen Unterrichtsstunden – in denen freilich manches vorkam, was mir immer, durch alle Veränderungen meiner Denkungsart hindurch fremd geblieben ist – und besonders von denen die er mir und dem jungen Zembsch (von dem ich gar nichts weiß) besonders gab als wir Abendmahlserlaubniß erhalten hatten. Ich war damals lauter glühende Fantasie und hoffte er werde mein Feuer noch feuriger blasen: aber nein er führte mein Gemüth an der Hand der Geschichte und verständiger Vorstellungen zu einem stillen Ernst und zu ruhigen Ueberlegungen zurük. – Der gute Mahler hatte freilich ganz andre Entwürfe und LebensKraft und Aussicht genug um ihrer Erfüllung zuversichtlich entgegen zu sehn. Eine gute und vorzüglich geschäftige Seele die Ernst und Fleiß in alles hineinbrachte und durch anhaltende Thätigkeit und gesunden Verstand überall nüzlich geworden seyn würde. Auch als Ehemann und Vater würde liebevolle Geschäftigkeit der Charakter seiner ganzen häuslichen Existenz gewesen seyn. Nach Deiner Erzählung ist er auch wieder ein neues Beispiel von der merkwürdigen und unerklärlichen TodesAhndung die man oft bei Menschen [findet] die weder eine besondre Aufmerksamkeit auf ihren körperlichen Zustand zu wenden pflegen noch übrigens Fantasien über die Zukunft mit besonderer Festigkeit zu ergreifen pflegen. Hast Du eine Idee von diesem Gefühl und ihrem Ursprung? – Adieu. Mein GeisterKapitel ist zu Ende, und ich muß für jezt aufhören. |
Die Reise
Eigentlich hatte ich damit anfangen wollen, Dir von meiner Reise nach Landsberg zu erzählen, bei deren Beendigung ich Deinen Brief vorfand. Wo ich nicht sehr irre habe ich Dir diese Reise schon in der vorigen Epistel angekündigt, aber Du hast in der Deinigen keine Notiz davon genommen. Vielleicht ist Dirs damit gegangen wie mir mit Deiner schnellen Erscheinung in Stein, die mir gewiß keinesweges gleichgültig war und ich wollte manches darüber sagen und glaubte darüber zulezt es wirklich gesagt zu haben; hätte ich die gute Gewohnheit meine Briefe noch einmal zu überlesen, so würde mir so etwas nicht begegnen. Doch zur Sache. Die Zeit zu dieser Reise hatte ich einmal bestimmt, weil sie mir meiner Amtsgeschäfte wegen die bequemste war, wenn ich nicht bis jezt hätte warten wollen da doch die Annehmlichkeiten des Sommers schon sehr abziehn. Ob ich also gleich zur festgesezten Zeit so arm war als eine Kirchmaus, so mußte ich eben alle meine Pfennige zusammensuchen und mich auf den Weg machen. Der Himmel war mir physisch höchst ungünstig, denn unter allen den 14 Tagen die ich in Landsberg zubrachte waren nur dreie recht schön, wovon ich einen noch dazu auf einer großen Schmauserei verderben mußte, die andern beiden aber bei meinem herrlichen Bethe in Grahlow zubrachte. Jene Schmauserei war mir auch um deswillen höchst fatal, weil grade an dem Tage Bethe seine Confirmanden einsegnete, ein Fest dem ich so gern beigewohnt hätte, weil ich während meiner ganzen Landsbergischen Amtsführung nie dazu hatte kommen können – das waren die ungünstigen Schiksale. Aber wie viel günstiges kam auf der andern Seite zusammen: der Onkel war vorher sehr krank gewesen – so krank daß man hier schon seinen Tod verbreitet hatte, ich fand ihn ganz hergestellt; der gute Bethe war so krank gewesen, daß man auch für ihn besorgt war, ich fand ihn weit beßer als ich hoffen konnte. Bei Benikes waren mancherlei häusliche Unruhen gewesen wegen einer Amtsveränderung, die ihm bevorstand, alles war schon glüklich überstanden, und in vollem Gange. – Mein Quartier schlug ich bei Benike’s auf und nicht beim Onkel weil Benike’s gewiß weit mehr daran gelegen war, und weil ich doch den Onkel auf mancherlei Weise genirt haben würde. Wie freute sich die gute Benike als ich um Mitternacht ankam, wie herzlich war auch er vergnügt seinen alten Tischgenossen und Hausfreund wieder zu sehn und wie wurden gleich tausend Details von allem was sich unterdeß bei ihnen ereignet mit der zutraulichsten Offenheit erzählt. Mit welcher herzlichen Freude über meinen Beifall legte mir die Benike in den nächsten Tagen Rechenschaft ab von ihrem Haushalt, von so manchen Verbesserungen die sie in ihrer Oekonomie gemacht, von dem Erfolg manchen guten Rathes, den ich ihr noch gegeben. Mit welcher Mutterfreude zeigte sie mir gleich in der ersten Nacht ihr schlafendes Mädchen gesünder und größer als ich es verlassen und redte von ihrer Freude und von ihrer Sorge an ihr. Was ich so lange entbehrt habe Haus und Familienfreuden so ganz als meine eignen zu genießen – denn so war ich doch in diesem Hause von je her – das haben mir diese 14 Tage in reichem Maaß wieder gewährt – auf wie lange dieser Genuß vorhalten muß, das mag der Himmel wißen. Meine Lebens|weise dort war sehr einfach. Des Vormittags indem die Benike ihre Wirthschaft zu besorgen hatte, und ihr Mann auf dem Rathhause war, gieng ich gewöhnlich auf ein paar Stündchen zum Onkel, und die Benike kam, wenn sichs thun ließ, nach um mich abzuholen; Abends brachten wir gewöhnlich einige Stunden bei oder mit alten Bekannten zu; die übrige Zeit lebten wir uns und verbrachten sie sobald ein angenehmes Stündchen war im Garten, sonst auf dem Sofa mit Lesen – ich hatte mancherlei mitgebracht was die Benike interessirte – mit Plaudern, mit tausend kleinen Mittheilungen, Eröfnungen und Winken, welche die Freundschaft giebt und nimmt. Des Morgens wurde gewöhnlich spät aufgestanden, und die erste Stunde war gewöhnlich sehr unangenehm, weil Benike immer Menschen bei sich hatte, die ihn noch ehe er aufs Rathhaus gieng sprechen mußten, und er doch uns auch gern um sich haben wollte. Das späte Aufstehn kam vom späten zu Bette gehn, denn wenn wir Abends zurükgekehrt waren oder die Gesellschafter uns verlaßen hatten wurde noch ein später Thee gemacht und bis spät in die Nacht geplaudert, welches denn unsere ungestörtesten und also unsere wichtigsten Gespräche waren. Dort habe ich also viel Gutes genoßen und mich sehr glüklich gefühlt; nicht so beim Onkel. Nicht ohne eine traurige Wemuth kann ich an die Eindrüke denken die ich dort empfangen habe. Ich fand den Onkel zwar ziemlich wieder hergestellt von seiner Krankheit, aber wie verändert! und das nicht äußerlich sondern innerlich. Sein Gemüth abgestumpft, gleichgültig gegen Dinge die ihm sonst sehr interessant waren, kalt wo er sonst warm fühlte und statt einer gleichförmigen mäßigen Heiterkeit, die ich sonst an ihm kannte viele Augenblike voll übler Laune und auffahrendem Wesen worüber Frau und Kind und Nichte zu klagen wußten. Wie sein nie sehr saftreicher Körper mehr und mehr vertroknet und dann natürlich die übrigbleibenden Säfte ihr mildes verlieren und schärfer werden, so scheint auch sein Geist allmählig zu verhärten und die Empfindungen die noch darin circuliren werden bitter und stechend. Ach das ist die wahre Vernichtung des Menschen auf Erden, das ist ärger, ärger wenigstens anzusehen, als der Tod. Vor meiner Reise unterschrieb er einmal einen seiner Briefe: „Ihr stumpfwerdender Onkel“; es betrübte und bewegte mich damals innig, aber doch faßte ich es nicht so, als bis ich ihn sah: da ergrif es mich mit einem Eindruk der noch nicht seines Gleichen gehabt hat in mir. Gewißermaßen lindert ihm seine Stumpfheit ein Unglük, welches er sonst schwer ertragen würde, und jezt kaum zu fühlen scheint. Sein Sohn, den er bei sich hat, hat sich seine Carrière in Cüstrin wo er als Referendarius arbeitete durch ein üble Art sich zu betragen und daraus entstandene Unannehmlichkeiten, die ihm natürlich den Wunsch einflößen mußten sich zu entfernen, so gut als ganz verdorben; er arbeitet jezt beim Stadtgericht in Landsberg unter Benikens Aufsicht, wo er sich auch nicht sonderlich gefällt, weil er immer Ansprüche macht, die mit seiner Geschiklichkeit und seinem Fleiß in gar keinem Verhältniß stehen, und seine Aussichten auf eine Versorgung sind sehr entfernt und sehr eingeschränkt. Liebe Lotte vergiß mir diesen Onkel nicht; schreibe ihm manchmal und laß uns versuchen ob wir ihm hie und da – was mir doch bisweilen gelungen ist – einen Augenblik mit höherem Lebens|genuß anfüllen, und ihm durch die Aeußerungen unserer treuen Anhänglichkeit mehr Freude machen können als sein eigner Sohn, der sehr gleichgültig neben ihm existirt. O der trefliche Mann! Dieser Stamm ist entblättert und abgestorben!
Dein Brief war das erste, was mir in die Augen fiel als ich in meine Stube trat. Mit welcher Begierde ich ihn durchlas! Wie herzlich ich mich freute soviel Spuren eines muntern Geistes zu finden, und wie gern ich mich der sanguinischen Hofnung überließ, daß nun gewiß Dein Uebel ganz gehoben wäre. Ach! und da war von dieser Seite plözlich alle Freude dahin, als ich auf den Abend Karl mitbrachte und der nun sein Brieflein las. Du armes Mädchen! wirst Du denn Deine Gesundheit gar nicht wieder finden? Sollte es nicht möglich seyn – versteht sich ohne daß Du deswegen die Anstalt ganz verließest – Dich eine Zeitlang in Swerdtners Kur zu begeben, der Deine Natur doch weit richtiger studirt zu haben scheint? Denn von hier aus etwas für Deine Gesundheit zu thun, dazu habe ich nachdem ich mit ein paar Aerzten darüber gesprochen die Hofnung ganz fahren laßen. Sie meinen es gehöre die genaueste Kenntniß aller Umstände dazu um die Ursach solcher Zufälle richtig zu beurtheilen ob sie materiell wären oder ob es in den Nerven läge, und es wäre sehr unsicher in der Entfernung irgend einen Rath zu geben als den alles zu vermeiden was den Magen schwächt. Daher ist eine Reise zu Swertner oder wenigstens eine ausführliche Berathung mit ihm dasjenige was Du auf alle Weise zu bewerkstelligen suchen solltest; denn zu Deinem Doktor habe ich nachdem auch seine lezte Kur nicht angeschlagen ist gar kein Vertrauen mehr.
Die Frühstunden
Diese werden seit meiner Rükkunft von Landsberg öfters auf eine so eigne und angenehme Art zugebracht, daß es wol einiger Erwähnung verdient. Karl und ich sind nemlich – mit Billigung der Aerzte – auf die Idee gekommen, daß es uns beiden, vorzüglich aber mir, sehr zuträglich seyn würde fleißig zu baden. Da nun einige hundert Schritt von meiner Wohnung ein ordentlich eingerichtetes Badehaus ist, so komt Karl einigemal die Woche des Morgens zwischen 5 und 6 Uhr um mich abzuholen. Er findet mich dann natürlich noch im Bett – und das heißt bei mir immer auch schlafend – aber wie kann es wol ein freudigeres Erwachen geben als wenn seine Tritte auf dem Flur in mein Ohr tönen und er dann so freundlich hereintritt, und mir guten Morgen bietet? In der größten Geschwindigkeit ziehe ich mich dann halb an, er stopft sich unterdeß ein Pfeifchen, und so gehts fort. In einem sichern Gemach bespülen wir unsere Glieder in den ziemlich kalten Fluthen der Panke – ein kleines Flüßchen, welches sich hier in die Spree ergießt – fürchten uns Anfangs vor der Kälte des Wassers, lachen uns einander darüber aus, befinden uns hernach äußerst wohl und heiter, und Karl frühstükt dann noch bei mir gewöhnlich Milch, wenn Fest ist auch wol eine Tasse Chokolade wobei denn geplaudert, gelesen, selten auch wol eine Parthie Schach gezogen wird, und | dann geht jeder seiner Arbeit zu. Da Karl nicht eher als nach 7 Uhr etwas in seinem Laboratorio vornehmen kann, so versäumt er dabei nichts in seiner Pflicht, und vermittelst dieses Badens haben wir uns schon so manche Stunde genossen, die wir sonst nicht gehabt haben würden. Eben heute haben wir wieder einen Bademorgen gehabt, und unser Frühstük darauf recht verständig mit Lesung eines chemischen Buches ausgeziert. Dieser ansehnliche Zuwachs zu unserm Beisammenseyn ist mir um so werther, da es ohnedies mit dieser Glükseligkeit nicht lange dauern wird, wie Du aus Karls eignem Briefe ersiehst. So leid mir diese Trennung für uns beide thut, so kann ich doch Karin, dem es gewiß eben so weh thut nicht Unrecht geben. Er hätte freilich hier ewig bei seinem Herrn bleiben können, aber was wäre weiter geworden? Und vernünftig ist es doch, daß er sich nach einer andern Art von Existenz umsieht, für welche hier keine Aussicht ist. Wer kein eignes Vermögen hat, für den ist in diesem Metier nichts zu thun, als daß er die Welt durchstreicht und gut Glük sucht. Eine neuere Nachricht die Du aus seinem Briefe noch nicht entnehmen kannst ist die, daß er eine Condition in Westfalen angenommen hat nicht sehr weit von dem Geburtsort unsres seligen Vaters. Das ist freilich sehr weit; der Ort heißt Arensberg, gehört dem Churfürsten von Kölln, und liegt an der Ruhr gewiß 50 Meilen von hier. Vielleicht weist ihm sein gutes Schiksal ein festes Pläzchen an in dem alten Vaterlande der Schleiermacher; vielleicht bleibt er auch nicht lange da, und nähert sich uns bald wieder. Die Reise macht er mit einigen Bekannten, die auch in die Gegend wandern, vorher aber hörst Du noch einmal von hier aus von ihm. Dort wird es freilich um die Correspondenz etwas mißlich aussehn, aber je einsamer er ist, desto mehr wird es ihm hoffentlich Befürfniß seyn sich öfter mitzutheilen.
den 24ten August. Heute muß diese Epistel wirklich abgeschloßen werden, und zwar nicht nur heute, sondern auch Heute Vormittag weil ich von Mittag an schon nicht zu Hause bin. So vieles was noch zu sagen wäre werde ich kaum berühren können. Wie viel schönes steht nicht in Deinem Briefe von allen den lieben Menschen, die ich dort kenne! Diese schlesischen Gestirne tragen nicht wenig bei mir meinen hiesigen Himmel zu erheitern, und des Abends im freien wenn der Mensch bestirnt ist in ferne Welten zu schauen, seh ich gar oft nicht weiter als nach Gnadenfrei und was daranliegt, nicht ohne Wünsche denen ich gar oft die Flügel beschneiden muß. Durch das Teleskop womit Du meine Sternwarte ausrüstest und unterhältst mache ich immer neue Entdekungen in jenen lieblichen Sternbildern neue Vollkommenheiten gehn mir oft auf wie ungesehene Nebelfleke bisweilen vor das Rohr treten und Stunden ausgezeichneter Glükseligkeit nehme ich wahr wie der Beobachter das wachsende Licht mancher Sterne sieht. – Warum will denn die Zim|mermann behaupten daß sie verfinstert wäre? Ich sehe so nichts, und wenn ihr Licht bisweilen feierlich, mattsilbern scheint so kommt das von der trüben Beschaffenheit öfter unsres Dunstkreises als des ihrigen; der ihrige ist so fein, ihre Aeußerungen sind so aus dem subtilsten Duft gewoben, daß freilich nicht jeder der nach Sternen sieht da etwas zu finden weiß. Und doch freut sich gewiß, wenn sie in den Kreis der übrigen hervortritt jedes Gestirn ihrer mittheilenden Nähe, und mancher wünschte ein Planet zu seyn der ihre ganze Bahn begleiten könnte. Sie soll mir meinen Ulmbaum in Ruhe laßen ich weiß beßer wie es um ihn steht. Der herrliche Baum hat freilich öfter Sommer und Winter als andere, und wenn er ganz Winter hat leiden freilich die armen Weinranken, aber der Winter besteht doch nur darin, daß sich die Säfte auf eine Zeitlang ins innere zurükziehn und wenn bei dieser gewaltsamen Stokung die Kanäle hie und da leiden, wenn die Säfte selbst so mancher Gährung unterworfen sind, sie kehren doch nur um desto milder und fruchtbarer zurük, und wenn der Sommer wieder eintritt schlängeln sich die Ranken gern bis an die äußerste Spize jedes belebten Aestchens und bis an die zartesten Blätter – Wie wol thut es mir, daß ich, wenn ich an unsern armen Onkel gedacht habe, der so mit seinem Körper zu Grunde geht dann auch an die trefliche Zimmermann denken kann, deren Geist immer wieder unversehrt hervorsteigt aus der Asche, die das verzehrende Feuer ihrer körperlichen Leiden gemacht hat. Sie soll sich aus dieser Vergleichung und aus allem eine Abhandlung machen, wie sie in mir ist; aber sie soll sie sich auch mit dem Ton vortragen der in mir ist, und der in jedem Menschen entsteht, der nach fernen Sternen sieht, und der nach jedem geselligen Genuß und bei jeder geselligen Fantasie fühlt wie abgerissen und elend seine Existenz seyn würde wenn er nicht mit durch und in beßern Menschen leben könnte. Sie kennt gewiß diesen Harfenzug des innigen Gutmeinens der auch ein mittelmäßiges Instrument dem Hörer angenehm macht, und dem man manchen Fehlgrif des Spielers leichter verzeiht. – Recht erfreulich war mirs, daß Du Deine gute Lotte – von der freilich in Deinem Briefe wenig genug steht – einmal, wenn auch nur von ohngefähr, ausführlich zur Zimmermann gebracht hast. Sie wird bald finden daß Lotte werth ist sich auch manchmal unter dem Schatten des Ulmbaums zu laben und ich hoffe, daß dies Lotten am Schluß ihres Jahres noch eine angenehme Stunde gegeben hat und eine schöne Aussicht in das neue. Ihren Geburtstag habe ich aber einen Tag zu spät gefeiert, mein Gedächtniß erzählte mir vom 17ten. Meine Theilnahme ist übrigens von sehr dauerhafter Natur, und hängt, was ich unter die Glükseligkeiten meines Lebens rechne, so wenig am Sehen, und Selbstgenießen, daß sie keine Nahrung braucht, als die, welche mir Deine Briefe und Nachrichten geben, welche die Idee die von Lotten und ihrem ganzen Wesen schon in mir ist, gehörig zu verarbeiten weiß. Daß dieser Geburtstag für Dich an Genuß so mager gewesen hat freilich meinen Ahndungen nicht entsprochen; desto mehr verlangt mich nach Nachrichten vom 21ten, welches der zur Nachfeier bestimmte Tag war. Hoffentlich hast Du nicht verabsäumt sie mir zu geben und sie liegen schon in Deinem Pult wartend auf die Ankunft der schändlich zögernden Berliner Epistel um bald abzugehn. Ich habe mich schon so oft um Deinetwillen gescholten über mein Aufschieben und Nichtschreiben, jezt thue ichs recht ernstlich um meinetwillen, denn hätte ich nicht fast schon einen Brief wenn dieser nicht so ungebührlich lange gelegen hätte? Und hoffentlich wird er nicht so ganz leer an | Thees Spiel und LeseAbenden mit Lotte seyn – Ich habe hier eine ganze Weile pausirt, an der Feder gekaut und mich an dem Gedanken meines großen ReiseProjekts ergözt. Es ist dazu freilich noch gar kein Anschein vorhanden, aber nichts desto weniger ist es mir sehr lebhaft im Gemüth, und warum sollte ich mir die Freude nicht gönnen. Wie mancherlei schönes und Gutes hätte ich nicht zu wiederholen, und wie mancherlei nicht ganz nachzuholen. Wie wächst nicht mit jeder Nachricht und jeder Aeußerung mein Verlangen Deine liebenswürdige von Aulock zu sehn und zu kennen und von ihr gekannt zu seyn. Beinahe muß ich fürchten daß sich unter diesen Wunsch ohne daß ich es weiß etwas Eitelkeit mischen könnte, ich kann ihn aber deswegen unmöglich unterdrüken, denn so sehr ich mich überzeuge daß mein Urtheil nicht verdient mit einem solchen Werth belegt zu werden, und daß wenn es richtig ist, dies nur ein Lob auf meine Fantasie ist, welche das glüklich genug zu ergänzen weiß, was die Entfernung mir entzieht, so weiß ich doch eben so gewiß, daß ich wohl verdiente diese edle Frau in der Nähe handeln zu sehn. Doch ich muß meiner Lust über sie zu schwazen dies mal Gewalt anthun um Zeit und Papier (denn bald werde ich mich anziehn müßen um zu meinem geistlichen Diner zu wandern) für die Beantwortung einiger Fragen zu sparen. Ueber Lotte Schede, von der ich auch mancherlei zu erzählen hätte, kann ich mich diesmal auch nicht weitläuftig einlaßen, sie soll aber eine große Rubrik meines nächsten Briefes ausmachen. Ihr Alter ist mir lange ein Geheimniß geblieben, denn ich besize weder das Talent das Alter eines Frauenzimmers zu errathen – eine Kunst die ohnedies an ihr und einer gewißen Art weiblicher Geschöpfe ganz zu Schanden wird – noch die Dreistigkeit danach zu fragen, aber ganz kürzlich habe ich von ohngefähr gehört daß sie 24 Jahr alt ist. Eine Waise ist sie übrigens nicht sondern ihre Eltern leben noch beide, und ihr Vater ist Kriminalrath und JustizCommissarius. Ihr ältester Bruder – ein zweiter den sie eben so sehr liebt wird in kurzem von der Universität zurük erwartet – ist nicht Theologe sondern Jurist, und die Art seiner Versorgung wird gewißermaßen auch über Lottes Schiksal entscheiden, welche entschloßen ist mit ihm zu ziehn, wenn er sich weit von hier entfernen müßte; er ist ein Jahr jünger als Lotte und auch ein sehr merkwürdiger Mensch. – Herrn Krautvadel, um auch diese Sternschnuppen nicht zu vergeßen, kenne ich gar nicht und was Herrn Rellstab anbetrift so gibt es sehr viele des Namens von denen mir einer als Musicus und Musikhändler, keiner aber als Chirurgus bekannt ist. Was meine Wohnung betrift so soll Dir nächstens alles deutlich werden denn ich will Dir einen Grundriß von Berlin schiken. Und nun auch ein paar Fragen an Dich: Deine neue Gehülfin komt zur Descombes, der Descombe ihre zu Dir, und zur Graf eine Herrnhuterin – wen hat denn die verloren? Deine Nachricht von den Schwestern der von Aulock ist auch sehr unvollständig. Du sagst es gebe ihrer 4 und zählst doch alle 4 her ohne die Rosenschanz mitzurechnen, mit der sich Frau von Aulock ein Rendez vous gab. Ist dies keine rechte Schwester, oder ist sie eine fünfte? Und nun noch eine Bitte: Vergelte nicht gleiches mit Gleichem und schreibe bald, sonst leidet der unschuldige Karl mit, der am Ende des Septembers abreist und dem es gewiß erquikend seyn würde vorher noch Briefe von Dir zu haben. Es ist 12 Uhr ich muß siegeln, mich anziehn und forteilen.
Friz Schl.
Von unsrer Mutter habe ich ewig lange nichts gehört. Du auch nicht?
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  • Date: 18. bis 24. August 1797
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Lotte Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Gnadenfrei ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 2. Briefwechsel 1796‒1798 (Briefe 327‒552). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1988, S. 155‒167.

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