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Friedrich Schleiermacher to Henriette Herz

Landsberg Montag den 3ten Sept. 98.
Noch weiß ich zwar nicht gewiß liebe Freundinn, ob mir die gestrige Post einen Brief von Ihnen gebracht hat, denn es ist aus Versehen nicht hingeschickt worden, ich zweifle aber doch gar sehr daran. Lanke thut mir also doch Schaden; wenn es Ihnen aber nur Vergnügen macht, wenn Sie nur im Freien leben und Ihre Sehnsucht nach Dorf einmal recht befriedigen können, so will ich mirs gern gefallen lassen. – Gestern habe ich gepredigt zur großen Freude der Cousine, ob auch der andern Menschen weiß ich nicht; denn ich habe es ganz ohne gute Lebensart betrieben und ihnen eine Lektion gegeben, von der ich wußte daß sie sie gar wohl brauchen könnten. Einen eignen Eindruck hat es auf mich gemacht, auf meiner alten Kanzel zu stehen; es war halb Freude halb Schreck, und beides scheint mir sehr natürlich; denn es war als wären die zwei Jahre die zwischen mir und der Gewohnheit hier zu predigen stehen auf einen Schlag vernichtet und wie viel schönes und herrliches liegt nicht in diesen zwei Jahren! Es ist nicht wahr daß man das Gute am lebhaftesten durch den Contrast fühlt: hier | wo ich des Guten und Schönen so viel habe fühle ich das was mir durch Sie geworden ist, so lebhaft als je.
Geschmollt hat die Cousine Gestern auch ein wenig mit mir. Seyn Sie nicht boshaft und meinen Sie das wäre ja doch im Grunde ein Kontrast; nein es gehört zu ihren Eigenthümlichkeiten. Kann man denn gar nichts ausrotten was einmal in einem gewesen ist? Beinahe sollte ich das denken; daß die Cousine das Schmollen nicht läßt, daß bei mir, wie Sie bemerkt haben – noch Spuren von Heftigkeit sind, und daß ich noch mit Hize spiele, das sind einige starke Beweise. Es ist traurig, und ich könnte eine Elegie darüber machen, auf der andern Seite ist es doch aber auch sehr bedeutend, und gehört mit zu der Ewigkeit, die ich um keinen Preis missen mögte. Haben Sie nichts von dergleichen Reliquien aufzuweisen? ich finde gar nichts. Sie sind wie Sie waren und sind und sein werden.
Von heute will ich mich auch drüber hermachen die Predigt aufzuschreiben die recht gut werden kann wenn ich sie nacharbeite, und so hoffe ich denn doch etwas zu bringen. Mit den beiden Essay’s ist es nichts: ich habe nicht mitgebracht was ich schon dazu aufgeschrieben habe, ich habe auch nicht Ruhe | und Muße genug, und die Hauptsache ist, daß ich sie in Ihrer Nähe und unter Ihren Auspicien arbeiten muß. Die Offenheit habe ich der Cousine vorgelesen, sie hat aber keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht, einige von meinen Kleinen haben ihr weit besser gefallen, und gegen den Katechismus verschwindet ihr alles. Leider habe ich auch die welche Schlegel aus meinen andern Rhapsodien herausgezogen hat noch einmal gelesen – nun fragmentarischeres giebt es wohl nichts; ich wollte er hätte es mir überlassen so hätte die Fragmentenmasse einen großen Fleck weniger.
Heute ist meines alten Onkels GeburtsTag. Ein und Sechzig Jahr hat er nun die Welt gesehen und sie kommt ihm gewiß recht alt vor. So munter ich ihn auch gegen sonst gefunden habe, von der ewigen Jugend hat er nichts bekommen, aber Gleichmuth Ruhe und ein hülfreiches Wesen – davon hat er ein großes Maaß – sind doch ein schönes Substitut derselben. Er bringt es damit so weit, daß er noch junge Mädchen unterrichtet und gar sehr von ihnen nicht nur geehrt sondern auch geliebt ist. Ihm bekommt es herrlich und er machts im schönsten Sinne wahr, daß die Nähe der | jugendlichen Weiblichkeit das Alter wärmt und neu belebt. Wenn mir der Doktor nicht geweissagt hätte daß ich nur bei nah 50 Jahr alt werden würde so mögte ich wol die Frage aufwerfen ob auch mich zwischen 60 und 70 die Mädchen noch lieben werden? was meinen Sie. [...]
Metadata Concerning Header
  • Date: 3. bis 6. September 1798
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Henriette Herz ·
  • Place of Dispatch: Landsberg (Warthe) · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 2. Briefwechsel 1796‒1798 (Briefe 327‒552). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1988, S. 401‒403.

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