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Friedrich Schleiermacher to Lotte Schleiermacher

Berlin d 15t. Octob. 1798.
Welche lange Pause liebe Charlotte dünkt mich in meinem Schreiben an Dich gewesen zu seyn ob sie gleich in unserm Briefwechsel eben nichts außerordentliches ist. Aber wenn sich zwei so merkwürdige Begebenheiten in 6 Wochen zusammendrängen als eine Landsberger Reise und ein Besuch von Louis Dohna so scheint natürlich die Zeit in der so vieles geschehen ist lang zu seyn. Ja ja ein Besuch von Louis. Das große und glänzende HerbstManoeuvre bei welchem Officiers aus allen Theilen der preußischen Monarchie zugegen waren hat auch ihn hergeführt; er ist beinahe drei Wochen hier gewesen und ich habe wie Du leicht denken kannst diese ganze Zeit über ausschließend mit ihm und seinen Brüdern gelebt und mich seiner Gegenwart und seiner Freundschaft zu mir recht innig gefreut. Von Morgens an war ich bei ihm und half ihm die Merkwürdigkeiten von Berlin besehn – wieviel und wovon auf unsern Wanderungen durch die Stadt gesprochen worden kannst Du leicht denken. Mittags aß ich immer mit ihnen und die Abende brachten wir größtentheils alle bei Herzens zu. Wilhelm kam währender Anwesenheit seines Bruders von seiner großen Reise zurük, so daß drei Schlobitter hier waren, und ich mich ganz in die alte Zeit versezen konnte um so mehr da sie doch Alle mehr oder weniger von dem Ton und den Manieren des väterlichen Hauses an sich haben. Louis ist wie ich es erwarten konnte ein gar herrlicher Mensch geworden, sanft und fest, frölich und lieblich; er hat sich die Liebe aller derer erworben die ihn hier kennen gelernt haben, und namentlich – ohne eigentlich galant zu seyn – aller Frauen und Mädchen. In mir hat er meiner alten Freundschaft und Liebe Nahrung gegeben, und es hat mich sehr glüklich gemacht die seinige nicht verringert zu finden. Von Schlobitten hat er wie Du leicht denkst gar viel erzählen müßen. Zum Glük bekamen wir während seines Hierseyns von der guten herrlichen Friedrike sehr beruhigende Nachrichten. Sie haben ihre dortigen Aerzte ganz aufgegeben und Herz curirt sie jezt von hier aus und seitdem geht es um so viel beßer daß wir hoffen sie soll in 4 Wochen völlig wiederhergestellt seyn. Die gute Karoline scheint sich nach Louis Erzählungen eben nicht gar glüklich zu fühlen. Daß eine lebhafte Zuneigung von ihrer Seite das Band ihrer Ehe seyn würde hat sie freilich von Anfang an nicht denken können aber es scheint als ob sie sich in die Manieren und Procédés ihres Gatten, die aber gegen sie sehr artig und liebreich sind, und in die Trennung von den Ihrigen noch nicht recht finden könnte. Auguste geht ihren stillen Gang fort und ist hülfreich ohne bedeutender zu werden[;] was aber aus Ghristianen geworden ist bei der ich so ausgezeichnete Talente fand kann ich nicht begreifen; sie soll von einer nicht zu überwindenden Blödigkeit seyn und sich ob sie gleich nun 17 Jahr alt seyn muß noch immer in vieler Rüksicht als ein Kind ansehn, welches doch unstreitig nur die Schuld einer verkehrten Behandlung seyn kann. Fabian und Friz sind bei ihren Regimentern in Königsberg; ersterer bei der Infanterie lezterer bei den Dragonern, Fabian soll sehr groß und hübsch seyn und sehr gute Hofnungen geben; der Kleine Helvetius ist zu Hause und verlangt sehr nach einem Hofmeister den weder Sack noch ich bis jezt haben schaffen können. Die arme Friedrike ist nun seit 6 Monaten krank gewesen und wirklich großentheils in Gefahr und immer sehr leidend. Sie haben den ganzen Sommer in Finkenstein gewohnt ihren Bräutigam hat sie nur wenige Tage gesehn, aber seine Schwester ihre vertraute Freundin die Gräfin Aurore Dohnhoff ist fast immer dort gewesen, und die Gräfin von Karwinden auch sehr viel. Die Gräfin Aurore hat mir Louis sehr reizend beschrieben und alle scheinen zu wünschen daß sie Wilhelm gefallen, und er bei ihr das Glük finden möge welches ihm bei der Karoline Finkenstein versagt war. Dieser ist nun vor nicht ganz 14 Tage mit Louis nach Königsberg wo er | Kriegs und Domainenrath ist abgereist, und Alexander nicht nur sondern auch ich und die Herz haben uns seitdem sehr allein gefühlt. Ich habe immer gehoft daß in dieser Zeit auch ein Brief von Dir kommen würde, aber vergebens.
den 17ten. Meine Landsberger Reise hat mir diesmal nicht so reines Vergnügen gewährt. Die arme Beneken habe ich auf eine Art leiden sehen von der ich noch gar keinen Begrif hatte. Schon zu meiner Zeit hatte sie bisweilen Anfälle von hysterischen Krämpfen die aber doch nur entstanden wenn sie erweislich irgend einen Fehler in der Diät des Leibes oder des Gemüths gemacht hätte, und in ein paar Stunden vorüber waren, und in der lezten Zeit meines Dortseyns und in dem ersten Jahr da ich hier war ist sie ganz frei davon gewesen. Das viele Leiden aber was sie seit dem Anfang dieses Jahres gehabt hat die tödtliche Krankheit ihrer Emilie, die öfteren Krankheiten des Mannes und allerlei andere unangenehme Begebenheiten die ihr Gemüth sehr ergriffen, haben dieses Uebel wieder gewekt und zu einer fürchterlichen Höhe gebracht. Kleinere Anfälle [un]gerechnet habe ich gesehen daß sie während der drei Wochen daß ich dort war dreimal ohne die geringste denkbare Veranlaßung die ganze Nacht hindurch schreklich gelitten hat, und dieser Zustand war fürchterlich. Konvulsionen im Unterleibe, Schluken, Verdrehen des Halses, abwechselnde Steifigkeit und Lähmung aller Glieder, krampfhafte Bewegungen der Lungen die in jedem Augenblik die Besorgniß des Erstikens erregten, das alles wechselte unaufhörlich mit einander ab. Das fürchterlichste aber war daß sie während des ganzen Anfalls in einer Art von Schlaf lag mit ofnen Augen, mit denen sie aber Niemand erkannte taub bei allem was der Doktor und ich – wir brachten immer die ganze Nacht vor ihrem Bette zu – gar nicht leise über sie sprachen, aber für jeden, auch den leisesten, unregelmäßigen und ängstlichen Ton höchst aufmerksam und empfindlich. Es durfte einer mit den Füßen scharren, es durfte der Wind ein Brett bewegen, es durfte Jemand auf der Straße gehn gleich schrekte sie auf und verband damit die ängstlichsten Gedanken. Dieser Krampf des Gemüths, wenn ich so sagen darf, währte eben so lange und sie erduldete abwechselnd in einer Nacht alles Uebel was ihr ihr ganzes Leben hindurch begegnet ist. Das schreklichste für mich war wenn sie ihr todtes Kind als lebend behandelte, es foderte oder bange war man würde es ihr entführen. Du kannst denken was ich dabei gelitten habe. Der Doktor ein junger Mann der erst seit einem Jahr da ist, unstreitig der vernünftigste Mann in der ganzen Stadt, und zum Glük ihr vertrautester Hausfreund, weinte auch seine hellen Thränen. Er behandelt sie mit den besten Mitteln, auch hat sie seitdem nicht wieder so heftig gelitten; aber ob sie je ganz genesen wird, daran zweifelt er selbst nicht weniger als ich. Eine andere Störung wiederfuhr uns noch in den lezten Tagen. Da kam unvermuthet eine Schwester von Benike, eine Predigerwittwe mit ihrem Sohn und ihren zwei Töchtern um nach vielen Jahren – ob sie gleich nur 8 Meilen aus einander wohnen – einmal ihren Bruder zu besuchen. Die Leutchen waren gar nicht übel, obgleich die Benike meinte die Frau könne sie schon von alten Zeiten her nicht leiden, aber sie störten doch unsere Art des Beisammenseyns und wir waren eben nicht böse darüber daß sie nur zwei Tage da blieben. Den Onkel fand ich munterer als vor dem Jahr und er hat mir einen Brief an Dich mitgegeben, sein Sohn ein wunderlicher Mensch und eines solchen | Vaters nicht würdig ist noch immer unversorgt bei ihm. Der gute Bethe in Gralow ist mit seiner Gesundheit auch auf einem mißlichen Fuß; er war zwar so oft ich ihn sah ziemlich munter klagte aber doch sehr über Verschlimmerung seines Zustandes und der Doktor meinte daß es jedes mal ein Wunder wäre wenn er wieder ein Frühjahr überstände. Wenn ich mir nun die brave, herrliche Frau als Wittwe in ziemlich schlechten Umständen mit dem guten aber doch etwas verwöhnten Mädchen denke so war mir auch traurig ums Herz. Dagegen ist mir die Bekanntschaft des Doktors sehr werth gewesen; er ist ein braver Mann und ein Freund grade wie ihn die Benike in ihrer Verfaßung braucht: fest um ihre Weichheit zu bändigen, langsam um ihre Flüchtigkeit zu fixiren, und übrigens so daß sie ihm vergelten kann, denn es ist noch mancherlei an ihm abzuschleifen. Emilie ist fleißiger und thätiger geworden, aber auf ihr Gemüth wartet sie noch.
den 26ten October. Gestern Abend komme ich nach Hause und finde Deinen Brief mit der Erzählung daß die Reisende ihn selbst habe bringen wollen, und daß er darüber drei Wochen – denn so lange muß er wenigstens schon liegen, liegen geblieben sei. So habe ich den Brief die ganze Zeit entbehren müßen und die Schwester – die Du mir nicht einmal genannt und die auch ihren Namen nicht einmal hier gelaßen hat – doch nicht gesehn. Auf eine erneuerte Bemühung von ihrer Seite kann ich nicht rechnen – denn es ist eine gute halbe Meile von dort bis hieher – wenn uns aber das schöne Wetter nicht gar zu bald verläßt, will ich nächstens eine Reise zu ihr antreten. Es pflegt mit dergleichen Bestellungen nicht beßer zu gehn; ich habe auch noch einen Brief liegen der mir in Landsberg unter der Bedingung mitgegeben worden ist ihn selbst zu übergeben, der ist mir bei dieser Gelegenheit aufs neue schwer aufs Herz gefallen. Die Einlage an Graff habe ich gleich heute besorgen laßen, aber die an Karl von dem ich nächstens einen Brief erwarte ist noch hier. Die sehr guten Nachrichten von Deiner Gesundheit haben mir viel Freude gemacht; wenn bei Euch der Herbst eben so schön ist als hier, so hoffe ich sie nächstens wieder eben so gut zu haben.
Daß Du Dich über meine Art zu existiren beunruhigtest habe ich Deinen lezten Briefen eben nicht abmerken können, und es also auch ehrlicherweise nicht gedacht, ob ich es gleich gewißermaßen erwartete. Hättest Du aber nicht, meine Liebe, die ich so gern mit Allem bekannt mache was zu meiner Existenz gehört eben so aufrichtig seyn können als der gute Sack der nicht halb soviel davon weiß? Ich wünschte nur Du hättest Dich über Deine eigentliche Meinung deutlicher erklärt, so wäre ich gewiß Dich vollständiger zu beruhigen als ihn, der manches schlechterdings nicht sehen will wie es ist. Dis glaubst Du mir gewiß auf meine bloße Versicherung daß in meinem Verhältniß zu den Frauen nicht das geringste ist, was auch nur mit einem Anschein von Recht übel gedeutet werden könne; Du wirst in allem was ich über sie gesagt habe auch nicht eine Spur von Leidenschaft angetroffen haben, und ich versichere Dich daß ich von jeder Anwandlung dieser Art weit entfernt bin. Die Zeit die ich mit ihnen zubringe ist keinesweges bloß dem Vergnügen gewidmet, sondern trägt unmittelbar zur Vermehrung meiner Kenntniße und zur Anspornung meines Geistes bei und ich bin zugleich wieder ihnen auf dieselbe Art nüzlich. Daß übrigens die Herz eine Jüdin ist, schien anfangs gar keinen nachtheiligen Eindruk auf Dich zu machen, und ich glaubte Du seist mit mir überzeugt daß wo es auf Freundschaft ankommt, wo man ein dem seinigen ähnlich organisirtes Gemüth gefunden hat man über solche Umstände hinwegsehn dürfe und müße. Es streitet auch ein solcher Umgang gar nicht so sehr mit meinen äußern Verhältnißen als Du denken magst, Herr Teller und Herr Zöllner, zwei der angesehensten Geistlichen sind beide öfters im Herzischen Hause, freilich nicht auf dem vertrauten und herzlichen Fuß als ich, aber ich denke wenn man um unwichtigerer Absichten willen dieses alte | Vorurtheil bei Seite sezen darf, so muß dies da um so rechtmäßiger seyn wo die Absicht reeller und die ganze Art des Umganges erheblicher ist. Sage mir nur recht bestimt, liebe, was Dich drükt in dieser Sache, es liegt mir gar zu viel daran daß Du ruhig über mich bist. Die Stelle in Schwedt ausgeschlagen zu haben hat mich noch keinen Augenblik gereut; es sind dabei wirklich nicht nur meine hiesigen freundschaftlichen Verbindungen im Spiel, sondern mein ganzes literarisches Bestreben welches doch ein wichtiger Gegenstand ist. Wenn andre Stellen annehmen und vertauschen nur um des Geldes willen, oder um heirathen zu können, so findet man das natürlich und in der Ordnung, und wenn Jemand nicht seinen Beutel oder seinen Ehestand sondern seinen Kopf die zweite Hauptrüksicht seyn läßt, so soll dies übel gedeutet werden – das ist in der That auf alle Weise unbillig. Ich tröste mich aber, und jede neue Gelegenheit etwas zu lernen die sich mir eröfnet, und jede schöne Stunde die ich in Unterredungen zubringe in denen das Gemüth sich fühlt und beruhigt und bestimt, läßt mich mit Freude an meine Beharrlichkeit denken. Und gewiß verrichte ich meine Amtsgeschäfte hier mit soviel Lust und Liebe als es mir in Schwedt nur immer möglich gewesen seyn könnte. – Es ist dort eine alte Gräfin Lottum die von Schlesien aus unsern Vater gekannt hat, die hat mich kürzlich grüßen, und mich nebst ihrem Bedauern daß ich nicht hingekommen wäre ihres Verlangens meine Bekanntschaft zu machen versichern laßen. Sie pflegt im Winter auf ein Paar Monate herzukommen, und da werde ich ihr gewiß aufwarten.
den 8ten November. Das ist eine lange Pause, die gar nicht in meinem Plan lag aber ich war diese Zeit über zu beklemmten Herzens als daß ich ein vernünftiges Wort hätte schreiben können. Mir selbst ist nichts begegnet aber allerlei Unheil das meine Freunde betraf und mir viel zu schaffen machte, hat mich sehr angegriffen. Die Herz und ich haben alle unsere Kräfte angestrengt: wie wir beide über alle Verhältniße des menschlichen Lebens einig denken und fühlen, das habe ich auch bei dieser traurigen Gelegenheit mit Freude wahrgenommen, selbst da wo unser herrschendes Gefühl Unzufriedenheit über unsere Freunde seyn mußte waren wir immer ganz einig. Wenn ich je die Herz hätte heirathen können, ich glaube das hätte eine kapitale Ehe werden müßen, es müßte denn seyn daß sie gar zu einträchtig geworden wäre. Es macht mir oft ein trauriges Vergnügen zu denken welche Menschen zusammen gepaßt haben würden, indem oft wenn man drei oder vier Paar zusammennimt recht gute Ehen entstehen könnten wenn sie tauschen dürften: eben so geht es mit den Menschen welche zusammen Geschäfte treiben oder sich in die Hand arbeiten müßen – es ist fast alles verkehrt und könnte mit leichter Mühe beßer seyn. Dem Schiksal welches die Menschen für das rechte halten laufen sie nach so weit ihre Füße sie tragen können; aber nach angemeßenen Menschen gehn sie keinen Schritt und wißen sie nicht einmal festzuhalten wenn sie sie haben. Verzeihe mir diese Anmerkungen, sie sind aus dem was ich in diesen Tagen erlebt habe entsprungen.
Diesen Abend habe ich die Cousine Reinhardt ins Schauspiel geführt, eine Begebenheit die ihr kaum alle Jahr einmal zuspricht. Wir haben ein neues Stük von Ifland gesehn, „Der Fremde“ und uns sehr daran ergözt. Jezt beim Zuhausekommen habe ich noch einen Brief von Carl gefunden der fortdauernd zufrieden mit seiner Lage zu seyn scheint, aber doch nach Eigenthum und eignem Herde gewaltig strebt – der arme Junge, ich sehe keine Aussicht dazu. Er schreibt unter andern auch daß er mit einem ausführlichen Briefe an Dich umgehe; er soll nun künftige Woche den Deinigen empfangen das wird ihn spornen um desto eher sein Wort zu erfüllen. |
den 11ten November. Ich will diesen Brief nicht länger aufhalten, meine Liebe, selbst nicht um die Arie, die Du wünschest, und die mir versprochen worden ist zu erwarten denn das könnte mich noch ein paar Posttage hinhalten, und ich denke stark darauf daß dieser Brief heute weg soll. Die Gnadenfreierin habe ich noch nicht aufsuchen können; es ist seitdem das schlechteste Wetter eingetroffen, und ein Weg der zu einer meilenweiten Reise eben nicht einladet; da sie den Winter hier bleibt hoffe ich noch gelegnere Zeit zu finden.
Auch von Wedeke habe ich in diesen Tagen einen sehr freundlichen aber kleinen Brief bekommen; er scheint sich jezt wol zu befinden – denn den Sommer hat er sehr an seiner Brust gelitten – und ist gegen mich noch immer der Alte; ich habe ihm Hofnung gemacht ihn künftiges Jahr zu besuchen worüber er viel Freude hat. In seinem Briefe ist etwas weswegen ich mich zum Ueberfluß noch an Dich wende. Der Graf von Schlodien (Bruder der Gräfin Karoline von Karwinden) hat die Idee seine beiden Söhne in das Institut nach Uhyst zu bringen, und seine Schwester die darüber besorgt scheint hat mich durch Wedike fragen laßen, was ich davon weiß und darüber denke. Kannst Du mir also eine genaue Nachricht von dem jezigen Zustande des Instituts geben so wirst Du mir einen großen Gefallen damit erzeigen. Ich kann zwar mit meiner ersten Antwort nicht darauf warten, und werde von dem Geist des Instituts unterdeß sagen was ich durch [Mahler] und sonst davon weiß, und was ich der Gräfin zu ihrer Beruhigung nicht schnell genug sagen kann; jedes nähere Detail wird ihr aber gewiß hernach noch sehr willkommen seyn. Uebrigens bitte ich Dich von der bevorstehenden Ankunft dieser beiden Zöglinge, da die Sache noch nicht ganz gewiß zu seyn scheint Niemanden etwas zu sagen.
Ueber eine Gnadenfreier Anstalt hast Du mir sehr lange nichts gesagt und ich weiß noch nicht welchen Einfluß Scheuerls Wegberufung auf dieselbe gehabt hat. Auch von allen Deinen Lieben, der Schlegel der Prittwiz der Aulock ist hohes Stillschweigen – laß mich doch einmal wieder von ihnen hören und vertiefe Dich nicht ganz in den Verlust Deiner unvergeßlichen Zimmermann. Ich will nicht daß Du ihre Stelle besezen sollst, liebe. ach nein! Nie kann man die Stelle eines Freundes ersezen! Wer glüklich genug ist deren mehrere zu haben, dem ist gewiß Jeder einzelne etwas andres – eine Doublette in der Freundschaft hat gewiß Niemand. Aber Du sollst neben dem unersezlichen Verlust auch den Besiz deßen was Du hast mit Freude und Dank fühlen – es ist doch warlich nicht wenig, und Wenige selbst unter denen die es zu schäzen wissen werden eine ähnliche Aufzählung machen können. | Deinem Wunsche gemäß muß ich mich wol von dem kleinen Aufsaz über Fülle des Herzens, den ich Dir aus Schlesien entführt habe, trennen um ihn Dir zurükzuschiken; ich habe ihn noch einmal durchgelesen und es komt mir vor als hätte der Verfaßer doch wol keine rechte Erfahrung von der Fülle des Herzens, aus sich selbst nemlich – sonst würde er sie gewiß von der wahren Empfindsamkeit nicht getrennt sondern aufs engste damit vereinigt haben: eine ist ohne die andere nichts und nur wo sie beide vereinigt sind ist das höhere vorhanden was ihnen beiden erst wahren Werth giebt. Dies statt aller Anmerkungen womit ich ihn begleiten wollte. Ueberhaupt wer recht Herzensfülle hat wird selten darüber schreiben, aber deswegen weil sie ihn ganz durchdringt: so wenigstens nie. Denn was man überall in sich findet, das wovon jede Handlung, auch die allerverschiedenartigsten durchdrungen sind das wird man selten als einen eignen Stoff betrachten, von anderen absondern und andern Eigenschaften entgegensezen.
Den Brief vom Onkel schließe ich Dir auch bei, er ist alt genug geworden. Heute ist für mich ein seltner Tag: es ist Sonntag und ich habe gar nicht gepredigt. Ich höre aber jezt ein sehr interessantes Collegium das Sonntags von 11 – 1 gehalten wird (Du kannst denken wie beschwerlich mir das an den Tagen fällt, wo ich zweimal zu predigen habe) das habe ich denn auch heute gehört, und bin also nicht ohne äußere Thätigkeit gewesen. Den Rest des Tages werde ich wahrscheinlich mit Schlegel allein zubringen. – Ich weiß nicht ob ich Dir gesagt habe daß die Kirchenräthin Claessen (die erst an unsern seligen Onkel Stubenrauch verheirathet war) jezt hier ist; auch einer traurigen FamilienAngelegenheit halber. Ihre Tochter (nicht eine Stubenrauch sondern eine Claessen) die seit 10 Jahren mit einem Officier verheirathet und lange unglüklich gewesen ist kann es nun nicht länger aushalten sie ist von ihm gegangen und es ist eine Scheidung im Werke. Die Tochter mit ihren Kindern wohnt bei einer Stiefschwester, die sie hier hat, und die Mutter bei Herrn Reinhardt. Nichts ist jezt gemeiner als traurige Eheverhältniße, und wenn das zu Christi Zeiten mehr die Härtigkeit des Herzens bewies, so scheint es jezt mehr von der Erbärmlichkeit desselben herzurühren, davon daß es die Leute von Anfang an mit ihrem Leben und ihrem Lieben auf nichts ordentliches anlegen, und keinen Begrif und keinen Zwek damit verbinden. Glüklich ihr, die ihr das so wenigstens äußerlich nicht zu sehn braucht. Adieu laß bald wieder von Dir hören
Deinen treuen Bruder
Fr.
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  • Date: 15. Oktober bis 11. November 1798
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Lotte Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Gnadenfrei ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 2. Briefwechsel 1796‒1798 (Briefe 327‒552). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1988, S. 414‒423.

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