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Friedrich Schleiermacher to Henriette Herz

Potsdam den 1ten April 1799.
Ich habe Ihnen viel zu klagen, liebe Freundinn beim warmen Thee hier. Zuerst dieses was Sie wissen, daß ich heute kein Briefchen von Ihnen bekommen habe. Das ist mir jedesmal traurig, besonders aber nachdem ich Vorgestern und Gestern zusammen eilf Briefe zur Post gegeben habe scheint es mir von den Göttern – denn Sie konnten das nicht wissen – recht frech, ein so arges Mißverhältniß zuzulassen. Ich bin nach dem vielen Briefschreiben so erschöpft wie ein Mensch, der in allerlei Gesellschaft hintereinander die Kosten der Unterhaltung allein hat machen müssen – vorausgesetzt nemlich, daß er kein Zöllner ist. Und so kommt ganz natürlich die zweite Klage: daß ich nehmlich seit gestern Abend gar nichts nutz bin. Ich habe gestern oben bei Bamberger’s müssen Whist spielen und essen und befand mich hernach in einem häßlichen Zustande von Betäubung und Unfähigkeit, der mich zeitig zu Bette trieb. Heut ist mir den ganzen Tag im höchsten Grade Mies gewesen. Ich wollte erst dem Machen aus | dem Wege gehen, als ich mich dieses Zustandes bewußt wurde und nahm ein englisches Kalenderbuch was ich doch nur halb ausgelesen habe, dann habe ich mich mit vergeblichen Bestrebungen eine Zeit lang gequält und bin zuletzt um mich zu stimmen zum Plato geschritten, der aber auch keine rechte Wirkung gethan hat. Halten Sie das nicht für eine schlechte Art von Unruhe, und predigen Sie mir darin keine Resignation. Was ist denn dieses Unbekannte in mir, was mich soll hindern dürfen zu thun was ich will und soll? und warum soll ich es so ruhig jenseits meiner Willkühr liegen lassen. Man muß auf alle Weise streben die Herrschaft darüber zu erlangen und dieß ist vielleicht der einzige wahre, gewiß der einzige moralische Nutzen, den das Machen für mich haben kann.
Ich habe ein gute Prise gemacht, und es fängt an zu dämmern. Sehn Sie es fehlt mir wieder am Anfange der fünften Rede. Warum sind die Anfänge immer so schwer. Es ist als ob die Ideen auch dem Gravidationsgesetz folgten. Die schweren sammeln sich alle in die Mitte und die leichten verlieren sich so allmählig in dem umgebenden allgemeinen Raum, daß man vergeblich nach dem äußersten Anfange der Anziehungslinie sucht, und am Ende die Grenze dieser Atmosphäre durch einen Machtspruch willkührlich bestimmen muß. Mit dem Schluß scheint es nicht ganz so zu sein; aber warum denn? Den Schluß der fünften Rede habe ich beinah schon. Die einzelne Rede durfte abbrechen, das Ganze aber muß doch schließen und kann es nicht füglich anders als mit einer Aussicht ins Unendliche. Nicht so? Begegnet mir noch ein Glück heute mit dem Anfange, so schreibe ich es Ihnen noch. Es wäre mir außerordentlich lieb, denn mein Kommen nach Berlin künftige Woche beruht fast ausschließend darauf. |
Es lebe der Thee und die Abendstunde, die wenn auch kein Gold, doch Gedanken mit sich führt: ich habe wirklich den Anfang. Wenn nun nur meine Aussichten günstiger wären. Aber morgen Vormittag bin ich gestört weil ich dem Prediger Pischon seine Gegenvisite machen muß, und wenn die Eichmann, wie sie will Mittwoch herkommt und Freitag erst wegreist, so bleibt mir nichts übrig als die Nächte. Habe ich aber Lust zum Arbeiten, so werde ich mich das nicht abhalten lassen und ich bitte Sie nur im Voraus nicht zu schelten, wenn Sie wieder ein Paar Briefe früh Morgens vor Schlafengehen bekommen. Ich kann ja hernach alles nachholen. Jetzt ists erst halb eins, und ich gehe schon zu Bette.
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  • Date: Montag, 1. April 1799
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Henriette Herz ·
  • Place of Dispatch: Potsdam · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 3. Briefwechsel 1799‒1800 (Briefe 553‒849). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1992, S. 60‒61.

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