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Lotte Schleiermacher to Friedrich Schleiermacher

Gdfr d 22t. Juny 1799
Von ganzem Herzen stime ich darin überein, daß wir bei einem mündlichen persönlichen Ersehen, in unsern Uebersezungen und Erläuterungen viel weiter komen würden, als durch dieses hin und her schreiben – Du wirst auch dieses aus meinem lezten Brief im vorgen Jahr ersehen haben, wie inig ich dis wünschte, und nur auf Dein Verlangen, schrieb ich so sehr ausführlich, über Dinge, die man so gern schnell, in die Empfindungen des Andern überträgt, Red und Antwort aus dem viel sprechenden Auge, des Tieffühlenden Freund und Bruders, ohne viele Worte liest, leider scheint es, daß Du in Deinem Berlin ganz unbeweglich bist, und die Aussicht der entworfnen Reise in der dunkelsten Ferne liegt – doch! warum dem Hoffenden den einzigen Strohhalm nehmen, an den er so fest sich hält! Ehe ich weiter hier fortfahre laß mich Dir, es ganz aufrichtig gestehen, daß Dein Zögern mit Charles Briefe, nach deßen Inhalt ich mich doch schon ein Jahr lang sehnte, mir sehr wehe that – und mit Deiner Zärtlichkeit in der Bruderliebe und Freundtschaft gar nicht Zusammentreffen wolte da Du weist – wie sehr ich den guten Menschen liebe – und wie peinigend mir sein Schweigen war! Bruder! wenn Du das so mit mir fühltest – so ist mirs unbegreiflich – wie Du seinen ohnehin erst im December geendigten Brief – mir bis Ende May vorenthalten kontest! – doch ich verzeihe Dir! aber es hat mich sehr gekränkt sonderbare Ideen über Dich selbst erregt – die ich aber nicht wiederholen will um mein Selbst willen. |
Dieser Brief soll morgen auf die Post, und ohngeachtet ich gestern einen ganzen Seidlizschen Tag hatte, und heute (es ist Johany) werde ich den kleinen Moriz mit seiner Mutter aufsuchen – die ich gestern wieder seit langer Zeit ein Stündgen gesprochen habe – und so ganz nach Wunsch – die gute edle Lisette, grüst Dich herzlich nach alter Art – sie ist wohl – und sieht dem Vergnügen zum 2ten mahl Mutter zu werden mit der ihr durch Natur und Gnade eignen frohen Zuversicht entgegen zu Ende Octobre – und der kleine Junge wird Ende November 3 Jahr. Meine gute von Aulock sahe ich seit dem 4ten October vorigen Jahres am lezten PfingstFeyertag zu gegenseitiger herzlicher Freude auf einge Stunden hier – nur derjenge der unsre Verhältniße und EmpfindungsArt genau kent, kan sich auch ungesehn eine Vorstellung davon machen – und von dem eignen Gemisch von Freude und Schmerz – da ich es ihr ohne viele Worte deutlich machte, daß ich es auf einen ordentlichen Besuch zu ihr nie mehr antragen würde wenn es sich nicht durch ein Ohngefähr zutrüge indem ich die Schwermuth die sich in Pangel jedesmahl meiner bemächtigt nicht selbst suchen wolte – ihr ganzes hineinbliken – in diesen Vorsaz und Beifall darüber, jedoch mit einem schmerzhaften Wesen begleitet – machte was einziges | Das genante Ohngefähr traf sich vor einigen Wochen – da ich des Weges fuhr und die gute Aulock gern überrascht hätte – auch hätten wir noch eine gute Stunde zusamen plaudern könen – aber siehe da – alle waren eben in Gnadenfrei – als ich wieder anlangte fand ich sie noch jedoch war schon angespant – doch, war es nicht das – verstanden dis ausfahren war auf das Gesuch der lieben von Tsirschky ohnweit Strehlen geschehen, die ihre Kinder auf einge Tage begehrten, um der GroßMutter eine Freude zu machen, und mich zur Begleitung verlangten[;] die älteste meine Favorite – starb, wie Du Dich besinnen wirst an der RötelnKrankheit – diese Umstände und des Kindes Anhänglichkeit an mich knüpfen mich vest an die Eltern – und obschon die Schwestern der unvergeßlichen Minette nicht in Vergleichung zu sezen, so habe ich sie doch lieb – kurz wir fuhren den 7ten Juny früh weg – und waren den 9ten Abends wieder hier – sehr kurz war die Zeit – doch habe ich da die ganzen Kinder der alten Presidenten sich versamleten – und wir auch nach dem Gute des lezt verheirateten Sohnes fuhren Menschengesichter genug gesehen – und allerley Betrachtungen zu machen Gelegenheit gehabt – die Artigkeit mit Herzlichkeit verbunden mit welcher lezteren mich Unbekante in meiner GemeinTracht aufnahmen – und mich nichts fremdes fühlen ließen – machte daß es auch mir recht wohl unter ihnen war – aber, länger da zu bleiben, wäre mir, auch ohne die Verlezung meiner | Pflichten, in der Anstalt, nicht angenehm, oder erwünscht gewesen. Zu Ende May brachte ich auch bei Hausleutners in Reichenbach einen Tag mit den Lieben, die Dich herzlich grüßen recht sehr vergnügt zu – der alte Woche den der Fürst wieder nach Lendzin als AmtsRath transportirt – jedoch mit Verschonung – aller eignen Beschäftigung der Landwirtschaft – war kurz vorher bei seinen Kindern, und brachte mir seit Jahr und Tag einen Brief von der Stiefmutter mit – die, wie Du weist die Schneidern zu sich genomen und beköstigen wolte, wofür ich sehr froh war, und gewiß glaubte sie würde den Schwestern, noch etwas Bildung geben, aber die Herrlichkeit dauerte nur ein ViertelJahr – die wunderliche Schneidern ist wieder vor sich, und läst sich gar nicht sehen – ob sie gleich in einem Hause wohnen[;] eine eigne Empfindung! wenn ich an die zuvorkomende Güte unsrer Eltern, gedenke, mit welcher sie diesen Leuten, stets begegneten; weist Du Dich auf den blinden Riem zu besinnen der ist jezt da die alte Mutter todt ist, bei Richters, die sonst in Gurau, aber seit mehreren Jahren in Pleß wohnen.
Erdman Hausleutner jezt RegierungsAssesor in Pleß – schon lange verheiratet – solte in der Gegend besuchen, die Reichenbacher wolten ihn hieher bringen – ist aber noch nicht geschehen.
ein rechtes Vademecum – und noch lange nicht am Ende – aber schreklich geschrieben |
Die Freude, den guten Bürde seit jenen frühen KinderJahren zum erstenmahl wieder zu sehn, wurde mir auch vor 14 Tagen zu Theil, nur eine halbe Stunde sprach ich ihn, und diese war hinlänglich mir alles seit den 21 Jahren zu vergegenwärtigen, daß meine Freude bald in Schwermuth verwandelt wäre – schon mehrmahlen war er hier so lange ich hier wohne, aber nie sind wir Uns nahe gekomen, sein Weib und SchwiegerMutter, die alte Bertram – die von Halle her, noch den Oncle kent – erst seit 17 Jahren in Breslau wohnt habe, Beide, als einen angenehmen Zuwachs, meiner Bekanten zu zählen – Beide haben sich 4 Wochen hier aufgehalten, erstere die Mutter, ihre EnkelTochter von Loeuwe, die hier bei der verwitbeten Krebs in dem ColonieHaus* wo weiland Zimerman wohnten, erzogen wird – zu besuchen, und als dieselbe zurükkehrte kam die Tochter, um eine FrühjahrsCur nach einer harten Niederlage zu gebrauchen – ist auch vorgestern mit Cotwiz wieder abgereist. Sie ist ganz im verjüngten Maßstab, der Abdruk der Mutter, so viel Feinheit des Verstandes – und Lebhaftigkeit des Geistes – mit einer Sanftmuth verbunden, die Beiden gut kleidet – ein angenehmes Äußeres – welches die Würde der Alten noch mehr hebt, und bei ihrer Kunst sich in die Empfindungen der Jugend so schön zu verstehen, und mitzufühlen – besonders die Herzen gewint – unerschöpflich könte ich in dieser Erzählung werden. | Auch in OberPeile war ich kürzlich nach einer sehr langen Pause – da ich vom Baron hörte, daß er in Breslau mit einem gewißen Graf von Schlodien gesprochen, der sich über Dich recht freundtschaftlich geäußert – wahrscheinlich jener – von dem Du weiland erwähntest. Aus allem diesem was ich nur so berührt habe, siehst Du wohl, daß ich recht wohl und munter bin – empfänglich für vieles, und darum behutsam im Genuß – seit Aprill weiß ich von keiner Beschwerde des Cörpers die meinen Geist wie ehemals drükte – könte mich daher ohnmöglich entschließen aus meinem kleinen mir sehr angenehmen WirkungsCreis heraus zu treten, und ins Bad zu gehen – bin Dir aber lieber Bruder! für das überschikte mich wirklich sehr überraschende gar herzlich dankbar; so bald es das Wetter erlaubt – denn jezt wechselt Kälte und Regen – werde ich meinen lieben Einspänner wie nach Reichenbach geschehen, mir miethen – und ausfahren – Mitwoch Nachmittag so oft es angeht – laß Dich also diesen Beweis Deiner HerzensGüte nicht reuen mein Lieber! ich zahle meine Kost vierteljährig – und habe gern die Suma in Petto – noch imer konte ich es nicht – werde es aber vermittelst dieser möglich machen – das wird mir sehr gut – thun – es macht grade 20 Rthr jährlich – nim im Geist die herzlichste Umarmung dafür von
Deiner
Lotte.
*ich darf Dir nicht erst sagen, welch eine Ueberwindung es mich kostete – in das Haus zu gehen; noch nie gehabte Gefühle ergriffen mich dabei! ach ihr ist wohl.
Metadata Concerning Header
  • Date: 22. bis 24. Juni 1799
  • Sender: Lotte Schleiermacher ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Gnadenfrei ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 3. Briefwechsel 1799‒1800 (Briefe 553‒849). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1992, S. 128‒132.

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