Single collated printed full text without registry labelling not including a registry
TEI-Logo

Friedrich Schleiermacher to Lotte Schleiermacher

Berlin d 20t. Decemb. 1800.
Nur allzusehr, gute Lotte, ist Dein Wunsch in Erfüllung gegangen, daß ich nicht eher als nach Empfang Deines lezten Briefes schreiben möchte. Die Entschuldigungen über dieses unendliche Schweigen – in so fern es deren giebt – werden sich von selbst finden, wenn ich Dir erzähle wie es mir seither ergangen ist; mir ist nur bange, Du werdest Dir Besorgniße über meine Gesundheit gemacht haben, und diese Unruhe kann ich Dir doch auch durch die gültigsten Entschuldigungen nicht ungenoßen machen. Daß ich so lange Dohna’s hier waren nicht zum Schreiben kommen würde hast Du Dir selbst schon gedacht; ich glaubte das nicht, ich wollte immer schreiben, es kam aber nicht dazu. Ich habe viel mit ihnen gelebt; aber es hat mir im Ganzen keine angenehme Stimmung gegeben. Der innern Ruhe der Familie scheinen unheilbare Wunden geschlagen zu sein; der Graf hat ein allgemeines Mißtrauen gegen seine Gemalin und gegen alle seine Kinder, die jüngsten ausgenommen. Die Art, wie man sich manchen Ideen und Unternehmungen – die freilich sehr übel hätten ablaufen können – entgegengesezt hat, hat ihn aufs bitterste empört, er glaubt man will ihn beherrschen, und er sagte mir sogar einmal von der Gräfin: „hätte ich gewußt daß sie sich jemals dieses anmaßen könnte, so würde ich sie nie geheirathet haben.“ Du kannst denken wie mich das aus dem Munde eines Mannes der beinahe 30 Jahr dem äußeren Schein nach glüklich mit seiner Gattin lebt, und von so treflichen Geschöpfen, als die Früchte dieser Ehe es sind, umringt ist, bis ins Innerste erschüttert hat. Es ist mir eine neue aber fürchterliche Bestätigung aller meiner Gedanken über die Ehe und auch meiner Meinungen über die Charaktere dieser Familie gewesen. Diese ganze Lage der Sachen hat übrigens auch auf das Schiksal Deines Briefes an Friederike einen Einfluß gehabt. Sie selbst habe ich nie allein gesehn, aber auch nicht einmal den guten Louis. Auf diesem ruht ein besonderer Argwohn des Vaters den der trefliche Mensch gewiß nicht verdient; er hat ihn ordentlich bewacht um ihn weder mit Alexander noch mit mir allein zu laßen. Noch behutsamer machte mich Friederikens ähnliche Lage und der Widerwille den der Graf und zum Theil auch die Gräfin von alten Zeiten her wie ich weiß gegen die Gemeine hegen. Sie konnten eine nähere Verbindung Friederikens mit derselben fürchten besonders in ihrer etwas schwermüthigen Stimmung, und das Alles zusammen machte daß ich gar kein Herz hatte mit Deinem Briefe zum Vorschein zu kommen und beschloß es lediglich Louis anheim zu stellen. Es hat mir aber sosehr an Gelegenheit ihn zu sprechen gefehlt, daß mir nichts andres blieb als ihm den Brief zu schiken. Ich lege Dir seine Antwort bei, Du wirst daraus sehen daß ich auch über andere Dinge nicht mit ihm habe reden können, und sie wird Dir auch einen ohngefähren Begrif von der ganzen Verwirrung geben. Ueberdies hoffe ich soll es Dir lieb sein ein Paar Zeilen seiner Hand zu besizen. Louis Geburtstag ist noch nicht hier sondern unterwegens gefeiert worden, und der Gräfin Geburtstag sollte schon in Preußen bei der Gräfin Keiserling, einer vertrauten Freundin der Präsidentin begangen werden. Fabian kam nur einen Tag vor den Andern an, und so habe ich keine rechte Gelegenheit gehabt ihn kennen zu lernen; aber Louis ist noch viel liebenswürdiger ge | worden, als er war. Er hat durch das Reisen an Bildung gewonnen und daher ist auch sein Betragen freier und ungezwungener geworden und er hat etwas von jener heilsamen Zuversicht bekommen die allen seinen Geschwistern außer der ganz eigen organisirten Karoline und dem ebenfalls vielgereisten Wilhelm fehlt. Dasselbe gilt von Christianen deren übergroße Schüchternheit die wir noch im vorigen Jahre alle beklagten jezt um ein beträchtliches vermindert war. Du weißt daß sie fast Alle zeichnen, sie hatten sich aber bis jezt nur mit Landschaften abgegeben, nun haben die Herrlichkeiten der Kunst, welche sie in Dresden gesehen haben sie für die höhere Gattung begeistert; sie haben hier angefangen sich unter einem guten Meister im Figurenzeichnen zu üben und Louis und Christiane haben sehr gute Fortschritte gemacht. Friederike konnte keinen Theil daran nehmen, die Stunden mußten des Morgens früh gehalten werden wenn sie auf des Arztes Befehl noch der Ruhe pflegen mußte. Getanzt hat sie aber, und sich hier zusehends erholt: denn sie war in Karlsbad noch schlechter geworden als Du sie in Gnadenfrei gesehen hattest. – Ueber Dich haben sie sich Alle gleich am ersten Abend sehr freundlich geäußert; es habe ihnen sehr wohl gethan gleichsam eine alte Bekannte zu finden, die so vieles von ihnen Allen gewußt und sie so liebreich aufgenommen, aber sie wollten doch auch gleich die Bemerkung gemacht haben daß man Dich von ihnen zurükzuhalten gesucht. Louis habe ich besonders für sein liebreiches Betragen gegen Dich gedankt und er hat sich gar herzlich darüber geäußert. Jezt leidet er an einem schlimmen Fuß, den er sich wahrscheinlich beim Bergsteigen geholt hat, ist auch nicht in seiner Garnison Riesenburg sondern auf Commando in einer andern kleinen Stadt, wo er einige Wochen noch einsamer und unangenehmer als gewöhnlich leben muß.
Mit Dohnas zugleich, jedoch nicht so lange war auch mein Stettinischer Freund Bartholdy hier, und es galt also recht die Zeit auf eine geschikte Weise zu theilen und für sich selbst nichts zu behalten. Dieser hat mir verhältnißmäßig mehr Freude gemacht; ich habe ihn gesünder und froher mit seinem Zustande gefunden als im vorigen Jahr, aber ich habe ihn weniger allein gehabt und also nicht soviel vom Herzen mit ihm reden können. Indeßen haben doch wie Du aus eigner Erfahrung weißt, auch solche sparsamen Mittheilungen ihren großen Werth. Etwas früher noch war Wenzels Erscheinung, eine wahre Erscheinung von der ich Dir doch, weil sie Dich mit Recht so sehr interessirt, ausführlicher reden muß. Er trat eines Morgens in meine Stube herein und ohne das Geringste von ihm zu wissen erkannte ich ihn doch fast augenbliklich mehr an der Gestalt und am Ton der Stimme als am Gesicht. Vertraulich saßen wir gleich auf dem Sofa und fragten uns aus über die vergangne Zeit. Wir fanden uns beide gewaltig verändert, er mich wie er versicherte und ich ihm auch gern glaube munterer froher jugendlicher und gesünder als vor zehn Jahren in Halle; ich ihn mehr als ich ihm sagen konnte verfallen und zerstört. Er war noch ganz Schmerz beim Gedanken an seine Louise und sprach von ihr mit einer Innigkeit die ich nicht in ihm gesucht hätte. Ueberhaupt ist er mir durch die eine Stunde lieber geworden als er mir jemals war. Die Liebe das Leben und der Schmerz haben ihn sehr geläutert, die Frivolität die Zerstreuungssucht wovon er in Halle nicht frei war scheinen nur vorüber gehende Stimmungen gewesen zu sein und selbst seine Eitelkeit schien mir einen höheren Charakter angenommen zu haben. Mit allem Recht der alten Freundschaft fragte er mich nach meinem ganzen Zustande, meiner Lebensweise, meinen Bekanntschaften, meinen Studien, meinen Aussichten und Gedanken über die Zukunft. Sein Wagen hielt indeß vor meiner Thüre, und Du denkst wie uns die Zeit verging. Gewiß habe ich Dir in den ersten Zeiten meines hiesigen Aufenthaltes zwei Mädchen genannt Hainchelin mit Namen, und besonders von der einen, Nanette, mit vieler Zuneigung gesprochen. Diese Mädchen hatten einen Bruder, einen sehr liebenswürdigen Menschen der mit Wenzel und mir zugleich in Halle studierte, und sein vertrautester Freund war. Dies wußte ich; aber ich wußte nicht daß Wenzel eine beträchtliche Zeit hier in Berlin und in dieser Familie gelebt hat, und so oft ich auch Hainchelins gesehen habe war doch nie die Rede von ihm gewesen. Ich wunderte mich daher nicht wenig als er mir sagte daß er bei Nanette wohne. Diese hat kürzlich geheirathet einen Mann den ich nicht kenne | und wohnte den Sommer in Charlottenburg wo also auch Wenzel seinen Siz hatte. Sein Besuch bei mir war nur den zweiten Tag vor seiner Abreise und ich konnte es nicht möglich machen noch heraus zu kommen. Nanettens jüngere Schwester Manon die vor anderthalb Jahren ihre alte Liebe, einen sehr talentvollen jungen Mann vom Bauwesen geheirathet hatte war diesen Sommer Wittwe geworden. Schon bei seiner Verheirathung hatte der Mann die Schwindsucht, die er sich durch Vernachläßigung in Paris geholt hatte allein sein Arzt verkannte das Uebel bis es endlich heftig ausbrach und er diesen Sommer in Karlsbad als eben Dohna’s da waren starb. Die beiden Trauernden Wenzel und Manon haben sich nicht gesehn, und Wenzel sagte mir, sie schiene es absichtlich zu vermeiden; aber Du kannst Dir vorstellen was schon das Zusammendenken dieser beiden Fälle für eine herzschneidende Wirkung auf Beide hat thun müßen. Dies alles und dann die bei einer so besondern Veranlaßung auch besonders erwekte Erinnerung an die Vergangenheit, an eine Reihe von eilf langen Jahren, an die Zeit in Halle eine der wunderlichsten meines Lebens wie das Chaos ehe die Welt geschaffen wurde – bedenke Dir das und fühle daß mich Wenzels Erscheinung mit einer innigen Wemuth erfüllte[;] sein Bild und das Ganze überhaupt ist mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gekommen. Von Karl brachte er mir einen Brief, und durch Dich sagte er würde ich das Denkmal bekommen was er seiner Louise gesezt habe. Er brachte also kein Exemplar für mich mit: aber die Braut des jungen Hainchelins, ein liebliches Mädchen, eine halbe Engländerin hat es mir geliehen, und ich habe mich gefreut daß der Freund meiner Jugend solchen Schmerz empfinden kann. Es ist mir damit ergangen wie Dir, ich trenne mich ungern davon und sehe es nie ohne neue Rührung an. – Karl schreibt mir in seinem lezten Briefe, er habe Wenzeln seit seiner Rükkehr einmal gesprochen und ihn weit munterer und beruhigter gefunden als zuvor. Ich habe große Lust nun ich ihn zurük weiß an ihn zu schreiben und sobald ich irgend Zeit finde thue ich es gewiß.
Das sind so in der Kürze die interessanten Begebenheiten aus der ersten Periode meines Schweigens; zu derselben Zeit aber gingen auch schon die fatalen an: ein neuer College, der mit nichts Bescheid weiß den ich in Alles erst einweisen und für den ich tausenderlei thun muß, Streitigkeiten mit dem Armendirektorio wegen der neuen Wohnung, wobei des Laufens und Schreibens und der unangenehmen Erörterungen kein Ende war, und ein Paar Tage vor der Abreise der Dohnas das Ausziehen selbst. Kannst Du Dir denken daß es beinahe Vierzehn Tage dauerte ehe es ganz in Ordnung war? Erst ließen mich die Handwerker mit neuen Meublen sizen die ich bestellt hatte und mit alten welche reparirt werden mußten, dann das Räumen mit Büchern und Papieren. Dies ist für mich wie Du leicht denken kannst etwas sehr verführerisches; nicht leicht wird etwas ganz ungelesen bei Seite gelegt und ich lebe mit großer Freude in diesem und jenem Theil der vergangenen Zeit, worüber denn ein gutes Stük der Gegenwart natürlicherweise hingeht. Als Entschuldigung für mein Schweigen bedeuten nun freilich diese Vierzehn Tage wenig; die Hauptsache aber ist dies. Ich faßte erst nach Michaelis den Entschluß ein Bändchen Predigten druken zu laßen wozu mancherlei Umstände und verschiedene sich von mir verbreitende Meinungen mich veranlaßt. Der Buchhändler dem ich die Besorgung übertrug äußerte mir erst nachdem Dohnas weg waren den Wunsch, sie noch vor Anfang des jezigen Monates in die Drukerei geben zu können, und da habe ich denn – weil ich überall keine Predigten aufschreibe, sondern nur ausführliche Entwürfe davon zu Papier bringe – tüchtig arbeiten müßen, und so oft ich mir vornahm an Dich zu schreiben dachte ich: erst kannst Du doch noch diese Predigt fertig machen, darüber ging der Posttag hin, dann glaubte ich es sei noch Zeit genug und fing eine neue an, und so hat sich dasselbige Aufschieben mehrere Male wiederholt. Demohnerachtet bin ich erst in der Mitte des Monates mit der Arbeit zu Stande gekommen, wozu der Zustand meiner Gesundheit auch nicht wenig beigetragen hat. Seitdem ich in meiner neuen Wohnung bin leide ich an einem eignen Uebel, welches meine Aerzte sich nicht zu erklären wißen: Hände und Füße schwellen mir sehr merklich, welches dann in einigen Stunden wieder vergeht, dies ereignet sich des Tages mehrere Male ohngefähr wie Ebbe und Fluth. Herz hat mir eine Zeitlang starke schweißtreibende Mittel gegeben, das ist die unangenehmste Kur die ich jemals erfahrn habe, fünfzehn Stunden mußte ich Jedes Mal im Bette liegen ohne eigentlich schlafen zu können, und ohne irgend etwas im Bette vornehmen zu dürfen weil man sich in diesem Zustande so leicht erkältet, und diesen Spaß habe ich in drei Wochen wol acht mal gehabt zu einer Zeit wo jede Stunde auf Arbeit berechnet war. Anfangs schien es etwas zu helfen, aber nun ist Alles wieder beim Alten und es soll auf eine andere Weise versucht werden. Diese Heilmethode, die Mattigkeit die mir nach einer solchen Operation doch zurükblieb und die Besorgniß was am Ende aus diesem wunderlichen Zustande werden möchte, dies Alles | hat mir nicht nur das Arbeiten erschwert, sondern mich auch zu Zeiten so verstimmt daß es weder dem Schreiber noch dem Empfänger hätte Freude machen können wenn ich mich zum Briefschreiben gezwungen hätte. Nun habe ich mich drein ergeben geduldig zu warten wie es ablaufen wird; wenn das Uebel größer wird und sich zu irgend einer bestimmten Krankheit determinirt, so wird sich dann auch am besten etwas tüchtiges dagegen thun laßen. Mein Geburtstag ist mir stiller und wemüthiger vergangen als wol sonst. Ich erhielt am Morgen kleine Geschenke von der Herz und Alexander und ein freundliches Briefchen von der Grunow, dann Briefe aus Landsberg von der Benike und dem Onkel, und von der guten Tante eine selbstgestrikte Weste. Dies Geschenk ist mir doppelt werth und rührend gewesen weil ich weiß daß Handarbeiten ihr Mühe machen und sie sich nicht gern mehr als nothwendig ist damit abgiebt. Den Mittag aß ich bei der Herz wo auch Alexander war, den übrigen Theil des Tages war ich wieder zu Hause theils arbeitend theils mancherlei Gedanken und Empfindungen Raum gebend; ich wollte auch schreiben, das Papier lag vor mir aber die Feder entfiel mir immer wieder. Zu der Wemuth die mich beherrschte gab großentheils die Grunow Veranlaßung von deren traurigen Lage in ihrer unwürdigen Ehe ich ein Paar Tage vorher aufs Neue ein lebhaftes und nur allzuschmerzliches Bild vors Gemüth bekommen hatte, daran knüpften sich denn Gedanken und Sorgen um andere Freunde, Fragen und Vermuthungen über meine eigne Zukunft, und wenn gleich das Vertrauen auf eine höchste Regierung bei mir ein beständiges Gefühl ist, das mich eigentlich niemals verläßt so kann doch damit eine innige Wemuth bei der Aussicht daß dieser und jener geliebte Mensch zu immerwährenden Prüfungen und Leiden bestimmt ist gar wohl bestehen. Du wirst mich verstehen und darum erkläre ich Dir das nicht weiter. Deinen Brief und Dein liebes Geschenk erhielt ich am 30ten. Möge der Geldbeutel eine gute Vorbedeutung sein und nie leer werden! Für die Zeichnung sage der Zeichnerin meinen freundlichen Dank. Ja ja liebe Lotte, unsere Uebereinstimmung in Absicht auf so viele höchst wichtige Punkte und unsere genaue Kenntniß von einander, das giebt eine ganz besondere Seeleneinigung, die uns Beiden gewiß durch nichts anderes ersezt werden kann und deren wir uns je länger je mehr bewußt werden. Der Ueberbringer des Briefes sagte mir daß wenn ich etwas mitzuschiken hätte es noch denselben Abend abgegeben werden müße; an Schreiben war nun in dieser Schnelligkeit nicht zu denken aber das Papier fiel mir ein welches Du gewünscht hattest. Deinen vorlezten Brief hatte ich zu spät bekommen um es noch Görlizens mitgeben zu können; ich machte mich also gleich nach der Kirche – denn es war Sonntag – auf den Weg um zu sehen ob ich dergleichen bekommen könnte, aber das war vergeblich. Es giebt nur einen einzigen Ort hier wo man dergleichen findet, aber auch nicht immer. Diesmal war nichts zu haben und auch ein Paar Bekannte die sich dieser Zierlichkeiten zu bedienen pflegen hatten nicht genug vorräthig um mir aushelfen zu können. Sobald es wieder zu bekommen ist will ich eine Parthie für Dich bei Seite legen, um nicht vielleicht die nächste Gelegenheit wieder vorbeigehn laßen zu müßen; zu Weihnachtsgeschenken kannst Du es dann freilich nicht mehr brauchen aber an Geburtstagen kannst Du doch Freude damit machen. Das Papier bringt mich zunächst auf Maria; vergiß doch ja nicht mir zu schreiben ob die Nachricht die Du mir als Gerücht von ihr meldest sich bestätiget, und wie sie dann zu verstehen ist, als eine Trennung von der Gemeine, oder wie ich hoffe nur als eine von äußeren Ursachen herrührende Ortsveränderung?
den 27ten December Daß die Feiertage mir eine Pause gemacht haben wird Dir nicht fremd vorkommen. Ich habe zwar weniger als gewöhnlich zu predigen gehabt ich konnte aber dafür den Einladungen nicht aus dem Wege gehen, die mir alle zum Schreiben bestimmte Zeit geraubt haben. Noch dazu waren sie von der langweiligen Art – das sind Leiden die Ihr Gott sei Dank in der Gemeine nicht kennt. Nun ich wieder am Schreibtisch size weiß ich nicht wo ich anfangen soll, so unendlich viel habe ich Dir noch zu sagen und zu antworten. Wenn diese Epistel noch im alten Jahrhundert abgehn soll – denn auf den heutigen Posttag rechne ich schon nicht mehr – so werde ich in der That Alles nur mit sehr wenigen Worten berühren können und hoffe Du wirst mich doch verstehen, und Dir das Ausführliche dazu denken. Worüber ich gern am ausführlichsten wäre das ist nicht dieses oder Jenes Einzelne, sondern meine große Freude an Deinem Innern, wie es jezt seine lezte Gestalt gewinnt und sich äußert. Du scheust jezt mancherlei Gefühle nicht mehr so wie sonst; und was noch von dieser Art in Dir ist, ist gar nicht mehr das Nemliche. Jener Zustand war gewiß etwas Nothwendiges und Natürliches in Dir; aber es ist auch eben so nothwendig und natürlich daß er sich in diesen aufgelöst hat. Du und ich wir sind wie zwei ausgewählte Beispiele von der verschiedenen Art wie menschliche Herzen geführt werden, und daß ich so sage von dem entgegengesezten Klima in der Gemeine und in der Welt. Du hast durch Enthaltsamkeit des Herzens diese Stärke gewonnen, die nun mehr Selbstvertrauen erzeugt hat; ich hingegen durch unabläßige Bewegungen und Strapazen desselben. In der Gemeine habt Ihr gleichsam Alle eine weibliche Constitution, die man auch im körperlichen durch Ruhe und Stille heilt und stärkt, dagegen wer eine männliche hat und starke Bewegungen braucht in die Welt hinaus muß und da mit seinem Gemüth auf dem entgegengesezten Wege an denselben Punkt kommt. Deine zunehmende Offenheit gegen mich, die mir so viel werth ist als ich Dir gar nicht ausdrüken kann, kommt großentheils eben daher, Du fürchtest nicht mehr so wie sonst Dein Inneres zu berühren. So ist es auch mit Deinem Verschließen gegen die um Dich her; Du behandelst sie eben so wie Du sonst Dich selbst behandeltest und thust ganz recht daran, weil sie sich doch größtentheils in demselben Zustande befinden, in dem Du sonst warst. Dies könnte mich, wenn Zeit dazu wäre zu mancherlei Betrachtungen über die Gemeine führen in Denen Du vielleicht nicht ganz, aber doch großentheils mit mir übereinstimmen würdest. Ich möchte Dich beinahe bitten auf diese nähern Erörterungen noch zehn Jahre zu warten; dann sollst Du sie in ihrem ganzen Zusammenhange in einem Roman finden, den ich einmal schreiben will, und der Alles enthalten soll was ich vom Menschen und dem menschlichen Leben zu verstehen glaube. Du siehst auf wie weit hinaus ich Dich in Absicht meiner schriftstellerischen Arbeiten verweise die näheren werden wol Alle nur wissenschaftlich und nicht für Dich sein. – Dein Verhältniß gegen Peistels giebt mir sehr viel zu denken und in deine Seele hinein zu empfinden, und Du kannst denken, wie oft ich daran denke bei meinem so sehr ähnlichen Verhältniß gegen Grunows. Ueber Deine Bedenklichkeit nur selten hinzugehn habe ich gewiß nicht gelächelt, sondern ich finde es sehr weislich nach alle dem was Du mir von ihr sagst. Wie wohlthätig es ihm auch sein mag wenn er Dir sein Herz ausschütten kann, so würde es ihm gewiß nur um so viel quälender sein wenn einmal etwas zwischen Dir und ihr vorfiele. Auch kann ich mir noch andere Ursachen denken ohne zu lachen. Nur wirst Du Dir auch denken können daß ich dasselbe Verfahren nicht bei Grunows beobachten kann. Unangenehme | Auftritte würden dadurch doch nicht vermieden werden denn Grunow ist so launig daß sie oft aus den geringsten Kleinigkeiten entstehn und kaut so unermüdlich alte Dinge wieder daß man das Neue immer noch mit in den Kauf nehmen kann. Ueberdies ist meine öftere Gegenwart, und meine avouirte vertraute Freundschaft mit seiner Frau dieser wirklich nüzlich; er wird dadurch im Zaum gehalten, weil er mich und meine Aufsicht über sein Betragen fürchtet und besorgen muß daß wenn er es einmal zu arg machte ich der erste wäre der Lerm schlagen und die Familie seiner Frau zur Hülfe gegen ihn aufrufen würde. Peistels Sorge und Kampf um seine Kinder hat mir das Herz recht zerschnitten und ich habe mehr als jemals recht lebendig gefühlt wie wolthätig es für meine Freundin ist daß sie keine Kinder hat. In jedem Gedanken über Erziehung würden sich die beiden Menschen schnurstraks widersprechen, und die gute Frau würde sich in einer ewigen Qual verzehren, allem entgegengearbeitet und Alles zerstört zu sehn was sie schaffen und pflanzen würde. Und doch liegt die Sehnsucht Mutter zu werden so unendlich tief in dem Herzen einer jeden Frau. Sie hat manchmal ein Paar kleine Mädchen bei sich deren Mütter wenig Aufsicht über sie führen können, und sie oft auf ganze Tage zu ihr schiken; wenn ich diese Kinder bei ihr finde und nach meiner Art mit ihnen scherze spiele und lehre rollen stille Thränen ihre Wangen hinab, die Niemand als ich ganz verstehen kann. Ich breche von diesem ganzen Gegenstände ab, weil es doch genug ist um Dir ihn verständlich zu machen, und weil ich ohnedies fort muß, und ich hoffe Du wirst auch aus meinem entgegen gesezten Betragen und aus jeder Aeußerung darüber abnehmen wie gut ich das Deinige verstehe und wie sehr ich es billige. Nur das Eine noch. Sage mir, ob ich recht habe zu glauben, daß ein solche Ehe in der Gemeine nur unter dem Adel möglich ist – ich selbst habe darüber kein bestimmtes Urtheil weil ich das ganze Ehewesen bei Euch zu wenig gekannt habe.
Abends. Da bin ich wieder, um weiter mit Dir zu plaudern, und damit Du doch siehst was ich ohngefähr mit meiner Zeit anfange, will ich Dir zuerst erzählen wo ich unterdeß gewesen bin. Zuerst war ich ein Paar Stunden bei der Herz, und habe griechisch mit ihr gelesen, welches ich sie jezt lehre. Du weißt sie hat keine Kinder, ihre Wirthschaft ist in so guter Ordnung daß sie ihr nur ein Paar Stunden täglich zu widmen braucht, und so wendet sie einen guten Theil ihrer Zeit darauf sich in der Stille allerlei Kenntniße zu erwerben. In den neueren Sprachen hat sie es lange zu einer seltnen Fertigkeit gebracht und kennt Alles was es darin schönes und gutes giebt, da habe ich ihr denn gerathen sich auch mit dieser, die in so vieler Hinsicht das größte Meisterstük des menschlichen Geistes ist bekannt zu machen. Es ist ihr Anfangs, weil es so ein ganz anderes Wesen ist, und auf eine ganz eigne Weise betrieben werden muß sehr sauer geworden, nun aber kann ich schon sehr schöne Sachen mit ihr lesen und versäume nicht gern eine Stunde die wir uns einmal bestimmt haben. Dann war ich eine Stunde auf der Ressource, dem einzigen Orte wo ich bisweilen den größten Theil meiner Herren Amtsbrüder, und einen Theil der Herren vom Magistrat sehe, die mich einmal, wenn es ihnen so gefällt, zum Prediger in der Stadt wählen sollen[;] auch lese ich dort gelehrte Zeitungen und spiele dann und wann eine Partie Billard, welches Dir bei meiner bekannten Blindheit lächerlich scheinen kann aber doch so nothdürftig geht und meinen Augen recht gut bekommt. Von da bin ich zu Hause gegangen und habe bei meinem Abendbrodt überlegt, was ich Morgen am lezten Sonntage des Jahrs und Jahrhunderts zu Gemüthe führen will; dies weiß ich nun, der Thee, die Milchbrodte und die geräucherte Wurst sind verzehrt, ich habe den großen Stuhl auf dem ich beständig size von dem kleinen Eßtisch herumgedreht zum großen Arbeitstisch, an dem ich dann immer noch bis nach Mitternacht size. Das ist jezt meine gewöhnliche Lebensordnung, sehr selten bin ich einen ganzen Abend aus, aber nie laß ich einen Tag vergehen ohne Bewegung zu haben und Menschen zu sehen, welches Beides der Gesundheit meines Leibes und meiner Seele höchst nothwendig ist. Alle meine Freunde haben ihre bestimmte Zeit wann ich sie am liebsten besuche. Zur Grunow springe ich manchmal des Vormittags auf ein Stündchen herüber, dann ist sie entweder ganz allein oder hat nur ihre Kinder bei sich und es läßt sich ein gescheutes Wort mit ihr reden (Hoffentlich wirst Du nicht auf den Gedanken kommen als geschähe das hinter dem Rüken des Mannes! Gott bewahre, er weiß es und darf nichts dawider haben) außer dem bin ich aber fast alle Woche einmal des Abends da. Zu Eichmanns gehe ich am liebsten zum Mittageßen, denn dann gehn die Kinder nach Tisch in die Schule und man kann noch eine Stunde ruhig plaudern. – Die arme Frau hat ihr jüngstes Kind verloren und der Mann, der obwol sehr brav und achtungswerth doch ein wenig verdrüßlicher Natur ist hat seitdem wie mirs vorkommt an übler Laune sehr zugenommen. Die Herz sehe ich am liebsten zwischen dem Mittageßen und der Theestunde, denn in dieser Zeit kommt nicht leicht jemand als vertrautere Freunde des Hauses; überraschen mich dann am Ende Fremde so bleibe ich je nachdem sie mir gefallen wol noch ein Stündchen oder nehme gleich meinen Abschied, zu größeren Gesellschaften laße ich mich nur selten einmal bitten. Professor Spalding besuche ich immer des Abends, so auch einen andern jüngeren Sprachgelehrten den ich sehr lieb habe, das geschieht aber nur alle Monate einmal. Außerdem giebt es noch ein Paar Orte wohin ich so im Vorbeigehn auf ein halbes Stündchen zu gehn pflege. Zuhause arbeite ich dann Abends von 7 oder 8 bis 12 oder 1 und das oben beschriebene ist mein tägliches Abendbrodt. Das gilt für den Winter; im Sommer wenn Herzens im Thiergarten und Eichmanns in Charlottenburg wohnen ist es freilich ein Anderes. Da ich einmal im Zuge bin von meinen Bekannten und Freunden zu reden will ich auch Deine Fragen nach einigen entfernten beantworten. Lotte Schede lebt bei ihrem Bruder in Kalisch, der dort Regierungsrath ist; sie war im Sommer auf ein Paar Wochen hier, und ich habe sie noch ganz die Alte gefunden, außer daß sie an Lebhaftigkeit noch gewonnen dabei aber auch etwas von provinzieller Frivolität angenommen hat was mir nicht ganz gefiel – indeß kann das auch nur ein Schein sein und ich habe es mir möglichst ausgeredet um sie noch eben so lieb haben zu können. Meinen guten Hülsen kenne ich noch immer nicht persönlich; seine Frau ist wie leicht vorauszusehen war im Herbste gestorben, er hat seine Zöglinge fortgeschikt, Haus und Garten verkauft und lebt jezt einige Meilen weiter von hier, auch auf dem Lande bei einem Freunde, und wird wahrscheinlich im | Frühjahr irgend eine große Reise machen, vielleicht auch das, ohne daß ich ihn gesehen habe. Er hat mir seit der traurigen Begebenheit noch nicht geschrieben was ich ihm auch gar nicht übel nehme. Ach! das sind die wahren Unglüksfälle, Alles übrige ist nichts. Die Veit hat meinen Zorn nicht erregt; aber die wunderliche Wendung ihres Schiksals und das Auffallende und Verwerfliche was ihre Handlungsweise in den Augen der Welt hat bekümmert mich sehr tief, und ist ein Gegenstand ernster Sorge für mich, eben weil sie und Schlegel mir so im Herzen werth sind. Sie hatte sehr triftige, uns die wir den ganzen Zusammenhang kennen hinreichende Ursachen sich von hier zu entfernen; Schlegels Bruder und Schwägerin luden sie zu sich ein, und sie lebt in deren Hause in Jena. Friedrich lebt auch in Jena, und Du kannst denken wie die Welt über dieses ganze Verhältniß redet. Auch würden sich beide schon auf das gesezmäßigste und heiligste verbunden haben, da sie allerdings mit ganzer Seele aneinander hängen, wenn nicht die Bedingungen unter denen allein ihr Mann sich dazu verstehen wollte ihr den jüngsten Knaben zu laßen der ihrer mütterlichen Pflege und ihrer verständigen Erziehung ganz unumgänglich bedarf, es nicht unmöglich machten. Dies geht nun so lange es geht aber wenn der ältere Schlegel der schon seit langer Zeit mit seiner Frau nicht im besten Vernehmen lebt, sich über kurz oder lang von dieser trennt, so weiß ich in der That nicht was die arme Frau anfangen will. Das sind unglükliche Verwikelungen die aus den Widersprüchen in unsern Gesezen und unsern Sitten entspringen, und denen oft die besten Menschen nicht entgehen können. Dazu kommt noch daß Schlegel nicht ganz ohne seine Schuld in der litterarischen Welt eine große Menge von Feinden hat, und am wenigsten hat dieses Verhältniß, deßen wahren Zusammenhang fast kein Mensch genau weiß, ihnen entgehn können und so muß die arme Veit bald namentlich bald ungenannt sich in allen Streitschriften und satyrischen Ausfällen mit herumtragen laßen. Es ist eine unglükliche Geschichte, und ich bedaure die beiden Menschen von ganzer Seele, die nur deshalb so manche Kränkungen erdulden müßen, weil sie einfacher und redlicher gehandelt haben als die Welt es gewohnt ist. – Du siehst daß auch ich mit meinen Freunden und für sie genug zu leiden habe, wie es sich denn gebührt, und ein fühlbares Herz es nicht anders zu erwarten hat. Für jezt macht mir unter Allen die Herz am wenigsten Noth, indeß laßen sich auch Zeiten und Umstände voraus sehen wo ich für sie nicht weniger in Kummer sein werde. Schlegel verursacht mir in gewißer Hinsicht auch unmittelbare Unannehmlichkeiten; aber die sind das wenigste und leichteste. Es giebt nemlich Menschen, die ohnerachtet ich mit der gelehrten Welt für jezt noch rein gar nichts zu thun habe, bloß weil ich sein persönlicher Freund bin ihre litterarische Feindschaft gegen ihn auch auf mich ausdehnen, allein ich nehme gar keine Notiz davon, gehe ganz still meinen Gang fort und denke so sollen sie es bald satt haben.
den 29ten Was ich jezt noch schreiben kann soll noch in diese Epistel hinein, Gestern hatte ich zweimal zu predigen und war hernach den Abend bei Grunows, und Morgen da die Post abgeht möchte ich keinen Augenblik mehr finden. Es ist selten daß ich einen ganzen Abend bei Grunows bin ohne daß er wenigstens irgend eine kleine Unart gegen sie begeht. Gestern war es wieder so, bis auf die lezte Stunde war alles still und ruhig gewesen aber ganz konnte er es nicht abgehn laßen. Du kannst Dir denken wie tief ich das immer fühle und wie die kleinen grade so auf mich wirken wie die großen; die Gesinnung davon ist doch immer die nemliche und die kleinsten sind bisweilen noch unwürdiger. Ich habe nicht wieder auf dies Kapitel kommen wollen und will mich auch nicht wieder darin vertiefen, ob ich gleich noch tausenderlei sagen möchte um Dich mit der Lage dieser Frau recht bekannt zu machen, die ohne eine seltene Heiterkeit des Gemüthes gewiß schon untergelegen hätte. Vielleicht ein ander Mal mehr; jezt muß ich nur alles zusammen nehmen wovon Du gewiß eine Erwähnung erwartest. Der Beifall den meine Zeilen an Maria gefunden haben ist mir freilich sehr schmeichelhaft, oder vielmehr er würde es sein wenn ich glauben könnte daß er sich eben so auf den Ausdruk als auf die Empfindung bezöge, aber eine Aufmunterung kann er mir eigentlich nicht sein. Ich habe so wenig Talent für die gebundene Rede daß es mir nicht möglich ist auch nur zwei Zeilen dieser Art wenn ich will hervorzubringen, und wenn ich mir noch so viel Mühe geben und noch soviel Zeit darauf verwenden wollte sondern ich muß ganz gelaßen abwarten bis es mir von selbst kommt und das geschieht auch nur sehr selten. Schlegel hat mir schon oft behauptet die Poesie gehöre mit zu meiner Natur; ich bin aber sehr lebhaft von Gegentheil überzeugt und wenn es auch einmal über mich kommt ein Paar Verse zu machen so ist das doch immer keine Poesie. In Wenzels kleiner Schrift habe ich dagegen zu meiner Freude und mir unerwartet außer der natürlichen Beredtsamkeit der Empfindung ein schönes Talent zur dichterischen Darstellung gefunden. Was Du ihm geschrieben hast, hätte ich wohl lesen mögen; nächstens denke ich Dir Nachricht geben zu können daß ich mich auch wieder in ein fortdauerndes Verhältniß mit ihm gesezt habe. Es ist etwas wunderbares in unserm Leben daß wie wenig es auch den Anschein dazu hat alle alten Gestalten sich uns immer wieder nähern und mit frischen Fäden der Erinnerung die spätere Zeit wieder an die früheren Jahre der Jugend anknüpfen. Mit wie vielen ist es mir nun schon so gegangen, und so rechne ich auch darauf daß es mir mit manchen noch begegnen mag. Deine Ahndung Wenzeln in Gnadenfrei wieder zu sehn kann auch noch wahr werden wenn gleich schwerlich auf die Art wie Du dies zu denken scheinst; aber ich dächte doch wir ließen es nicht darauf ankommen. Kommt nur einmal die Zeit, wo ich so wie ich es wünsche nach Schlesien reisen kann: dann mußt Du wirklich auch mit mir nach Breslau, und ich hoffe daß auch dann die Gründe welche Du jezt dagegen hast nicht Statt finden werden. Wunderliche Leute sind eure Arbeiter wirklich in diesen Dingen; es kommt wol daher weil so Viele in der Gemeine Erzogene und Geborene darunter sind welche die Verhältniße nicht beurtheilen können und sich dann auch ganz falsche Vorstellungen machen von den Wirkungen die manche Dinge aufs Gemüth haben können[.] Indeß bin ich jezt nicht | mehr so daß dergleichen mich böse oder verdrüßlich machen könnte wie es denn auch sehr natürlich ist wenn man es mit der Kenntniß der Menschen auf einen gewißen Punkt gebracht hat; wer sich etwas auf den innern Zusammenhang und Grund der Handlungen versteht, den können die einzelnen Handlungen selbst gar nicht so afficiren weil sie ihm nicht unerwartet kommen. Auf diesem Wege bin ich zu einer Ruhe und Gelaßenheit gekommen über die man sich oft wundert. Wie ich dazu gekommen bin zu glauben Du seist in Fürstenstein gewesen weiß ich nicht; wahrscheinlich hast Du mir Dein Sehen mit der Princeß so unbestimmt erzählt daß ich in Gedanken die Scene nach Fürstenstein verlegen konnte. Daß wir beide, so sehr wir Schlesier sind eigentlich noch keine GebirgsGegend recht kennen ist doch wunderlich, und diesen Genuß müßen wir uns auch noch zu verschaffen suchen. Aber freilich wenn das Alles bei einer Reise nach Schlesien vereinigt werden soll, so würde eine Zeit dazu gehören die ich meinem gegenwärtigen Amte wol niemals werde abmüßigen können und ich muß mich also bis auf die Zeit eines Wechsels gedulden. Woher das Geld dazu kommen soll darum kümmere ich mich jezt noch nicht: über diesen Punkt denke ich immer was sein soll findet sich. Nach nichts was sich auf dieser schönen Reise zutragen wird verlangt mich indeß so sehr als nach der persönlichen Bekanntschaft Deiner Freundin Aulock, in allen Deinen Erzählungen erscheint sie mir immer noch wie durch einen zarten Schleier, und auf eurer ganzen Art miteinander zu sein ruht etwas mystisches was einen unendlichen Reiz hat – es ist etwas was man schlechterdings sehen muß; dagegen ich mir Deine anderen Verhältniße ohne das recht klar vorstellen kann. Wunderliche Leute aber seid Ihr doch in Schlesien noch in Rüksicht mancher Kleinigkeiten – das wäre mir gar nicht eingefallen, daß bei dieser innigen Anhänglichkeit Du Dich gegen sie noch der gewöhnlichen Titulatur bedient hättest, die hier zwischen Personen von demselben Geschlecht bei irgend näherer Bekanntschaft gleich wegfällt wenn nicht etwa ein großer Abstand des Alters vorhanden ist. Die Herz geht zum Beispiel hier mit vielen Personen vom großen Adel um ohne auf einem solchen Fuß mit ihnen zu stehn wie Du mit Deiner Freundin, aber es fällt ihr nicht ein sich gegen irgend einen außer gegen alte Personen des Wortes gnädig zu bedienen, und es würde jenen selbst wunderlich vorkommen wenn es anders wäre; eben das sehe und höre ich beständig von andern bürgerlichen Frauenzimmern.
Das BücherKapitel aus Deinen vorigen Briefen habe ich, soviel ich weiß, im lezten genau genug beantwortet; auch in Deinem neuesten fragst Du nach Sachen welche ich nicht kenne, weder die Proselyten noch die Erzählungen von und für gute Seelen sind mir jemals vor Augen gekommen. Mit meinem Lesen ist es wie Du siehst schlecht bestellt; selbst die merkwürdigsten Erscheinungen in der Litteratur sind gewöhnlich sehr lange vorhanden ehe ich sie genieße. So habe ich zum Beispiel Schillers Wallenstein und Wielands Aristipp noch nicht gelesen, Werke worauf die Aufmerksamkeit der ganzen lesenden Welt gerichtet ist. Dies kommt größtentheils daher weil das Lesen mir größtentheils weit mehr Zeit kostet als hundert andern Menschen. Um etwas so gar zu verstehen als ich es wünsche muß ich es gleich zwei dreimal lesen und dann noch einzelne Stellen besonders, sonst bekomme ich kein rechtes Bild von dem Ganzen. Aus eben dem Grunde wenn gleich nur im Kleinen komme ich höchst selten ins Theater. Ich sehe nicht gern ein Stük was ich nicht vorher gelesen habe weil mir sonst auch Vieles verloren geht; am liebsten nehme ich das Buch mit ins Schauspielhaus und blättere in den Pausen immer den folgenden Akt durch. Will ich überdies Alles ordentlich sehen ohne mir durch ein allzuscharfes Glas die Augen zu verderben so muß ich ganz vorn im Parterre sein und dazu gehört bei beliebten Stüken daß man fast zwei Stunden eher komt als es angeht. Concerte deren es im Winter hier Viele giebt besuche ich aus andern Gründen nicht: theils sind sie sehr theuer theils mache ich mir gar nichts aus der Virtuosenmusik, selbst nicht aus dem Virtuosengesang. So habe ich auch die Schöpfung von Haidn noch nicht gehört, sie wird aber in acht Tagen hier von der königlichen Kapelle aufgeführt werden und vielleicht gehe ich dann doch hin – hier habe ich sehr verschiedene Urtheile darüber gehört; einige sind ganz davon entzükt, Anderen scheint es mit Künsteleien überladen zu sein, der Text ist mir nicht bekannt er pflegt aber gewöhnlich bei solchen Dingen schlecht zu sein. Die Musik die ich am liebsten und öftesten höre ist die der SingAkademie wo lauter KirchenMusik im großen Styl aufgeführt wird und ich mich oft der Festmusiken und Wechselchöre auf den Gemeinsälen erinnere. Ich weiß nicht ob ich Dir von diesem Institut jemals geschrieben habe oder ob Du es sonst kennst.
Von Karl habe ich nach einer gleichfalls sehr langen Pause vor acht Tagen einen recht ausführlichen Brief gehabt; er schreibt daß er viel bei Reinhold Wunster ist (viel heißt freilich bei dem armen Jungen nur an seinen Sonntagen die er frei hat) und er scheint überall gern gesehen zu sein, was mir viel Freude macht. Ich hoffe er soll nur im Vaterlande bleiben und dort die Schleiermachers erneuern; wenn er nur erst ehe die schönsten Jahre des Lebens vorübergehn zu etwas eignem kommen könnte. Das muß man indeß bloß dem guten Glük überlaßen. Wie es aber zugeht daß die Mutter keinem einzigen von uns mehr schreibt, begreife ich nicht. Es ist mir recht traurig von den kleinen Wesen – ich weiß nicht warum ich sie mir immer so denke, sie müßen doch jezt schon ziemlich herangewachsen sein – so gar nichts zu wißen und so gar nichts für sie thun zu können. Noch dazu habe ich nicht | einmal eine Idee davon wie es denn in ihrer Lage und unter den Händen der Mutter mit ihrer Erziehung bestellt ist. Etwas mehr kannst Du wol davon wißen da Du die Mutter doch kennst, was kannst Du mir für Trost darüber geben? Auch nach manchen andern Menschen möchte ich Dich fragen von denen ich lange nichts gehört habe. So ist von der Prittwiz Kindern lange gar nichts und von ihr selbst für die Du doch mein großes Interesse kennst sehr wenig erwähnt; auch scheinst Du mit der Stegemann außer aller Verbindung zu sein, [ich] frage wie ist das zugegangen da Du doch auch nicht gern fahren läßt was Du einmal, und besonders aufs Neue ergriffen hast.
Was Du von Deiner Gesundheit sagst macht mich allerdings besorgt besonders bei Annäherung des Winters der doch für alle leidende in unserm Klima die schlimmste Jahreszeit ist. Habe nur im Winter wol auf Dich Acht und überzeuge Dich endlich daß Du einmal im Sommer etwas ordentliches für Dich thun mußt. Es ist recht schön daß Du Dich von Deinen Geschäften nicht gern störst, aber bedenke nur daß sie weit weniger leiden wenn Du einmal auf einige Wochen abwesend bist und eine Anordnung deshalb getroffen wird als wenn Du Kränklichkeit wegen bald hier bald da einen Tag aussezen mußt. Schreibe mir doch genauer was eigentlich Deinen Augen fehlt, es ist mir neu daß Du an diesen leidest. Eine Geldrimesse hoffe ich Dir nächstens machen zu können, ich denke eher als ich Dir wieder ordentlich schreiben kann. Was Du unterdeß bedarfst laß Dir nur von Carl geben, mit dem ich dieser Kleinigkeiten wegen Verabredung getroffen habe. Deine erste Forderung an ihn war gar zu klein; warum hast Du Dir nicht gleich noch einmal soviel von ihm geben laßen? ich ängstige mich recht daß das auf keiner Seite zugereicht haben wird. Und nun muß ich aufhören wol wißend daß Du in diesem Briefe noch Manches vermißen wirst; es wird sich Alles noch nachholen. Wenn Du nur Alles erwägst, wirst Du mir hoffentlich nicht böse sein, besonders die Predigten. Es versteht sich daß Du diese haben sollst sobald sie gedrukt sind. Die andere Arbeit ist ohne meine Schuld nicht fertig geworden weil es mir noch an einigen Materialien gefehlt hat die aus England erwartet werden; nun wird sie sich wahrscheinlich bis ans Ende des künftigen Jahres verziehen. Ich hoffe Du wirst bald wieder von Dir hören laßen. Kannst Du glauben daß mir jemals Dein Schreiben zu viel[,] zu ausführlich, zu offen sein kann? das kann wol auch von weiten nicht Dein Ernst sein. Du weißt ja wie gern ich Dir die größten Episteln von der Welt schriebe. Adieu! Viel Glük, das heißt eigentlich nur Gesundheit zum neuen Jahr und Jahrhundert
Dein
Friz
Metadata Concerning Header
  • Date: 20. bis 29. Dezember 1800
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Lotte Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Gnadenfrei ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 4. Briefwechsel 1800 (Briefe 850‒1004). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1994, S. 366‒384.

Basics · Zitieren