Zürich den 6. [Dezember] 1793.
Ich weiß Ihnen, würdigster, theuerster Freund, auf keine Ihrer würdigere Art für den gütigen Beweis Ihrer fortdauernden Freundschaft zu danken, als wenn ich Ihnen meine hohe Meinung von Ihrer reinen Wahrheitsliebe, und mein ungemeßnes Zutrauen zu dieser Ihrer Freundschaft durch die That zeige.
Ihre Abhandlung ist mir ein sehr aufmunternder Beweis Ihrer guten Meinung von meinen etwanigen Einsichten, da Sie durch dieselbe zeigen, daß Sie meinen 2. §. mit einer Aufmerksamkeit studirt, welche die Hoffnung, etwas darin zu finden, voraussetzt. Wenn der Inhalt desselben von einiger Bedeutung ist, so kann ich es Ihnen bezeugen, daß Sie den ersten Theil desselben, als so weit Ihre Abhandlung ihn begleitet, willig verstanden, und meisterhaft dargestellt haben. – Daß ein Sittengesetz a priori im Menschen sey, setzte ich mit allen bisherigen kritischen Philosophen, Kant selbst nicht ausgenommen, im zweiten Theile desselben, als Thatsache voraus, und beweise auf eine unter der Voraussetzung mir noch bis jetzt völlig evident scheinende Weise, daß dieses Gesetz sich nur an ein Vermögen, welches von einer Seite nothwendig bestimmt, und von der andern spontan sey, (und welches man Begehrungsvermögen, oder wie man sonst will, nennen kann,) sich richten könne. Weiter zurückgehen wollte und konnte ich damals nicht füglich. Der Grund, warum ich im ersten Theile des §. eine durchgeführte Erörterung des niedern Begehrungsvermögens gab, war der, um im dritten die Verbindung beider zur Hervorbringung eines Glaubens zu zeigen. Dieser Punkt scheint mir der wichtigste des §., und ich glaube, daß eine Darstellung der beiden übrigen Theile für den jetzigen Zustand der kritischen Philosophie nicht ohne Nutzen seyn würde.
In diesem Falle aber bediene ich mich der Erlaubniß, Sie, außer dem in Ihrem Schreiben selbst angemerkten Punkte, [/] noch auf einige andere aufmerksam zu machen, in denen Sie sich durch Reinhold, meiner Meinung nach, irre haben führen lassen. – „Die Form der Vernunft besteht in der absoluten Einheit“ ist an sich wohl richtig; aber daß sie in der Hervorbringung derselben bestehe, gilt nur vom Vorstellungsvermögen. Ueberdies ist die Einheit gar mancherlei: bei’m Vorstellungsvermögen eine synthetische, bei der praktischen Vernunft blos eine formelle, die dem Widerspruche entgegengesetzt ist. – Sie beziehe[n] sich S. 50 auf die Operationen (die überhaupt nur empirisch vorgestellt werden) der Vernunft als vorstellenden Vermögens; aber in sofern die Vernunft praktisch ist, ist sie schlechterdings nicht vorstellend, sondern das gerade Gegentheil davon. – Zu der Misdeutung, daß man, um das Sittengesetz von Seiten seiner Allgemeinheit zu unterscheiden, dasselbe in Anwendung auf alle vernünftige Wesen denken müsse, hat freilich Kant selbst den Anlaß gegeben; aber es sollte ihm nur ein empirisches Prüfungsmittel bedeuten; und keinen transcendentalen Charakter des Sittengesetzes. Die reine Philosophie weiß nur von Einem Ich; und dieses Eine Ich soll mit sich selbst nicht im Widerspruche stehen. – Kategorische Imperativen, in der mehrern Zahl giebt es nicht, sondern nur Einen. – Verzeihen Sie diese Erinnerungen; und Sie werden sie mir gewiß verzeihen, wenn Sie weiter lesen.
Für den jetzigen Zustand der kritischen Philosophie, sagte ich oben, und nun mein aufrichtiges Bekenntniß, welches ich Ihnen unter vier Augen thue, daß ich mit demselben schlecht zufrieden bin. Meiner innigen Ueberzeugung nach hat Kant die Wahrheit blos angedeutet, aber weder dargestellt, noch bewiesen. Dieser wunderbare, einzige Mann hat entweder ein Divinations=Vermögen der Wahrheit, ohne sich ihrer Gründe selbst bewußt zu seyn; oder er hat sein Zeitalter nicht hoch genug geschätzt, um sie ihm mitzutheilen; oder er hat sich gescheut, [/] bei seinem Leben die übermenschliche Verehrung an sich zu reißen, die ihm über kurz oder lang doch noch zu Theil werden mußte. Noch keiner hat ihn verstanden; die es am meisten glauben, am wenigsten; keiner wird ihn verstehen, der nicht auf seinem eignen Wege zu Kant’s Resultaten kommen wird, und dann wird die Welt erst staunen. – Nur ein Paar Proben! – Erfahrung ist, sagt Kant, und baut auf diesen Satz einen Beweis, daß Erfahrung nicht möglich ist. Wer durch Erklärung der zwiefachen Bedeutung dieses Worts bei Kant diesen Widerspruch lösen wird, der wird mehr finden als er glaubte. Kant’s Nachfolger aber dachten, sie müssen nur beweisen, daß Erfahrung wirklich sey. – Kant beweist, daß der Grundsatz der Kausalität blos auf Erscheinungen anwendbar sey, und nimmt dennoch ein Substratum aller Erscheinungen an; – ohne Zweifel vermöge dieses Gesetzes; wenigstens beweisen so seine Nachfolger. Wer uns zeigen wird, wie Kant zu diesem Substrat komme, ohne jenes Gesetz über seine Gränze auszudehnen, der wird Kant verstanden haben. – Kant stützt das Sittengesetz auf eine Thatsache (richtig, wenn es richtig verstanden wird) und seine Nachfolger glauben sich dadurch berechtiget, allenthalben, wo ihnen das Beweisen und Erklären etwas sauer ankommt zu einer Thatsache foi d’auteur ihre Zuflucht zu nehmen, ohne zu bedenken, daß das gleiche Recht auch ihren Gegnern zukommen müsse, und daß mithin jeder Unsinn aus irgend einer angeblichen Thatsache, für die kein weiterer Beweis gegeben wird, sondern bei der sich jeder auf sein Bewußtseyn beruft, bewiesen werden könne; ohne darthun zu können, warum sie mehr Glauben verlangen, als ihre Gegner. – Es giebt nur Eine ursprüngliche Thatsache des menschlichen Geistes, welche die allgemeine Philosophie, und die theoretische und praktische, ihre zwei Zweige begründet: Kant weiß sie gewiß, aber er hat sie nirgends gesagt; wer sie finden wird, wird Philosophie als Wissenschaft darstellen. Der Erfinder wird keiner von denen seyn, welche geeilt haben, ihr System nach dem Stu[/]dium der bloßen Kritik der reinen Vernunft abzuschließen; und ich fürchte, daß keiner von diesen ihn je verstehen wird.
Dies sind meine Hoffnungen und Erwartungen, theurer Freund, die ich aber in meiner Brust verschließe. Ich wünsche Ihnen und mir von Herzen Glück, daß wir weniger geeilt, und unsern Geist reifern Ueberzeugungen offen gelassen haben, und ich wünsche dasselbe jedem guten jungen Manne. Ich wünsche Ihnen sorgenfreie Muße, aus Liebe zu Ihnen, und aus Liebe zu der Wissenschaft. Mir ist die Aussicht zu Theil worden, ihr wenigstens noch einige Zeit in Ruhe zu widmen. Ich habe in Zürich mich mit einer Person verehlichet, die mich allen ihren Landsleuten vorzog, und mir bei unglaublichen Proben während einer dreijährigen weiten Entfernung unverbrüchliche Treue hielt; und so innig mir auch dieses moderne Abdera an sich selbst misfällt, so lebe ich doch durch eheliche Freundschaft und Wissenschaft mir selbst recht glückliche Tage, bis mein Schicksal anders über mich gebietet. Gewiß aber werde ich diese Muße nicht aufgeben, ohne ihr ein Denkmal gestiftet zu haben.
Seyn Sie versichert, daß ein fortgesetzter Briefwechsel mit Ihnen mir sehr viel Freude machen wird, und bleiben Sie der Freund
Ihres
wahren, hochachtungsvollen Freundes
Fichte.
Ich weiß Ihnen, würdigster, theuerster Freund, auf keine Ihrer würdigere Art für den gütigen Beweis Ihrer fortdauernden Freundschaft zu danken, als wenn ich Ihnen meine hohe Meinung von Ihrer reinen Wahrheitsliebe, und mein ungemeßnes Zutrauen zu dieser Ihrer Freundschaft durch die That zeige.
Ihre Abhandlung ist mir ein sehr aufmunternder Beweis Ihrer guten Meinung von meinen etwanigen Einsichten, da Sie durch dieselbe zeigen, daß Sie meinen 2. §. mit einer Aufmerksamkeit studirt, welche die Hoffnung, etwas darin zu finden, voraussetzt. Wenn der Inhalt desselben von einiger Bedeutung ist, so kann ich es Ihnen bezeugen, daß Sie den ersten Theil desselben, als so weit Ihre Abhandlung ihn begleitet, willig verstanden, und meisterhaft dargestellt haben. – Daß ein Sittengesetz a priori im Menschen sey, setzte ich mit allen bisherigen kritischen Philosophen, Kant selbst nicht ausgenommen, im zweiten Theile desselben, als Thatsache voraus, und beweise auf eine unter der Voraussetzung mir noch bis jetzt völlig evident scheinende Weise, daß dieses Gesetz sich nur an ein Vermögen, welches von einer Seite nothwendig bestimmt, und von der andern spontan sey, (und welches man Begehrungsvermögen, oder wie man sonst will, nennen kann,) sich richten könne. Weiter zurückgehen wollte und konnte ich damals nicht füglich. Der Grund, warum ich im ersten Theile des §. eine durchgeführte Erörterung des niedern Begehrungsvermögens gab, war der, um im dritten die Verbindung beider zur Hervorbringung eines Glaubens zu zeigen. Dieser Punkt scheint mir der wichtigste des §., und ich glaube, daß eine Darstellung der beiden übrigen Theile für den jetzigen Zustand der kritischen Philosophie nicht ohne Nutzen seyn würde.
In diesem Falle aber bediene ich mich der Erlaubniß, Sie, außer dem in Ihrem Schreiben selbst angemerkten Punkte, [/] noch auf einige andere aufmerksam zu machen, in denen Sie sich durch Reinhold, meiner Meinung nach, irre haben führen lassen. – „Die Form der Vernunft besteht in der absoluten Einheit“ ist an sich wohl richtig; aber daß sie in der Hervorbringung derselben bestehe, gilt nur vom Vorstellungsvermögen. Ueberdies ist die Einheit gar mancherlei: bei’m Vorstellungsvermögen eine synthetische, bei der praktischen Vernunft blos eine formelle, die dem Widerspruche entgegengesetzt ist. – Sie beziehe[n] sich S. 50 auf die Operationen (die überhaupt nur empirisch vorgestellt werden) der Vernunft als vorstellenden Vermögens; aber in sofern die Vernunft praktisch ist, ist sie schlechterdings nicht vorstellend, sondern das gerade Gegentheil davon. – Zu der Misdeutung, daß man, um das Sittengesetz von Seiten seiner Allgemeinheit zu unterscheiden, dasselbe in Anwendung auf alle vernünftige Wesen denken müsse, hat freilich Kant selbst den Anlaß gegeben; aber es sollte ihm nur ein empirisches Prüfungsmittel bedeuten; und keinen transcendentalen Charakter des Sittengesetzes. Die reine Philosophie weiß nur von Einem Ich; und dieses Eine Ich soll mit sich selbst nicht im Widerspruche stehen. – Kategorische Imperativen, in der mehrern Zahl giebt es nicht, sondern nur Einen. – Verzeihen Sie diese Erinnerungen; und Sie werden sie mir gewiß verzeihen, wenn Sie weiter lesen.
Für den jetzigen Zustand der kritischen Philosophie, sagte ich oben, und nun mein aufrichtiges Bekenntniß, welches ich Ihnen unter vier Augen thue, daß ich mit demselben schlecht zufrieden bin. Meiner innigen Ueberzeugung nach hat Kant die Wahrheit blos angedeutet, aber weder dargestellt, noch bewiesen. Dieser wunderbare, einzige Mann hat entweder ein Divinations=Vermögen der Wahrheit, ohne sich ihrer Gründe selbst bewußt zu seyn; oder er hat sein Zeitalter nicht hoch genug geschätzt, um sie ihm mitzutheilen; oder er hat sich gescheut, [/] bei seinem Leben die übermenschliche Verehrung an sich zu reißen, die ihm über kurz oder lang doch noch zu Theil werden mußte. Noch keiner hat ihn verstanden; die es am meisten glauben, am wenigsten; keiner wird ihn verstehen, der nicht auf seinem eignen Wege zu Kant’s Resultaten kommen wird, und dann wird die Welt erst staunen. – Nur ein Paar Proben! – Erfahrung ist, sagt Kant, und baut auf diesen Satz einen Beweis, daß Erfahrung nicht möglich ist. Wer durch Erklärung der zwiefachen Bedeutung dieses Worts bei Kant diesen Widerspruch lösen wird, der wird mehr finden als er glaubte. Kant’s Nachfolger aber dachten, sie müssen nur beweisen, daß Erfahrung wirklich sey. – Kant beweist, daß der Grundsatz der Kausalität blos auf Erscheinungen anwendbar sey, und nimmt dennoch ein Substratum aller Erscheinungen an; – ohne Zweifel vermöge dieses Gesetzes; wenigstens beweisen so seine Nachfolger. Wer uns zeigen wird, wie Kant zu diesem Substrat komme, ohne jenes Gesetz über seine Gränze auszudehnen, der wird Kant verstanden haben. – Kant stützt das Sittengesetz auf eine Thatsache (richtig, wenn es richtig verstanden wird) und seine Nachfolger glauben sich dadurch berechtiget, allenthalben, wo ihnen das Beweisen und Erklären etwas sauer ankommt zu einer Thatsache foi d’auteur ihre Zuflucht zu nehmen, ohne zu bedenken, daß das gleiche Recht auch ihren Gegnern zukommen müsse, und daß mithin jeder Unsinn aus irgend einer angeblichen Thatsache, für die kein weiterer Beweis gegeben wird, sondern bei der sich jeder auf sein Bewußtseyn beruft, bewiesen werden könne; ohne darthun zu können, warum sie mehr Glauben verlangen, als ihre Gegner. – Es giebt nur Eine ursprüngliche Thatsache des menschlichen Geistes, welche die allgemeine Philosophie, und die theoretische und praktische, ihre zwei Zweige begründet: Kant weiß sie gewiß, aber er hat sie nirgends gesagt; wer sie finden wird, wird Philosophie als Wissenschaft darstellen. Der Erfinder wird keiner von denen seyn, welche geeilt haben, ihr System nach dem Stu[/]dium der bloßen Kritik der reinen Vernunft abzuschließen; und ich fürchte, daß keiner von diesen ihn je verstehen wird.
Dies sind meine Hoffnungen und Erwartungen, theurer Freund, die ich aber in meiner Brust verschließe. Ich wünsche Ihnen und mir von Herzen Glück, daß wir weniger geeilt, und unsern Geist reifern Ueberzeugungen offen gelassen haben, und ich wünsche dasselbe jedem guten jungen Manne. Ich wünsche Ihnen sorgenfreie Muße, aus Liebe zu Ihnen, und aus Liebe zu der Wissenschaft. Mir ist die Aussicht zu Theil worden, ihr wenigstens noch einige Zeit in Ruhe zu widmen. Ich habe in Zürich mich mit einer Person verehlichet, die mich allen ihren Landsleuten vorzog, und mir bei unglaublichen Proben während einer dreijährigen weiten Entfernung unverbrüchliche Treue hielt; und so innig mir auch dieses moderne Abdera an sich selbst misfällt, so lebe ich doch durch eheliche Freundschaft und Wissenschaft mir selbst recht glückliche Tage, bis mein Schicksal anders über mich gebietet. Gewiß aber werde ich diese Muße nicht aufgeben, ohne ihr ein Denkmal gestiftet zu haben.
Seyn Sie versichert, daß ein fortgesetzter Briefwechsel mit Ihnen mir sehr viel Freude machen wird, und bleiben Sie der Freund
Ihres
wahren, hochachtungsvollen Freundes
Fichte.