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Friedrich Schleiermacher to Ehrenfried von Willich

Berlin d 11t. Aug. 1801
Ich wünsche lieber Freund daß es Dich nicht beunruhigt haben möge so lange nichts von mir zu hören vornemlich nach einer Mittheilung wie Deine lezte. Auch ich bin ein Paar Wochen verreist gewesen konnte vor meiner Abreise wo sich die Arbeiten sehr gehäuft hatten nicht dazu kommen Dir noch zu schreiben, während meiner Abwesenheit unterblieb es leider auch, bei meiner Zurükkunft fand ich Deinen Brief, und obgleich das schon Acht Tage her ist, so habe ich noch nicht die Ruhe gefunden Dir zu antworten.
Wie sehr mich die ofne und freie Darlegung Deines Innern in diesem wichtigen Punkt gefreut hat, mußt Du wissen. Du mußt aber auch wissen, daß das ganze Verhältniß selbst mich mit einer gewissen Sorge erfüllen muß, und diese will ich Dir jezt eben so offen darlegen. Wenn es in Eurer Liebe nur Störungen gäbe, wie Du es nennst, zufällige Widrigkeiten innerhalb ihres Gebiets, so würde ich mich sehr sorglos einer reinen Freude über Euer Glük überlassen, mir erscheint aber das, worüber Du klagst, als eine absolute und vielfach verschlungne Begränzung des Ganzen, das ganze Verhältniß als von einem argen Mißverhältniß aufs innigste durchdrungen, und darüber klage ich in meinem Innern als über etwas was nicht sein sollte. Vor Dir steht die Nothwendigkeit einen eignen Heerd, ein Weib und Kinder zu haben, und Du bist unstreitig ganz auf dem Wege der Natur indem Du dieses forderst, Du siehst | mit einer für mich schreklichen Klarheit daß aus Deinem jezigen Verhältniß die Erfüllung dieser Forderung nicht hervorgehen kann: aber ist es die rechte Auflösung dieses Widerstreits daß Du nun dieses Verhältniß als etwas vorübergehendes behandelst? Jene Ueberzeugung wäre eine blosse Störung; dieser Entschluß erzeugt eigentlich das Mißverhältniß. Mein Verhältniß ist in Hinsicht auf den äußern Ausgang dem Deinigen ähnlicher als Du denkst. Werde ich auch einmal mit Eleonoren vereinigt so ist doch die eine Hälfte der Aussicht auf das natürliche Glük so gut als verloren; sie ist in einer fünfjährigen Ehe kinderlos geblieben, und ich wüßte nicht was mich beruhigen sollte in ihren späteren Jahren etwas besseres zu erwarten. Aber auch jene Vereinigung selbst ist gar sehr zweifelhaft; ob Eleonore sich je von ihrem Gatten trennen wird das hängt von Umständen ab die wir beide nicht leiten können und von ihrer Art sie zu beurtheilen und zu behandeln wobei ich mir keine Stimme anmaße. Ich habe aber gerade den umgekehrten Weg ergriffen und die Forderung der Natur dem Verhältniß in welches ich mit ganzer Seele eingegangen bin und in dem ich allein lebe absolut untergeordnet. Es ist mir ein ganz fester und gewohnter Gedanke daß ich wenn ich Eleonoren nicht besize eben kein Weib und keine Kinder haben werde, und damit Du nicht etwa glaubst ich rechne mir das als etwas großes an, als einen Sieg der Pflicht gegen die Geliebte meines Herzens über die Stimme der Natur, als eine mühsam errungene Resignation, so gestehe ich Dir daß mir dabei weder von Pflicht noch von Resignation jemals etwas eingefallen ist, sondern daß dies das ganz natürliche Produkt meiner Denkart und meiner Empfindung ist. Fragst Du nun aus Deinem Standpunkt, was mich denn berechtiget hat wenn kein | Gedanke an Pflicht im Spiel gewesen ist mich über die Forderungen der Natur hinwegzusezen, so muß ich Dich in meine ganze Ansicht des Menschen hineinführen. Die menschliche Natur ist etwas ganz unendliches und unbestimmtes, und nur eine bestimmte Gestalt derselben in einem gegebenen Zeitalter und Volk hat eigentlich Anforderungen an den Menschen. Das fortschreitende revolutionirende Princip unseres Zeitalters ist der romantische Geist, das negative obsolescirende ist die barbarische Form. Die Forderung der Natur an einen gebildeten Menschen ist also nicht die absolute er soll eine Ehe haben, sondern die bedingte er soll eine romantische, mit Liebe anfangende und auf Liebe gegründete Ehe haben. Es ist also recht mit der Liebe anzufangen – wird man nun mit dieser in jenen Streit zwischen dem Geist des Zeitalters und seiner Form verwikelt, oder findet man sie schon in diesem Streit, so muß man es lediglich diesem Lauf der Dinge überlassen ob er sich zum Vortheil der Naturforderung lösen wird oder nicht und erreicht man sie nicht, so ist es lediglich die Schuld des Zeitalters das heißt der Natur selbst. – Du kennst mich genug um zu wissen daß ich nicht nach diesem todten Buchstaben und diesen philosophirenden Ideen mein Betragen erst abgemessen habe, sondern daß sie nur die Reflexion über den natürlichen Gang meines Handelns sind, nur Zeichen durch deren Hülfe Du Dir mein inneres Leben abbilden sollst, mein Leben in und mit dem Ganzen und seiner gegenwärtigen Mischung, die ich bis auf die Hefen, diese mit eingeschlossen in mich aufgenommen habe. Das lezte Bild was Dir vorschweben soll ist dieses. Wir sind beide in dem Fall gewesen unsere Liebe im Streit mit der äußeren barbarischen Form der geselligen Verhältnisse zu finden. Mein herrschendes und leitendes Gefühl ist dieses gewesen: die höhere Gabe des Geistes, die Liebe, unbekümmert um den äußern Ausgang festzuhalten; ich fühlte und fühle noch mit meiner Liebe zugleich ihre Ewigkeit, und es kann kein Gedanke | in mir aufkommen die Gaben der Natur in einem andern Verhältniß welches ohne Liebe sein müßte suchen zu wollen oder finden zu können. Dir ist es entgegengesezt ergangen. Dein Sinn war und ist lediglich darauf gerichtet die Bestimmung der Natur zu erreichen, und weil Du Deine Liebe der äußern Verhältnisse wegen im Streit mit dieser Forderung fandest, hast Du sie nur als eine Episode behandelt. Meine Ansicht ist nun daß hierin etwas unrechtes liegt weil es Dich selbst in Widerspruch sezt und Du in diesen Widerspruch noch das innere Leben eines andern Wesens versezest. – Liebe kann vielleicht in manchen Gemüthern wirklich etwas vorübergehendes sein ohne daß sie es wissen, aber sie wissend und überlegend als etwas vorübergehendes zu behandeln, das ist etwas heilloses. Bei der Lebendigkeit mit welcher Dir vorschwebt daß Du einst eine andere lieben wirst ist ganz unvermeidlich daß Du in einem beständigen Suchen dieser andern begriffen sein mußt, und daß Du also Deine Liebe immer abwechselnd sezest und aufhebst. Wäre das nicht, so würdest Du auch nicht im Stande sein Dir vorzustellen, wie Du sie einst wirst abbrechen können, dieses ist die Quelle und die wahre Beschaffenheit des Wechsels Deiner Gefühle, und auch der Art wie Dein Interesse an jungen Mädchen sich modificirt. Ich könnte Dich hier noch mehr ins Einzelne führen, wenn ich nicht glaubte daß Du das eben so gut selbst verrichten kannst. Dies ist Dein Widerspruch mit Dir selbst. Und diesen Widerspruch muß [unsre Johanna] in sich nachbilden; sie muß Dich immer schon als ein fremdes Gut ansehn, und aus Liebe zu Dir ihre Liebe immer noch aufzuheben suchen um auch ihrerseits die Ausführung Deines Entschlußes vorzubereiten und zu erleichtern. Du hast ihr Deinen Widerspruch und also auch die Nothwendigkeit dieses Widerspruches für sie gezeigt. Das ist redlich und lobenswerth und ich liebe Dich darum aufs Neue gar sehr. Aber wenn es ihr nun an genauer Einsicht fehlt um diesen Widerspruch freiwillig zu beschließen oder an irgend einer Kraft um ihn fortdauernd auszuhalten – und dies kannst Du ihr weder geben noch sichern –: so wird es von Dir ein unverzeihlicher Egoismus wenn Du Deinen Weg fortgehst. | Findest Du nun die, welcher Du Dich ganz hingeben kannst, und mit der Du Dein Leben theilen willst, so wird Dir die Verwandlung Deiner Empfindung gegen sie ein Leichtes sein, weil diese Empfindung schon immer zwischen Sein und Nichtsein geschwebt hat – aber sie soll dann auf einmal abbrechen und aus sich herausreißen was sie bisher ungestört gewähren ließ, und in ihr selbst wird kein Grund dazu vorhanden sein, sondern bloß in Dir. Ist das nicht Egoismus? und ist nicht – mir wenigstens scheint es so aus allem was Du sagst – Dein Verhältniß auf dem Wege Dir diesen Egoismus aufzudringen?
Ich kann über diesen Theil des Ganzen um so besser urtheilen da ich eigne Erfahrung davon habe, und meine Mißbilligung um so unbefangener aussprechen da sie gewissermaßen auch über mich selbst ergeht – nemlich nicht etwa in Beziehung auf mein jeziges, sondern auf ein früheres Verhältniß. Es drängt mich mancherlei Dir dieses auch zu erzählen. Vor nun beinahe Acht Jahren kam ich in nahe häusliche Verbindung mit einer Frau die mir nahe verwandt ist, und die ich schon einige Jahre früher wiewol nur oberflächlich kennen gelernt hatte. Bei einer artigen und sehr einnehmenden Gestalt hatte sie soviel Bildung und Welt als sie sich selbst in der sogenannten guten Gesellschaft einer kleinen Stadt hatte geben können aber viel innere Rohheit. Ihr moralisches Wesen hatte gar nicht aufkommen können bei einer barbarischen strengen nachläßigen früh mutterlosen Erziehung, in der ruchlosesten kleinen Stadt die ich kenne in einer Ehe die keine hätte sein sollen, weil sie moralisch keine war und physisch keine sein konnte. Unter diesen Umständen hatte sie leicht Veranlassung gefunden und Entschuldigung für andere Verhältnisse und sie war unglüklicherweise zweimal an Männer gerathen, die sie durch Schönheit blendeten, durch Sonderbarkeit an sich zogen und durch den Anschein eines guten Herzens (dies war die einzige ihr bekannte moralische Größe) täuschten. Ich fand die zweite dieser Verbindungen innerlich schon aufgelöst, sie hatte aber nicht den Muth sie auch äußerlich abzubrechen und sich von einem Elenden zu trennen den sie schon lange verachtete aber dessen Rache sie fürchtete. Ich konnte ihr hierin nüzlich sein und etwas beitragen sie von ihrem Tyrannen zu befreien. Ich war gradehin der erste in einem höheren Sinn gebildete und moralische Mensch den sie kennen lernte und es freute mich zu sehn | daß diese neue Erscheinung einen großen Eindruk auf sie machte. Sie war mir in jeder Rüksicht die nächste und es war mein Beruf auf sie zu wirken, ich sah daher ihre Achtung und Freundschaft mit Freuden zunehmen: aber ich ließ es mir auch gefallen, daß die Sinnlichkeit sich mit hineinmischte, und daß ihre Freundschaft sich in die zärtlichste Anhänglichkeit und bald in eine starke Leidenschaft verwandelte. Das ist es worüber ich mich anklage und was ich hätte verhüten sollen. Ich konnte bei dieser moralischen Ungleichheit ihre Liebe in diesem Sinne nicht erwiedern, und an eine gänzliche Verbindung, an eine Theilung des Herzens und des Lebens war gar nicht zu denken. Ich rechtfertigte mich bei mir selbst damit, daß ohne dieses Bindungsmittel es um meine Wirksamkeit auf sie bald geschehen sein würde, und daß bei einem noch so leidenschaftlichen Gemüth jede Zurükstoßung stärker wirken müßte als Alles was sie nöthigte mich zu achten und zu lieben. Ich weiß indeß wohl daß dies nicht mein einziger Grund war, und daß ich wohl einen Mittelweg gefunden haben würde wenn nicht die Eitelkeit und die Eigenliebe gewesen wäre die uns so selten erlaubt dargebotene Liebe von der Hand zu weisen. Dabei war ich aber aus jenem ersten Grunde nicht so offenherzig als Du, sie auf die Ungleichheit unserer Empfindungen gegen einander und auf die Unmöglichkeit einer dauernden innigen Verbindung geradezu aufmerksam zu machen; ich fühlte daß dies meinen Zwek zerstören würde, und es schien mir in diesem Verhältniß eine Härte und eine unnüze Härte zu sein. Für diese Unterlaßung gab es mancherlei Gründe die eben in dem Unterschiede dieses Verhältnißes und des Deinigen liegen. Sie durfte an eine Trennung von ihrem Gatten, dem sie große Dankbarkeit schuldig ist, und den sie nach und nach von mancher Seite achten lernte, gar nicht denken; der natürlichen Ordnung der Dinge nach konnte ich nur ein Paar Jahr in ihrer Nähe sein, und ich sagte deutlich daß die Sorge für meine fortschreitende Bildung mir nicht erlauben würde etwas zu thun um diese Trennung zu hindern[;] ich wußte, daß sie in dieser Zeit noch nicht so weit gekommen sein würde sich über das Bedürfniß sich an einen gegenwärtigen | Freund anzuschließen zu erheben, und daß sie zwar an mir immer mit Achtung und Freundschaft hängen, nach meiner Entfernung aber ihre Liebe gewiß früher oder später einem Andern zuwenden würde, und halb Scherz halb Ernst weissagte ich ihr das öfters. Und dies lieber Freund ist eben der eigentliche Differenzpunkt. Könntest Du Deiner Johanna ebenfalls diese Art von Leichtsinn oder Wankelmuth zutrauen, so wäre es verzeihlich Liebe zu nehmen und zu geben, das gleiche Ende auf beiden Seiten höbe das Unrecht und den Widerspruch – aber überflüßig wäre es wohl dann auch gewesen ihr, die diesen gleichen Ausgang nicht sieht jenen Widerspruch zu zeigen. Ist es aber zwischen Euch ganz anders, und hast Du, wie ich glaube, Ursach sie für ein festes und treues Gemüth zu halten, so bist Du in großem Unrecht gegen sie mit dieser beschloßnen Übertragung Deiner Liebe an eine andere während sie die ihrige alsdann entweder einseitig und vergeblich nähren oder gewaltsam und ohne Ersatz ertödten soll. – Dies lieber Freund ist meine Ansicht von der Sache. Deinen Brief unserer Jette mitzutheilen habe ich gar kein Bedenken getragen da ich gar kein schädliches Mißverstehen besorgen durfte, und sie die Sache größtentheils schon eben so gesehen hatte wie Du sie vorträgst. Ich hoffe es wird Dich freuen wenn sie auch aus ihrem Gesichtspunkt mit Dir darüber redet.
Meine lezte Reise ist eben zu jener Freundin gegangen, und ich bin über die Art, wie meine Weissagung erfüllt ist im Ganzen recht zufrieden. Es liebt sie nun ein rechtlicher braver und lieber Mann; freilich steht sie jezt in Bildung und Sittlichkeit über ihm, und umgekehrt wäre für ihr Fortschreiten immer noch besser: allein auf der andern Seite ist das ein billiger Ersaz und auch wohl die Ursach, daß sie ihn mit mehr Besonnenheit als Leidenschaft wieder liebt. Er dient wie in der alten romantischen Zeit und bittet sie seit mehr als drei Jahren vergeblich um völlige Gewährung, eben weil er auch eine Ehe will bei der Liebe und Kinder. Sie hat es über sich genommen ihm zu widerstehn, weil das sie leicht zu einer | Trennung von ihrem Gatten nöthigen könnte, welche sie absolut nicht will, und erklärt ihm, sie würde zufrieden sein wenn er die Gewährung seines Wunsches, wofern er könnte, anderswo fände, und dann nur ihr Freund bliebe. Da hast Du noch eine andere Modifikation eines ähnlichen Verhältnisses.
Ich bin Dir noch auf Deinen vorlezten Brief Erwiederung schuldig; aber Du siehst daß diese Epistel schon eine unendliche geworden ist. Du weißt daß ich mich mit allen Deinen Freuden freue; und ich sehe wenn Du erst zurük bist und der Muße mehr hast noch manchen Einzelnen Erzählungen von Deinem Aufenthalt auf Rügen verlangend entgegen. Daß ich auch unter den dortigen Deinen lebe und ihnen etwas bin freut mich herzlich und giebt mir ein schönes und erweitertes Gefühl von mir selbst. Sage das ihnen allen, und wie lieb es mir sein wird immer noch mehr in Gemeinschaft mit ihnen zu kommen, und daß ich sie auch gewiß einmal sehn werde. – Und warum soll Louise mich nicht grüßen können grade wie es ihr zu Muthe ist? Wie hast Du ihr einen Zweifel daran übrig gelassen böser Freund!
Jette hat mir gestern schriftlich einen Gruß von Dir übermacht, ich werde heute mündlich von ihr hören was sie von Dir weiß und ob man Dir noch einmal nach Schwerinsburg schreiben kann, was ich dann gewiß bald thue. Für meine Gemeinschaft mit Johanna hab ich widrigen Wind, bald hat mich dies bald jenes abgehalten; ich hoffe sie zweifelt deshalb nicht an mir.
Adieu mein lieber theurer Freund und laß Dirs wohl gehen.
Schleiermacher
Der Brief ist nicht so lange unterwegens gewesen, sondern hat sich hier verspätet.
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  • Date: Dienstag, 11. August 1801
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Ehrenfried von Willich ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Prenzlau ·
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  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 5. Briefwechsel 1801‒1802 (Briefe 1005‒1245). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1999, S. 178‒184.

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