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Friedrich Heinrich Christian Schwarz to Friedrich Schleiermacher

Münster in Hessen unweit Giesen den 10ten Sept. – 1.
Ihre Predigten, liebster Schleiermacher, welche mir durch Ihre freundliche Gunst ein zwiefaches Geschenk geworden sind, habe ich schon einige Zeit in der Hand; aber sie wollen immer noch nicht so lange darin weilen, daß ich sie mit raubgierigen Rezensentenblicken durchlesen könnte, immer nimmt sie ein Freund wieder hinweg. Dadurch ist mir indessen auch die Freude geworden, mit mancher Seele darüber zu sprechen, und ich kann Ihnen kurz den allgemeinen Eindruck sagen, den sie auf uns (Sie fühlen hier die Bedeutung dieses herrlichen Wörtchens mit mir) gemacht haben. Die ersehnte Frömmigkeit haben Sie den aufgeklärten Guten unsers Zeitalters fromm ausgesprochen. Sie haben Sich die Herzen, welche Sie Sich schon erworben hatten, durch die Predigten noch mehr zu eigen gemacht, und – was mich noch beynahe mehr freut, – Sie gewinnen Sich noch mehrere; denn hier hört das polemische Gegenüberstellen auf, das in Ihren Reden das Treffliche dem Blicke desjenigen entziehen kann, der noch nicht die Anschauung Ihres Inneren gewonnen hat. Und die Andachtsübung, welche die Monologen dem höheren Denker gewähren, unterhalten Ihre Predigten dem gemeinen ja sie führen selbst den minder herzvollen Leser zu einer erhebenden Andacht hin. So ganz christlich bilden sie Christen. – Ich gebe Ihnen in diesen Worten, wie gesagt, einiges von dem allgemeinen Eindruck, den die Predigten auf uns gemacht haben. |
Auf einiges nur kann ich mich jetzt bestimmter einlassen, auf die 2 Predigten, die ich mit genauerer Aufmerksamkeit noch zur Zeit durchlesen habe. Die von der Gerechtigkeit Gottes enthält mir eine zum Teil neue Idee, denn es ist mehr darin, als die ehemalige (Leibnizisch-Wolfische) bonitas sapienter administrata, und doch ist die Vergeltung (talio), die unserm Herzen auch nach dem Kantischen Rigorismus immer wie ein böser Engel dastand, so ziemlich weggeschafft. Subjektiv bleibt sie zwar immer, und muß bleiben als Ansicht gerade für den Menschen, dessen strafbares (leeres) Innere ihm den Begriff von Strafe (im strengen Sinne) nothwendig macht; und das ist eben vortrefflich. Auch wird so die Gottheit mehr Eins – als Weisheit – ohne unter der Nemesis zu stehen, wie es Kant irgendwo (am Schluß seiner Moral oder Rechtslehre) ausdrücklich annimmt, und die precäre Annahme der Vergeltung (bloß um der Vergeltung willen), welche dem Moralbeweise fürs Daseyn Gottes in der ehemaligen Form zum Grunde lag, fällt durch diese höhere Ansicht weg; Sittlichkeit ist hier Ein und Alles – das Schicksal ist ihre unendliche Entwickelung. Aber bey meinen Freunden nehme ich doch immer noch hierin eine Partey gegen Sie, weil mir doch die allverbreitete Erscheinung der Rache in dem menschlichen Herzen einen tieferen Grund zu haben scheint, der nicht so leicht das Rächende in der höchsten Gerechtigkeit wegdenken läßt. Indessen nehme ich hier Partey zugleich gegen mein Herz, und darum vielleicht ist mirs noch nicht zum deutlichen Bewußtseyn gekommen, was sich gegen Ihre Idee aufsuchen ließe. Mehr einzuwenden habe ich mit meinen Freunden gegen einzelne Gedanken in Ihrer vortrefflichen Predigt über die Bereitwilligkeit anderen Rechenschaft zu geben. Sie werden diese Stellen errathen. Ich soll kein Geheimniß haben! – Nein, Freund, Sie lassen uns keinen Raum zur Freundschaft! – so sagte ich Ihnen lächelnd als ich jene Stellen las, und daran dachte, wie Sie von Fichte zu meiner Freude rügten, daß er keine Zeit dazu lasse. Hatte Jesus | unrecht, wenn er sogar zu seinen Vertrauten sprach: ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnts jetzt noch nicht tragen; und wenn er manches in sich verwahrte, weil es niemand verstand? Und wo ist der Mensch von Gemüth, der nicht manches in sich trägt, das kaum der versteht, welcher die vertrauteste Anschauung von seinem Innern hat? Ich legte jene Stellen einer Freundinn, die man Vorzugsweise die Gemüthvolle nennet, und deren reine Urtheile mir oft statt aller Demonstrationen dienen, zur Beurtheilung vor. Auch sie stimmte mir bey, und das war mir volle Bestätigung. Aber sie wieß mich darauf hin, auch Sie recht zu verstehen, indem sie Ihrem Vortrage die Auslegung gab, daß man nur wahr seyn solle; und so werde sich unser Geheimniß gerade dem mittheilen, der es zu wissen bedarf und der es versteht; es wird sich ihm nemlich andeuten, vielleicht nur durch ein einzelnes Wort, und so wie die Natur zu dem spricht, der Sinn für sie hat, während Tausend ihre laute Sprache nicht vernehmen, so wird sich dann belehrend unser Inneres dem aufschließen, der es werth ist zu sehen – und wer etwas anders als das Höchste der Menschheit sehen will, dem sey es verschlossen. Mir fielen die Worte Jesu ein: wer Ohren hat zu hören, der höre! Sie müssen dabey bemerken, daß diese Freundin, welche in ihrer Weiblichkeit einen vollkommenen Gegensatz gegen das Philosophiren (Vernunftarbeiten) bildet, Ihre Monologen mit einem Symphilosophiren gelesen hat, wie vielleicht kaum einer Ihrer Freunde, und bey dem Lesen Ihrer Predigten ausrief: das Buch muß ich ja lesen, das ist so wie ich es gerne habe – nicht so wie andere Bücher; die aber nun nichts von Ihnen lesen mag, was Andere auch sagen könnten z. B. allgemeine Wahrheiten. Übrigens ist es uns bey jenen Äußerungen über Geheimniße vorgekommen, daß Sie noch nicht alle Erfahrungen des Menschenlebens in Ihrem Gemüthe, das die bessere Welt in sich trägt, aufgeschlossen haben – sonst, meynen | wir, hätten Sie Einiges (nur Weniges) anders gesagt. – Was Sie über Erziehung gelegentlich einfließen lassen, stimmt so ganz mit meinen Grundsätzen überein, daß ich es in meinen nächsten literärischen Erziehungssachen zu sagen mir schon vorgenommen hatte; ich meyne nemlich den Gedanken von der Verwerflichkeit eines Vorbereitens, worüber die Gegenwart verlohren geht. Die Erziehung geht auf das Ganze des menschlichen Werdens und auf seine kleinsten Elemente der Zeitteilchen, so daß in dem Kinde jeder Augenblick eben so gut dem Genius heilig seyn soll, als in dem Greise. Wenn wir tiefer in die Kunst der Künste, die Menschenbildung, eindringen, so wird sich gewiß ergeben, daß durch den besten Gebrauch des Jetzt, so daß nemlich der Mensch (das Kind, der Knabe pp) sich selbst darin ganz hat, die beste Ausbildung für die Zukunft gewonnen wird; diese tieferen Einsichten werden zugleich die Weisheit des Lebens enthüllen, eines Lebens, in welchem sich ein strenger Kantianer und ein Friedrich Schlegel besser verstehen und gefallen werden. Dieß ist der Stein der Weisen, woran wir suchen. – Sie haben mir noch Vieles versprochen, bester Mann; eine Zeile von Ihnen ist mir schon Vieles: wie sehr viel darf ich also erwarten! Aber darf ich Sie freundlich erinnern, daß Sie mich zu lange warten lassen, z. B. auf die Beyträge zur Gieser Bibliothek – ? Aber vielleicht bin ich schuld daran da ich Sie auf diesen Brief, der Ihnen den richtigen Empfang Ihrer Predigten versicherte, zu lange warten ließ. Noch lieber wäre mir es, wenn die Erfüllung meines Wunsches durch Arbeiten, womit Sie dem Publikum neue Geschenke zubereiten, gehindert worden. So viel weiß ich, daß Sie auch mich bedenken, als einen derjenigen der Sie innigst liebt und verehrt, und Ihnen darum gerne nahe ist.
Schwarz.
Metadata Concerning Header
  • Date: Donnerstag, 10. September 1801
  • Sender: Friedrich Heinrich Christian Schwarz ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Münster (Butzbach) ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 5. Briefwechsel 1801‒1802 (Briefe 1005‒1245). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1999, S. 195‒200.

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