Gnadenfrei d 30t April 2
Als ich mich Gestern entschließen mußte noch einige Tage länger hierzubleiben als ich ursprünglich gewollt hatte war das erste was mir einfiel, daß ich alsdann Sie vor der Hand nicht mehr sehen würde, und unter diesen Umständen kann ich es mir nicht versagen Ihnen wenigstens ein Paar Worte zu schreiben. Auch Schlegel und seine Frau finde ich wahrscheinlich nicht mehr; indeß das sehe ich nur aus dem Gesichtspunkt an, daß es mir ein Abschiednehmen erspart. Ich befinde mich hier sehr wohl bei einer zärtlich geliebten Schwester, in einer herrlichen Gegend unter den wunderbaren Eindrüken einer früheren Lebenszeit. Es giebt keinen Ort, der so wie dieser die lebendige Erinnerung an den ganzen Gang meines Geistes begünstigte von dem ersten Erwachen des Besseren an bis auf den Punkt, wo ich jezt stehe. Hier ging mir zuerst das Bewußtsein auf von dem Verhältniß des Menschen zu einer höheren Welt, freilich in einer kleinlichen Gestalt, wie man sagt, daß auch Geister oft als Kinder und Zwerge erscheinen aber es sind doch Geister und für das wesentliche ist es einerlei. Hier entwikelte sich zuerst die mystische Anlage die mir so wesentlich ist, und mich unter allen Stürmen des Skepticismus erhalten und gerettet hat. Damals keimte sie auf, jezt ist sie ausgebildet, und ich kann sagen daß ich nach Allem wieder ein Herrnhuter geworden bin nur von einer höheren Ordnung. Sie können denken wie lebendig, und in mir selbst ich hier lebe. Dabei habe ich eine Schwester hier, die ich herzlich liebe und mit der ich beständig in einem sehr ofnen und tief eingreifenden Briefwechsel stehe. Da ist es denn ein herrlicher Genuß einmal anzuschauen und unmittelbar zu genießen, was man seit 6 Jahren durch Buchstaben geredet und erfahren hat.
So geht es mir lieber Freund. Was mögen Sie indeß gemacht haben? Ist Ihnen Heinrichs Gegen | wart recht erfreulich und ihm recht nüzlich gewesen?
Hätte ich gewußt daß ich Sie so lange nicht sehn würde so hätte ich Sie gleich gebeten mir einmal zu schreiben jezt ist es zu spät dazu, und in Leipzig, das weiß ich wohl giebt es keine Zeit. Kommen Sie nur so bald es sich thun läßt aus Leipzig zurük, denn bei meiner Abreise aus Berlin am 31ten Mai muß es bleiben und dann wollen wir uns auf Rügen freuen. – Den Afterdingen werde ich wohl fertig finden, nicht wahr?
Grüßen Sie Minchen und Ludchen. Sonntag den 9ten komme ich an, und sie sollen nur sehen wie bald ich sie heimsuchen werde. Adieu lieber Freund, es ist die höchste Zeit daß ich die Briefe siegle, welche noch zur Post sollen.
Schleiermacher
Als ich mich Gestern entschließen mußte noch einige Tage länger hierzubleiben als ich ursprünglich gewollt hatte war das erste was mir einfiel, daß ich alsdann Sie vor der Hand nicht mehr sehen würde, und unter diesen Umständen kann ich es mir nicht versagen Ihnen wenigstens ein Paar Worte zu schreiben. Auch Schlegel und seine Frau finde ich wahrscheinlich nicht mehr; indeß das sehe ich nur aus dem Gesichtspunkt an, daß es mir ein Abschiednehmen erspart. Ich befinde mich hier sehr wohl bei einer zärtlich geliebten Schwester, in einer herrlichen Gegend unter den wunderbaren Eindrüken einer früheren Lebenszeit. Es giebt keinen Ort, der so wie dieser die lebendige Erinnerung an den ganzen Gang meines Geistes begünstigte von dem ersten Erwachen des Besseren an bis auf den Punkt, wo ich jezt stehe. Hier ging mir zuerst das Bewußtsein auf von dem Verhältniß des Menschen zu einer höheren Welt, freilich in einer kleinlichen Gestalt, wie man sagt, daß auch Geister oft als Kinder und Zwerge erscheinen aber es sind doch Geister und für das wesentliche ist es einerlei. Hier entwikelte sich zuerst die mystische Anlage die mir so wesentlich ist, und mich unter allen Stürmen des Skepticismus erhalten und gerettet hat. Damals keimte sie auf, jezt ist sie ausgebildet, und ich kann sagen daß ich nach Allem wieder ein Herrnhuter geworden bin nur von einer höheren Ordnung. Sie können denken wie lebendig, und in mir selbst ich hier lebe. Dabei habe ich eine Schwester hier, die ich herzlich liebe und mit der ich beständig in einem sehr ofnen und tief eingreifenden Briefwechsel stehe. Da ist es denn ein herrlicher Genuß einmal anzuschauen und unmittelbar zu genießen, was man seit 6 Jahren durch Buchstaben geredet und erfahren hat.
So geht es mir lieber Freund. Was mögen Sie indeß gemacht haben? Ist Ihnen Heinrichs Gegen | wart recht erfreulich und ihm recht nüzlich gewesen?
Hätte ich gewußt daß ich Sie so lange nicht sehn würde so hätte ich Sie gleich gebeten mir einmal zu schreiben jezt ist es zu spät dazu, und in Leipzig, das weiß ich wohl giebt es keine Zeit. Kommen Sie nur so bald es sich thun läßt aus Leipzig zurük, denn bei meiner Abreise aus Berlin am 31ten Mai muß es bleiben und dann wollen wir uns auf Rügen freuen. – Den Afterdingen werde ich wohl fertig finden, nicht wahr?
Grüßen Sie Minchen und Ludchen. Sonntag den 9ten komme ich an, und sie sollen nur sehen wie bald ich sie heimsuchen werde. Adieu lieber Freund, es ist die höchste Zeit daß ich die Briefe siegle, welche noch zur Post sollen.
Schleiermacher