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Friedrich Schleiermacher to Eleonore Christiane Grunow

Laß mich Dir von einer einsamen halben Stunde reden, die ich diesen Abend gehabt. Lotte verließ mich um sieben Uhr um noch einer gottesdienstlichen Versammlung beizuwohnen; ich ging hinaus um nochdes schönen Abends zu genießen. Ein kleiner Berg, nenne ihn nur einen Hügel, dicht hinter Gnadenfrei, die Kuppe mit mäßigem Gebüsch bewachsen, in welchem Spatziergänge ausgehauen sind, war mein Ziel. Er ist der nächste an der Ebene und gewährt also eine herrliche Aussicht nach dem Gebirge hin. Die Gegend beschreibe ich Dir nicht, denn ich will nur von meinen Empfindungen reden. Nur dieses. Ich sah in das Schweidnitzer Thal hinein, zunächst Reichenbach, wo ich Morgen Abend sein soll, und dann gewiß noch vier Meilen meines Rückweges, denn ich sah noch weit hinter den Thürmen von Schweidnitz weg. Im tiefsten Hintergründe sah ich, so hell war der Abend, mit bloßen Augen die Schneekoppe, den Schlußstein des Vaterlandes, vor mir, jenseits des Peiler Grundes den Fischerberg, wo mein Vater einige Jahre vor meiner Geburt in Lebensgefahr war, die Trümmer einer feindlichen Kanonenkugel zerschmetterten die Trommel hinter der er das Morgengebet vor der Schlacht hielt. Die Sonne war im Begriff hinter den Vorgebirgen der Eule unterzusinken und ich setzte mich unter eine vom Abendwind durchsäuselte Birke, um dieses schöne Schauspiel anzusehen. Als der untere Rand der Scheibe beinahe den Rücken der Gebirge berührte, verschwanden alle Stralen und ich konnte ungehindert den hellen Feuerball klar begränzt erblicken. So ging sie still und ruhig hinunter. Ich dachte an die Täuschung und ich glaubte nun die Erde sich wälzen zu sehen und das Rauschen der Berge zu hören, die sich nach und nach schwärzten und zusammenflossen, da ich vorher fast jede Schlucht hatte unterscheiden können. Unmittelbar nach dem Untergang der Sonne erhob sich hie und da eine Nachtigall. Erst gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Die Berge erinnern mich immer an die Geschichte der Welt. Ich dachte mir die ersten Ankömmlinge in diesem Paradiese, die damalige Oede, die jetzige Herrlichkeit, die verschiedensten Jahrhunderte und Zeiten schwebten mir vor, und was konnte ich thun, als Dich an meine Seite wünschen, um Dir Alles mitzutheilen was meine Seele bewegte. Da geschah es denn bald daß sich Alles in zwei Gefühle zusammendrängte: ich betete an und ich liebte, ich hätte vergehen mögen vor Andacht und Zärtlichkeit. Dich und meine gute Lotte wünschte ich an meine Seite, Jedes seine eigene Frömmigkeit im Herzen, Jedes gleich bewegt und Alle in Liebe vereinigt und umschlungen. Das Anbeten und die Liebe blieb; aber die Geschichte der Welt hatte Platz gemacht der Geschichte meiner Seele von den Kinderjahren an bis zu meiner heiligen und heiligenden Liebe zu Dir. So war ich aufgestanden und eilte unter dem Gesang der Nachtigallen und dem milden Glanze eines zarten Abendroths ohne Weg und Steg durch das Dickicht nach dem Gipfel des Hügels, wo einige steinerne Stufen die Aussicht über das Gebüsch begünstigen. Da hatte ich außer allem Vorigen noch zu meinen Füßen das heitere stille Gnadenfrei und hinter mir die Bergfestung Silberberg. Nur einmal schauderte ich bei dem Anblick der letzten. Es ging mir so durch Mark und Bein wie gewisse unangenehme Töne thun, die doch sonst nichts bedeuten. Und in der That bedeutete mir alles weltliche Thun und Treiben nichts in diesem Augenblick. Ich hatte nur den Einen Wunsch, Dir mein ganzes Wesen so zu genießen zu geben, wie ich es fühlte, in diesem Augenblick. Da durchdrang er mich so daß ich fühlte er sei ewig und Du werdest ihn genießen, aber an das Schreiben was ich jetzt thue dachte ich nicht. Ich glaube ich wußte kein einziges Wort. Selbst nicht Deinen Namen, denn ich sah Dein Bild und Deine ganze Seele. Ich ging durch das Dickicht den Berg hinunter am Rande eines erschöpften Steinbruchs vorbei, irrte noch ein paar Minuten auf einem Brachfelde umher bis ein paar Gesellschaften Gnadenfreier Knaben mich vertrieben, die hierher spatzieren geführt wurden. Ich schlug den Weg nach dem Gottesacker ein, und den Blick auf Gnadenfrei gerichtet dachte ich an das was ich Dir neulich schrieb, daß, wenn ich diese Gesellschaft idealisiren könnte, ich nirgends lieber mit Dir leben möchte. Ich malte mir alle Reize der großen Welt vor, und weil so viel Wahrheit in mir war, alles was meiner Eitelkeit schmeichelt, aber ich fühlte doch, daß ich mir und Dir nicht gelogen hatte. Ich dachte an Jette, und mir war als müßte ihr auch wohl sein in einem solchen Leben. Der Gottesacker liegt auch am Abhange eines Hügels, von einer Buchenhecke eingefaßt und mit mehreren Reihen von Bäumen bepflanzt die aber doch zwischen den Menschengebeinen nicht recht das Herz haben zu gedeihen. Auf der einen Seite liegen die Schwestern, auf der anderen die Brüder, eben wie sie im Betsaal sitzen. Jedes Grab hat einen Leichenstein, der aber keine Recension enthält, sondern nur eine Anzeige. Lächeln mußt’ ich über die größeren adlichen Steine. Ich idealisirte mir die Menschen nicht, die es nun bis hierher gebracht hatten, ungebildet, beschränkt, vom Universum wenig wissend und bei dem Aufsuchen des Göttlichen und Ungöttlichen nur in das kleinste Detail der menschlichen Seele hineingehend. So sind gewiß die Meisten gewesen, aber sie trugen doch das Ewige im Herzen, sie hatten doch den Sinn der die Welt zusammenhält, und wenn sie auch viel Gutes nicht kannten, und es vielleicht schüchtern verworfen hätten, so würden sie doch kein Böses geliebt haben. Friede mit ihnen, dachte ich, sie mögen jetzt mehr wissen und besser sein, und so ging ich zwischen den Gräbern hindurch. Vom Gottesacker führt eine schöne Lindenallee in den Ort hinein, fast auf meine Wohnung zu. Es schlug acht Uhr, ich setzte mich auf eine Bank in der Allee und wußte daß Lotte jetzt mit ihren Schwestern das Fußwaschen feierte. – Ich dachte bei dem schönen Symbol, in meiner Kirche dürfte es auch nicht fehlen – an die Demuth und an Dich. Ich will Dir auch die Füße waschen und Du sollst Dich dann herabbeugen und meine Stirne küssen.
Denke nicht daß ich dies unmittelbar nach meiner Rückkunft geschrieben. Ich habe erst die Zeitungen gelesen. Dann kam Lotte nachdem ich die ersten Zeilen geschrieben um mir noch gute Nacht zu sagen; die habe ich wieder nach Hause begleitet und dann gethan wie Du siehst.
Es ist mir alle Tage bange gewesen daß Du mir nicht geschrieben hast und daß ich auch durch Jette nichts von Dir erfahren habe.
Metadata Concerning Header
  • Date: Montag, 3. Mai 1802
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Eleonore Christiane Grunow ·
  • Place of Dispatch: Gnadenfrei ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 5. Briefwechsel 1801‒1802 (Briefe 1005‒1245). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1999, S. 394‒397.

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