[1] Braunschweig den 19ten Jan 1796 [Dienstag]
Ihr Brief erfüllt einen mir sehr angelegnen Wunsch, indem ich daraus erfahre, daß mein kritischer Versuch über die Gedichte in den Horen Ihnen und Ihrem edlen Freunde nicht misfallen hat. Nur Freymüthigkeit konnte meiner Beurtheilung einigen Werth geben, und doch war ich besorgt, sie so überlegnen Talenten gegenüber nicht ohne das Ansehen einer zu großen Zuversicht auf meine Einsichten behaupten zu können. Gern hätte ich Manches Gründlicher zu erschöpfen gesucht, wenn es die Gränzen einer Anzeige in der Litteratur-Zeitung erlaubt hätten. Um Raum zu sparen durfte ich keine einzelnen Stellen einrücken, über die ich noch vieles hätte bemerken mögen. Deswegen konnte ich auch nur die Resultate meiner metrischen und prosodischen Grundsätze ganz kurz zusammendrängen. Daß eine allzu gewissenhafte Beobachtung der Theorie in diesem Fache leicht zu undeutschen Wortfügungen und Allzu gelehrten Wortstellungen verleiten mag, wird allerdings durch manche Stellen in Klopstoks und Vossens Gedichten sehr anschaulich. Göthens Elegien möchten durch ein genaueres Studium, eben so wohl wie die Epigramme an dem Natürlichen des Tones eingebüßt haben, und für diesen Verlust könnte keine andre Schönheit entschädigen. Was die Theorie betrifft, so däucht mich, verdient alles, was Klopstok in der Gelehrten-Republik, den Fragmenten, den Grammatischen Gesprächen, und in einigen Aufsätzen von den ältern Ausgaben des Messias darüber geschrieben hat, eine prüfende Erwägung, wenn man auch nicht immer seiner Meynung beytreten kann. In der Ausführung seiner Grundsätze des Versbaues hat Voß doch in der Luise erstaunlich viel geleistet, wenn er nur nicht hier und da, mit den Spondäen zuviel künstelte. – Haben [2] Sie die von Klopstok übersetzten Fragmente aus alten Dichtern in den Grammatischen Gesprächen gelesen?
Der Plan meiner Briefe über Poësie pp führt mich darauf, über die prosodische Beschaffenheit unsrer Sprache, den Gebrauch der alten Metrik, und den Werth des Reimes einiges zu bemerken. Hier schicke ich Ihnen eine Fortsetzung davon: es würde mir lieb seyn, wenn sie zugleich mit dem dritten Briefe gedruckt werden könnte, dessen Lehren ich noch mehr zu bestimmen und aufzuklären gesucht habe. Der Wink, den Sie mir in Ihrem vorletzten Briefe gaben, ist für den Fortgang meiner Betrachtungen nicht unfruchtbar gewesen, wie ich hoffe.
Mit dem lebhaftesten Interesse, das nicht frey von Neubegier war, bin ich Ihrer Entwickelung der Begriffe vom Naïven und Sentimentalen gefolgt. Diese Ansichten sind so neu als reichhaltig an wichtigen Resultaten. Aber Sie haben vielleicht mehr Wahrheiten auf einmahl gesagt, als das Publikum oder wenigstens die Schriftsteller werden ertragen können. Über Klopstocks Muse ist gewiß noch nie etwas so treffendes und tief eingreifendes gesagt worden. Auch Rousseau ist wunderwürdig schön charakterisirt. Den Dante zählen Sie mit Recht in einer gewissen Hinsicht unter die Satyrischen Dichter, also unter eine Klasse der Sentimentalischen; doch glaube ich, in so fern er sich selbst schildert, muß er, wenn irgend einer von den Neuern, für einen Naïven Dichter gelten. Er scheint sich eben so wenig der Seltsamkeit als der Größe seines Charakters bewußt zu seyn. Übrigens könnte er auch als ein Beyspiel für Ihre Behauptung angeführt werden, daß streng wissenschaftliche Ausbildung dem Dichterischen Geiste nicht nachtheilig sey; denn er hatte [3] die höchste, die in seinem Zeitalter zu erreichen möglich war, ohne daß seine Originalität darunter gelitten hätte.
Ich verkenne gewiß weder den Werth der Eroberungen, die Sie auf dem Felde der Wissenschaft so glücklich für die Poesie gemacht haben, noch die vollkommnere Reife des Gedankengehalts in Ihren neuesten Gedichten; aber ich möchte Sie doch bitten, gegen den Sänger der Götter Griechenlands nicht ungerecht in Ihrem Urtheile zu seyn. Ja selbst in Ihren frühesten Liedern fand ich Anlage zu tiefem Sinn mit einem Reiz gepaart, den die rauhe Hülle und der herbe Ungestüm der Jugend nicht ganz vernichten konnte. Den Almanach habe ich seit etwa acht Tagen in die Hände bekommen, und er enthält so viel Schönes, daß ich sie mir alle zu Festtagen damit machen konnte, aber es noch nicht ruhig genug genoß, um im Einzelnen darüber reden zu können. Die unbeschreibliche Anmuth der letzten Stanzen ist mir am gegenwärtigsten. Wenn wir doch ein längeres Gedicht von Ihnen in diesem schönsten aller modernen Sylbenmaaße bekämen!
Wie freue ich mich, mein gütiger und edler Freund, auf den Zeitpunkt, wo ich Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen hoffen darf! Ich denke, einige Geschäfte, die ich erst noch zu Ende bringen muß, werden es mir in wenigen Monaten erlauben. Aus einem Worte Ihres Briefes schließe ich, daß Sie glauben, ich würde durch öffentlichen Unterricht im Fache der alten Litteratur in Jena am besten mein Glück machen. Sie war mein einziges Studium während des größten Theils meiner Akademischen Laufbahn; auch in Holland widmete ich ihr fast alle Muße die ich übrig behielt; ich würde mich gern wieder ganz hinein werfen. [4] Geschrieben habe ich freylich noch nichts in diesem Fache außer eine lat. Abhandlung über die Geographie Homers, womit ich in Göttingen in meinem ersten Universitätsjahre das Accessit erhielt. – Wäre es nöthig, so könnte ich mir ja auch in Jena die philosophische Mag. Würde ertheilen lassen. Sie erregen mir Hoffnungen, die mich sehr glücklich machen.
Vielleicht biete ich Ihnen schon für das Märzstück der Horen einen kleinen Aufsatz von anderm Inhalte an. Auch die Briefe werde ich fortfahren auszuarbeiten. Zu eignen Gedichten habe ich entweder noch nicht Begeisterung, oder nicht Muße genug gehabt.
Leben Sie recht und behalten Sie mich in wohlwollendem Andenken.
Ihr ergebenster
AWSchlegel
Wie verhält es sich in Ansehung des Honorars für die Beyträge zu den Horen. Hat man sich an den Verleger wegen ihrer Auszahlung zu wenden? Für die ersten, die ich geliefert, haben Sie schon die Güte gehabt, sie selbst an meinen Bruder in Dresden zu besorgen.
Ihr Brief erfüllt einen mir sehr angelegnen Wunsch, indem ich daraus erfahre, daß mein kritischer Versuch über die Gedichte in den Horen Ihnen und Ihrem edlen Freunde nicht misfallen hat. Nur Freymüthigkeit konnte meiner Beurtheilung einigen Werth geben, und doch war ich besorgt, sie so überlegnen Talenten gegenüber nicht ohne das Ansehen einer zu großen Zuversicht auf meine Einsichten behaupten zu können. Gern hätte ich Manches Gründlicher zu erschöpfen gesucht, wenn es die Gränzen einer Anzeige in der Litteratur-Zeitung erlaubt hätten. Um Raum zu sparen durfte ich keine einzelnen Stellen einrücken, über die ich noch vieles hätte bemerken mögen. Deswegen konnte ich auch nur die Resultate meiner metrischen und prosodischen Grundsätze ganz kurz zusammendrängen. Daß eine allzu gewissenhafte Beobachtung der Theorie in diesem Fache leicht zu undeutschen Wortfügungen und Allzu gelehrten Wortstellungen verleiten mag, wird allerdings durch manche Stellen in Klopstoks und Vossens Gedichten sehr anschaulich. Göthens Elegien möchten durch ein genaueres Studium, eben so wohl wie die Epigramme an dem Natürlichen des Tones eingebüßt haben, und für diesen Verlust könnte keine andre Schönheit entschädigen. Was die Theorie betrifft, so däucht mich, verdient alles, was Klopstok in der Gelehrten-Republik, den Fragmenten, den Grammatischen Gesprächen, und in einigen Aufsätzen von den ältern Ausgaben des Messias darüber geschrieben hat, eine prüfende Erwägung, wenn man auch nicht immer seiner Meynung beytreten kann. In der Ausführung seiner Grundsätze des Versbaues hat Voß doch in der Luise erstaunlich viel geleistet, wenn er nur nicht hier und da, mit den Spondäen zuviel künstelte. – Haben [2] Sie die von Klopstok übersetzten Fragmente aus alten Dichtern in den Grammatischen Gesprächen gelesen?
Der Plan meiner Briefe über Poësie pp führt mich darauf, über die prosodische Beschaffenheit unsrer Sprache, den Gebrauch der alten Metrik, und den Werth des Reimes einiges zu bemerken. Hier schicke ich Ihnen eine Fortsetzung davon: es würde mir lieb seyn, wenn sie zugleich mit dem dritten Briefe gedruckt werden könnte, dessen Lehren ich noch mehr zu bestimmen und aufzuklären gesucht habe. Der Wink, den Sie mir in Ihrem vorletzten Briefe gaben, ist für den Fortgang meiner Betrachtungen nicht unfruchtbar gewesen, wie ich hoffe.
Mit dem lebhaftesten Interesse, das nicht frey von Neubegier war, bin ich Ihrer Entwickelung der Begriffe vom Naïven und Sentimentalen gefolgt. Diese Ansichten sind so neu als reichhaltig an wichtigen Resultaten. Aber Sie haben vielleicht mehr Wahrheiten auf einmahl gesagt, als das Publikum oder wenigstens die Schriftsteller werden ertragen können. Über Klopstocks Muse ist gewiß noch nie etwas so treffendes und tief eingreifendes gesagt worden. Auch Rousseau ist wunderwürdig schön charakterisirt. Den Dante zählen Sie mit Recht in einer gewissen Hinsicht unter die Satyrischen Dichter, also unter eine Klasse der Sentimentalischen; doch glaube ich, in so fern er sich selbst schildert, muß er, wenn irgend einer von den Neuern, für einen Naïven Dichter gelten. Er scheint sich eben so wenig der Seltsamkeit als der Größe seines Charakters bewußt zu seyn. Übrigens könnte er auch als ein Beyspiel für Ihre Behauptung angeführt werden, daß streng wissenschaftliche Ausbildung dem Dichterischen Geiste nicht nachtheilig sey; denn er hatte [3] die höchste, die in seinem Zeitalter zu erreichen möglich war, ohne daß seine Originalität darunter gelitten hätte.
Ich verkenne gewiß weder den Werth der Eroberungen, die Sie auf dem Felde der Wissenschaft so glücklich für die Poesie gemacht haben, noch die vollkommnere Reife des Gedankengehalts in Ihren neuesten Gedichten; aber ich möchte Sie doch bitten, gegen den Sänger der Götter Griechenlands nicht ungerecht in Ihrem Urtheile zu seyn. Ja selbst in Ihren frühesten Liedern fand ich Anlage zu tiefem Sinn mit einem Reiz gepaart, den die rauhe Hülle und der herbe Ungestüm der Jugend nicht ganz vernichten konnte. Den Almanach habe ich seit etwa acht Tagen in die Hände bekommen, und er enthält so viel Schönes, daß ich sie mir alle zu Festtagen damit machen konnte, aber es noch nicht ruhig genug genoß, um im Einzelnen darüber reden zu können. Die unbeschreibliche Anmuth der letzten Stanzen ist mir am gegenwärtigsten. Wenn wir doch ein längeres Gedicht von Ihnen in diesem schönsten aller modernen Sylbenmaaße bekämen!
Wie freue ich mich, mein gütiger und edler Freund, auf den Zeitpunkt, wo ich Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen hoffen darf! Ich denke, einige Geschäfte, die ich erst noch zu Ende bringen muß, werden es mir in wenigen Monaten erlauben. Aus einem Worte Ihres Briefes schließe ich, daß Sie glauben, ich würde durch öffentlichen Unterricht im Fache der alten Litteratur in Jena am besten mein Glück machen. Sie war mein einziges Studium während des größten Theils meiner Akademischen Laufbahn; auch in Holland widmete ich ihr fast alle Muße die ich übrig behielt; ich würde mich gern wieder ganz hinein werfen. [4] Geschrieben habe ich freylich noch nichts in diesem Fache außer eine lat. Abhandlung über die Geographie Homers, womit ich in Göttingen in meinem ersten Universitätsjahre das Accessit erhielt. – Wäre es nöthig, so könnte ich mir ja auch in Jena die philosophische Mag. Würde ertheilen lassen. Sie erregen mir Hoffnungen, die mich sehr glücklich machen.
Vielleicht biete ich Ihnen schon für das Märzstück der Horen einen kleinen Aufsatz von anderm Inhalte an. Auch die Briefe werde ich fortfahren auszuarbeiten. Zu eignen Gedichten habe ich entweder noch nicht Begeisterung, oder nicht Muße genug gehabt.
Leben Sie recht und behalten Sie mich in wohlwollendem Andenken.
Ihr ergebenster
AWSchlegel
Wie verhält es sich in Ansehung des Honorars für die Beyträge zu den Horen. Hat man sich an den Verleger wegen ihrer Auszahlung zu wenden? Für die ersten, die ich geliefert, haben Sie schon die Güte gehabt, sie selbst an meinen Bruder in Dresden zu besorgen.