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Friedrich von Schlegel to August Wilhelm von Schlegel

[1] Den 17ten Novemb[er].
Von Car.[oline] erhältst Du das nächstemal gewiß etwas, für heute nichts. Sie war es Willens gewesen, und hatte sich nur in dem Tage geirrt, wie wir es zu spät entdeckten, da ich eben abfahren wollte und mußte. Ich war nehmlich wieder bey ihr, fand sie recht wohl, so stark, daß sie mit dem Kinde auf dem Arme ziemlich lange im Zimmer herumgehen konnte, und doch ist Mangel an Kräften iezt noch wohl ihr einziges eigentliches Uebel. Selten nur eine schlaflose Nacht, Kopfschmerz oder Krampf. Der Kleine ist gesund, und hat schon einen dicken Backenbart; ich für meine Person glaubte auch Spuren von einer moustâche zu sehen. Sie schickt Dir hier eine Abschrift von Theresens Briefe, in welchem ganz die Offenheit herscht die einem romantischen Herzen von 16 Jahren so natürlich ist, und eine Großmuth, die dieser Offenheit entspricht. – Caroline bittet Dich nochmals an G.[öschen] zu schreiben. Sie war fast entschloßen, <sich G[öschen] ganz zu entdecken,> welches ich ihr abgerathen. – Sie sagte mir letzthin, daß ehe sie nach Gotha gehen könnte, noch ein Zwischenaufenthalt nöthig seyn möchte. In L–a [Lucka] ist es zu gefährlich, wegen genauer Beziehung mit Altenburg und dadurch mit Gotha. Wir glauben L[eipzig] dazu ganz sicher wählen zu können, und wenn sie es auch mir nicht gestehen wird, so hoffe ich doch, daß sie hier [2] leidlicher wird leben können, als in L–a [Lucka]. Für mich wäre das äusserst erwünscht, doch verspreche ich ohne Rücksicht darauf, alles strenge zu überlegen. – Den Brief mit drey Duc.[aten] fand ich vor. Sie waren mir äusserst willkommen, wiewohl Du aus meinem folgenden Briefe gesehen haben wirst, daß ich mehr hoffte. – Indessen danke ich Dir herzlich dafür. – Ich hoffte durch die kleine Rhapsodie über Allheit, Einheit und Vielheit, meine Gedanken in das hellste Sonnenlicht gestellt zu haben; und nun kannst Du noch sagen (Du schließest ohngefähr so; wenn es eine und dieselbe Sinnlichkeit ist, die sich an der Diotima und an der Phryne äußert, so muß sie sich in der That Proteusmäßig verwandeln können!) die Vernunft hersche in Schillers leztem Wercke, welches <doch> so ganz ausschließend ein Erzeugniß des Verstandes allein ist. Aber Du nennst nun einmal mit dem gemeinen Sprachgebrauche, Vernunft nur ihren Gebrauch zum Behuf des Verstandes (mittelbare Erkentniß). – Das Herz ist freylich mit dem Triebe, Vernunft, Eins; denn sie sind dasselbe. – Jacobiʼs Vernunft ist Eins mit der feinsten Sinnlichkeit, aber vielleicht nicht ganz mit dem Verstande. Mit Recht zwar ist ihm Einsicht nie [3] das Lezte, nur Mittel. Aber er braucht es nicht selten, überläßt sich der Leitung der Empfänglichkeit so hingegeben, daß sie ihn nicht blos in die seltsamsten Eigenheiten führt. Nein er glaubt an platte Strafe und niederes Vorurtheil, wie an das Höchste. Ich verzeihe es also, wenn jemand, von dem ich nicht die größte Bestimmtheit fodere, ihn Feind der Vernunft nennt. Diese Unbilligkeit Mastiauxʼs entspringt aus dem sehr wesentlichen edeln Triebe nach deutlichen Begriffen, nach klarer Einsicht, ein Trieb der bey Jacobi verhältnismäßig zu schwach ist. Bey dieser heiligen Dämmerung ist innres Glück noch möglich. Ist jener Trieb unnatürlich stark, so entstehen herz- und marklose Vernünftler, bey gemeinen Anlagen; ein unzählbarer Haufen neurer Aufklärer u.s.w. in unserm Vaterlande kann zum Beyspiel dienen. Große Anlagen aber zerrüttet keine Ausschweifung so sehr, der Kranke drängt nur die Natur zu kennen, das Schöne und Gute zu wissen, bis alles Leben stumpf wird, und das Herz ohne Rettung verzweifelt. – Du wirst erstaunen, wenn ich Dir eingestehe; daß Schiller iezt ohngefähr hier steht; ich behaupte aber daß Du diesen Gang seines Geistes für sein Wesen selbst genommen hast. Ich glaube den Uebergang von seinen alten zu seinen neuen Werken gefunden zu haben, der mir [4] ehedem unmöglich schien. Nehmlich wer als Jüngling ganz in Einbildung lebt, der muß als Mann ganz im Verstande leben. Aber es müßte doch tiefer hin noch im Verborgnen etwas zum Grunde liegen, das ihn so mächtig von Abgrund zu Abgrund stürtzte. Und dieses ist es, was ich nie aufhören kann, an ihm wie überall für groß zu achten, die Leidenschaft zum Ewigen.
Warum führst Du an, Größe sey ein Begriff? – Sittliche Größe, und von der allein war hier die Rede, ist über allen Begriff erhaben; ja fast über alle Lehre: denn über die Tugend kann man nur den belehren, der sie schon kennt. Groß ist eigentlich nur eine sehr unbestimmte Bezeichnung des Vortreflichen aller Art; wobey gar nicht immer Vergleich und gemeiner Maaßstab statt findet, wie in der Größe, nach der in Preußen die Grenadiere gewürdigt werden. Unschuld, Liebe, reines Gewissen, Gerechtigkeit; sind etwas Absolutes und laßen keine Grade zu, und können wir nach unserm Sprachgebrauche von ihnen sagen, daß sie etwas großes sind. Die Grade des Muthes, des Verstandes, des Lebens aber laßen sich durchaus nicht meßen, weil es keinen gemeinen Maaßstab giebt; und so ist alle Anwendung der Mathematik auf die Moral vergeblicher Versuch. – Den Werth eines menschlichen Dinges, mag es seyn [5] was es will, darf nur der Kundige und der Edle bestimmen (denn nur dieser steht auf dem Ort, von dem man die Welt richtig sieht) und auch dieser hat nur eine Stimme; zu reiner Wahrheit gehört nur – Allwissenheit. Nun scheint nichts so sehr unsre Pflicht als strenge Prüfung. Aber ist es damit gethan, daß wir uns selbst Gewalt anthun, zu bezeichnen, zu erklären, zu beweisen was sich nur fühlen läßt? – Das hilft doch nichts, wenn unser Sinn nicht offen ist nach allen Seiten, jeden Schein ahndet. Ferner da des Menschen Geist sich nur mittelbar kund giebt, auf so unendliche Weisen, deren jede gleichsam eine Sprache ist, und da es dieser Sprachen unendlich viele giebt, so scheint die Kenntniß des Menschen unendlich zu seyn, und wir können Unfehlbarkeit durch keine Methode erreichen. –
Was ich Dir im 1ten Briefe schrieb, muß Deine ganze Energie erwecken mir zu helfen. Ich erwarte mit Ungeduld Deinen Entschluß. Ist er günstig, so bedenke, daß es mir der größte Vortheil ist, wenn es so bald als möglich geschieht. Hättest Du bey Deiner Reise nach Deutschland daran gedacht, so wäre ich nun gerettet!
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  • Schlegel, Friedrich von  Begegnung  Schelling, Caroline von
  • Schlegel, Friedrich von  Gesundheit  mitteilen  Schelling, Caroline von
  • Schelling, Caroline von  Brief  empfangen  Huber, Therese
  • Schelling, Caroline von  Abschrift  senden  Schlegel, August Wilhelm von
  • Schelling, Caroline von  Briefsendung  erbitten  Schlegel, August Wilhelm von
  • Schlegel, August Wilhelm von  Brief  senden  Göschen, Georg Joachim, der Ältere
  • Schlegel, Friedrich von  Geld  empfangen  Schlegel, August Wilhelm von
  • Schlegel, Friedrich von  Geldsendung  danken  Schlegel, August Wilhelm von
  • Schlegel, Friedrich von  Geldsendung  erbitten  Schlegel, August Wilhelm von
  • Schlegel, Friedrich von  diskutieren  Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde
  • Schlegel, Friedrich von  tadeln  Jacobi, Friedrich Heinrich
  • Schlegel, Friedrich von  wertschätzen  Schiller, Friedrich
  • Schlegel, Friedrich von  Entscheidung  erwarten  Schlegel, August Wilhelm von
Metadata Concerning Header
  • Date: Sonntag, 17. November 1793
  • Sender: Friedrich von Schlegel ·
  • Recipient: August Wilhelm von Schlegel ·
  • Place of Dispatch: Leipzig · ·
  • Place of Destination: Amsterdam · ·
Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 157‒159.
Manuscript
  • Provider: Dresden, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek
  • OAI Id: DE-1a-34186
  • Classification Number: Mscr.Dresd.e.90,XIX,Bd.24.a,Nr.42
  • Number of Pages: 5S. auf Doppelbl., hs.
  • Format: 18,7 x 11,6 cm
Language
  • German

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