Single collated printed full text without registry labelling not including a registry

Samuel Ernst Stubenrauch to Friedrich Schleiermacher TEI-Logo

Zoom inZoom inZoom inZoom in
Zoom outZoom outZoom outZoom out
Go homeGo homeGo homeGo home
Toggle full pageToggle full pageToggle full pageToggle full page
Rotate leftRotate leftRotate leftRotate left
Rotate rightRotate rightRotate rightRotate right
Previous pagePrevious pagePrevious pagePrevious page
Next pageNext pageNext pageNext page
Landsb. a. d. W. d. 8ten May 97
Heute, mein lieber Neveu, ist es mir doch geglückt, bey schönen hellen Sonnenschein in unserm Gartenstübchen ihren lieben Brief, wenigstens größtentheils, lesen oder dechiffriren zu können. Aus dem was Sie mir von der Confirmation zur Antwort schreiben sehe ich, daß Sie diesmal mich nicht recht verstanden, und das von mir – vielleicht nicht richtig genug gewählte – Wort feierlich in einem Sinne genommen haben, der mir warlich gar nicht dabey eingefallen ist, ich dabey im geringsten nicht an bloß äußre Gebräuche und leere Ceremonien, bey welchen der Kopf gar nichts denkt, das Herz nichts empfindet, die den Kindern wohl gar lästig sind, wie z B das öftere und lange Niederknien, welches so manche unserer Amtsbrüder leider! für ganz unentbehrlich halten, und wobey die vereitelten Herzen der für diesen Tag gemeiniglich – freilich auch leider! – stattlich gepuzten Mädchen und Knaben – aus ängstlicher Besorgniß, daß ihr Staat und Putz dabey leiden und beschädigt werden dürfte, von dem Inhalt des Gebets ganz abgezogen wird. Ich verstand vielmehr nichts andres dadurch, als daß diese Handlung ihnen recht wichtig und rührend gemacht | werden müße, damit solche auf das – zu der Zeit noch weniger verdorbne, guter Rührungen noch empfänglichere Herz desto tiefere und mithin bleibende Eindrücke machen möge; weshalb ich auch die Beyspiele des Buchbinder der in Magdeburg von unsrem Sack, und des Hutmacher Stuter der in Halle vom seeligen Hirsekorn confirmirt worden, anführte, die beyde sich dieser Handlungen noch mit so lebhafter Freude, so innig bewegt erinnerten[.] Ich habe diesmal auch die Freude gehabt [daß] 10 oder 12 von den Verwandten der Confirmanden bey dieser Handlung zugegen waren, und die meisten von ihnen auch gerührt schienen: nam de occultis – aut simulatis – non judicat Ecclesia. Es waren 7 Knaben confirmirt Gutschke, Stuter, Michaely, Kleinhanns, Radestock, Doniges und Pickart, dies ist ungefähr die Rangordnung nach ihren Fähigkeiten und erlangten Kenntnißen[.] Den Kleinhanns beurtheilen Sie vielleicht etwas zu hart, da meines Erachtens auch Rüksicht genomen werden muß auf die Lage, in welcher er sich befunden. Mich hat er beynahe bis zu Thränen gerührt, als ich ihn bald anfangs, nach geendigter Catechisation besonders nahm, und ihn darüber zur Rede stellte, daß er so gar nicht lesen könne. Da ich aber erfuhr, daß er wohl gern die Schule besucht haben würde, wenn er nicht von früh auf von seinem Vater zur Bestellung des Tobacksbaus gebraucht worden wäre. | Ich empfand das wahreste Mitleiden mit diesem ohne seine Schuld verwahrloseten Menschen, mir schien es, als ob er durch angestrengte Aufmerksamkeit das bisher versäumte nachholen wollte, und ich kann Ihnen versichern, daß ich weit mehr vernünftige überdachte, passende Antworten von ihm erhalten habe als von Doniges der ziemlich gefühllos und doch voll Eigendünkel ist, den ich aber auf dringendes Anhalten seines Vaters mit confirmirt habe, weil er bey einem Chirurgus in die Lehre gebracht worden
Was das Examiniren der Confirmanden betrifft, so bin ich darin völlig mit ihnen einverstanden, daß wenn keiner von den Aeltern oder Verwandten dabey zugegen, solches ganz unnöthig und unnütz ist. Sind aber diese zugegen, so gereicht es einmal zu ihrer Befriedigung und fürs andre sind meines Erachtens – besonders da wir hier keine öffentlichen Katechisationen haben, wobey auch Alte – dergleichen Gelegenheiten auch dazu sehr gut zu benutzen, um so manche crasse Ideen, die durch früheren fehlerhaften Unterricht in so manchen Köpfen so fest eingewurzelt sind, zu berichtigen[.] So habe ich in dieser Absicht den Artikel von der durch Christum geschehenen Erlösung ziemlich durchgefragt – nach Veranlaßung des Apostolischen Glaubensbekänntnißes
Frage. Christus wird Gottes eingebohrner Sohn, der Erstgebohrne vor allen Kreaturen. Werden wir nicht auch Kinder Gottes genannt, und warum? Weil wir eine Aehnlichkeit mit Gott haben. Worin besteht diese? daß wir einen vernünftigen Geist haben und zur Unsterblichkeit bestimmt sind. Und worin | soll diese Aehnlichkeit noch ferner bestehen? Daß wir heilig seyn und immer mehr werden sollen pp[.] Warum heißt nun Christus der Eingebohrne der Erstgebohrne? Weil er die allergrößte Aehnlichkeit mit Gott [hat.] Ist er nun aber Gott gleich? Nein denn er sagt selbst: Der Vater ist größer
Und eben so habe ich auch den Artikel von der Erlösung durchgenomen. Was heißt das Er ist unser Erlöser? Wovon hat er uns erlöset? Wodurch? Ist solches bloß durch sein Leiden und Sterben geschehen? – Kann sein Blut uns von der Sünde reinigen? Wodurch denn also. 1. Durch seine Lehre, durch den Unterricht, die Anweisungen, die Er uns gegeben. 2. Durch sein heiliges Beyspiel – in allem dem, was Er uns vorgeschrieben. 3. Durch sein unschuldiges Leiden und Sterben. Doch ich sehe ich bin allzu weitläuftig geworden, wie es alten Leuten wohl zu gehen pflegt. Ich denke aber nicht, daß mich in diesen und ähnlichen Fragen der Vorwurf, daß ich mich zu sehr an den Katechismus halte – treffen werde, eher vielleicht der, daß ich mich zu sehr bey Theorieen aufhalte: Allein ich glaube bemerkt zu haben, daß die falschen, crassen theoretischen Begiffe einen sehr nachtheiligen Einfluß auf das praktische Christenthum haben
So viel für heute. Vielleicht können Sie einigen Unterschied in diesem Geschreibe bemerken, wieviel noch bey Tage, und was bey Lichte geschrieben[.] Jetzt ist es 10 Uhr, und für einen reconvalescenten wohl eben nicht allzu früh, um sich schlafen zu legen. Möchte doch mein lieber Wilmsen auch erst auf dem Wege einer sichren oder doch sehr wahrscheinlichen Beßerung seyn – doch davon, so wie auch von meiner Krankheit im folgenden Gute Nacht! |
den 9ten May Warlich wenn ich auf alle einzelne Punkte Ihres Briefes so weitläuftig oder umständlich zu antworten fortfahre, als gestern auf den einen, so dürfte ich ein ganz ähnliches Päklein zusammenschreiben; indeß ists mir doch, als ob das Schreiben weit weniger, auch in Ansehung der Augen, mich angriffe als das Lesen. So mags also immer dabey bleiben, daß ich noch einen neuen Bogen anfange, da ich so nicht auf eine morgende Predigt zu denken habe, indem Herr Lehmann mich vertreten wird. Aber warum ist der Mann wohl abgesetzt, wenn Ihnen nähere Umstände davon bekannt, so laßen Sie mir es doch wissen, hier sind die Urtheile über ihn eben so verschieden, als über Bülch
Vermuthlich ist es die Mutter von Herrn Thyms Braut oder wie wir sagen Frau welche bald nach seiner Flucht hierher kam, um seine unglükliche Frau abzuholen – ob sie jetzt noch in Berlin, oder weiter zu ihrem Bruder gegangen sey, werden Sie dort besser wissen können, als wir hier[.] Mir hat die gute Frau BürgerMeister herzlich gedauert, und kaum konnte ich mich der Thränen enthalten, als sie – von ihrer Schwester begleitet – bey uns vorfuhr, um die Abschiedskarte abgeben zu laßen, weil ich mich gar nicht überzeugen kann, daß sie an den Veruntreuungen ihres Mannes Theil genomen haben sollte, ohnerachtet ich sie immer für eine sehr schwache Person gehalten, die auch durch ihre Eifersucht und Widerspenstigkeit wohl an der üblen Begegnung, die sie von ihrem Manne erfahren, einigermaaßen Schuld gewesen[.] Daher ich auch in die großen Lobeserhebungen von ihrer vortreflichen Denkungsart und von ihren edlen Gesinnungen, so wenig als in Bülchs Rechtschaffenheit, womit meine Ohren so oft übertäubt wurden, habe einstimmen | können. Eben so wenig aber konnte ich sie doch auch ein infames Weib nennen, wie Herr Schneider sich auszudrücken beliebt hat, der doch, solange der Mann hier war, sie recht fleißig besuchte, und so oft er, wenn er nach oder von dem Lazareth ging, sie imer seine liebe Frau Gevattern nannte. Ueberhaupt wird mir der Mann – je länger ich hier bin, – um desto räthselhafter, so daß ich mich in seine Grundsätze nicht recht finden kann in seine moralischen so wenig, als in seine medicinischen[.] Sie wißen daß ich gleich da ich ihn kennen lernte, eine sehr gute Meinung von ihm hatte und also gewiß – mehr für ihn, als gegen ihn – eingenommen war. – Aber seit einiger Zeit hört man so mancherley von seinem Stolz und Eigendünkel, von seiner Grobheit, die ich an ihm, – weil es ihm an früherer Bildung so sehr gefehlet, – noch am leichtesten übersehen möchte, indeß ist es doch sehr auffallend, wenn er zu Herrn Werkmeister sagt: Sie sind der dümste Kerl in der ganzen Stadt, – zu dessen Frau: Sie sind ein einfältiges Weib – zu unserer Benike: Sie haben gerade so viel Verstand, als mein Spitz: – Oder soll das etwa Spaß seyn – so würde ich mich denn doch für solchen Spaß schönstens bedanken. Noch auffallender ist seine jetzige Behandlung der Kranken: So hat er in einer großen Gesellschaft sich geäußert – wie ich von wenigst 7 Personen die eben in keiner näheren Verbindung stehen, glaubwürdig gehört habe: „Er werde künftig keiner Kranken sich annehmen, von denen es nicht notorisch, daß sie – ohne ihre eigene Schuld – krank geworden; die übrigen wolle er moralisch behandeln.” Da war es denn, däucht mir, wohl sehr natürlich, daß ich zu dem Manne fernerhin gar kein Zutrauen haben konnte. Ehe Sie mir also hierauf keine völlig befriedigende Antwort geben können, dürfte die ganze Gewissensrüge, womit Sie mich beehret haben, was diesen Punkt betrifft, wohl ganz vergeblich und ohne den erwarteten Erfolg seyn. Das weitere ein andermal. Für jetzt genug. |
den 11ten Nun sind wir ja doch Gottlob! dem Frieden, wie es scheint, etwas näher, da man Anfangs gar nicht daraus klug werden konnte, obs von Friedenspräliminarien zu verstehen sey, oder vom bloßen Waffenstillstand[.] Buonaparte ist doch warlich ein herrlicher Mann, in so fern man aus dem herrlichen Brief an den Erzherzog, und aus dem offenen edelen Benehmen, nachdem die FriedensPräliminarien unterschrieben, auf sein Inneres auf seine Gesinnungen zu schließen berechtiget ist. Wie sehr sticht dagegen das Benehmen der Oestreicher namentlich das Steife das Etiquetmäßige ab, da die frohe Nachricht – im Schauspielhause – verkündigt werden mußte, und dann Seine kayserliche Majestät selbst erschienen, um sich Beyfall zuklatschen zu laßen. Wie wenig ward dabey an die niedrigen Stände gedacht!
Ad vocem niedrige Stände fällt mir die Recension von Formey’s Versuch einer medicinischen Topographie von Berlin, ein, die ich vor ein paar Tagen in der Allgemeinen Literatur Zeitung numero 119 gelesen, und die mir – besonders wegen seiner offenen Freymüthigkeit womit er herrschende Gebrechen unverholen anzeigt. Da finde ich auch von der Charité Nachrichten, davon mir jedoch manche etwas übertrieben dünken – daß Sie mit ihrer Wohnung außerhalb der Charité zufrieden sind, freuet uns allen gar sehr – ohnerachtet ich mich noch nicht recht orientiren kann, wo eigentlich dieselbe gelegen, da Sie schreiben vor dem Thore, vermuthlich also vor dem Oranienburger Thore – aber da verstehe ich nicht, wie und warum dies außerhalb dem Thore – ihnen eine jährliche Ausgabe von 10 rth. verursache
den 14ten Da kommt gleich eine kleine Bitte an Sie von meinem Sohne. Er wünscht und bittet, daß Sie ihm doch die Hypotheken- und Deposital- und VormundschaftsOrdnung aus einem Buchladen ausnehmen und anher überschicken möchten und das Register zur neuesten ProceßOrdnung – und wenn Sie doch einmal in den Buchladen gehen, so wollte ich denn auch wohl um die lezte Schrift von Spalding, der Titel den Sie mir geschrieben, ist mir entfallen, wie mir däucht wars: Die Religion die wichtigste Angelegenheit der Menschen – gegen welche, wie Sie mir schreiben, Herr Jenisch aufzutreten sich unterfangen hat. Sollten Sie noch vor Pfingsten, wie die Benike versichert, zu uns komen: so wären Sie wohl so gut, wenn es nicht zu beschwerlich, die angezeigten Bücher uns mitzubringen. Es thut | leid, daß ich nicht früh genug an diese Bücher gedacht habe, oder daran erinnert worden bin, sonst würde ich Sie ersucht haben, sogleich von der Besoldung die Auslage zurükzubehalten[.] Und nun muß ich wohl schließen, damit das Pack nicht allzu unbändig wäre. Viele Grüße von Mama und dem Sohn[.] Wir erwarten Sie recht bald – doch vielleicht noch wohl vorher ein Brieflein mit Nachrichten von meinem guten lieben Wilmsen den ich so wie Vetter Reinhardt etc. herzlich zu grüßen bitte von
Ihrem treuergebenen Oheim
St.
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  charakterisieren  Kleinhans, Knabe in Landsberg a. W.
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  negativ bewerten  Doniges, Knabe in Landsberg a. W.
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  negativ bewerten  Bülch, Johann Heinrich
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  negativ bewerten  Schneider, Herr (Regimentschirurg in Landsberg)
  • Schneider, Herr (Regimentschirurg in Landsberg)  negativ bewerten  Werkmeister, Herr
  • Schneider, Herr (Regimentschirurg in Landsberg)  negativ bewerten  Werkmeister, Frau
  • Schneider, Herr (Regimentschirurg in Landsberg)  negativ bewerten  Benike, Frau
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  positiv bewerten  Napoleon I., Frankreich, Kaiser
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  negativ bewerten  Karl, Österreich, Erzherzog
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  positiv bewerten  Anonymus: Formey, Johann Ludwig: Versuch einer medicinischen Topographie von Berlin (Rezension)
  • Stubenrauch, David Adam Karl  Literaturbeschaffung  erbitten  Schleiermacher, Friedrich
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  Literaturbeschaffung  erbitten  Schleiermacher, Friedrich
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  Literaturbeschaffung  erbitten  Spalding, Johann Joachim: Religion, eine Angelegenheit der Menschen
  • Stubenrauch, Susanna Judith  grüßen  Schleiermacher, Friedrich
  • Stubenrauch, David Adam Karl  grüßen  Schleiermacher, Friedrich
  • Stubenrauch, Susanna Judith  grüßen lassen  Stubenrauch, Samuel Ernst
  • Stubenrauch, David Adam Karl  grüßen lassen  Stubenrauch, Samuel Ernst
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  Begegnung  erwarten  Schleiermacher, Friedrich
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  grüßen lassen  Schleiermacher, Friedrich
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  grüßen  Wilmsen, Friedrich Ernst
  • Stubenrauch, Samuel Ernst  grüßen  Reinhardt, Karl August
Metadata Concerning Header
  • Date: 8. bis 14. Mai 1797
  • Sender: Samuel Ernst Stubenrauch ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Landsberg (Warthe) · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 2. Briefwechsel 1796‒1798 (Briefe 327‒552). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1988, S. 126‒134.

Zur Benutzung · Zitieren