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Friedrich Schleiermacher to Lotte Schleiermacher TEI-Logo

Berlin d 21t. Novemb. 97.
Wie oft und wie ich Deiner schon heute gedacht habe, das kannst Du Dir leicht denken. Wieviel Freude ich auch heute gehabt habe, so ist doch dieses Andenken nie ohne Bangigkeit gewesen – denn wer weiß in welchem traurigen Gesundheitszustande Du Arme diesen Tag verbringst! auch nicht ohne Vorwürfe; denn wer weiß ob Du heute schon im Besiz meines so lange verschobenen, und gewiß so lange sehnlich erwarteten Briefes gewesen bist. Wie lange magst Du danach gebangt, und was für ängstliche Vorstellungen magst Du Dir endlich gemacht haben. – Doch ich will nicht anfangen über mich selbst zu schimpfen, sonst möchtest Du am Ende vom heutigen Tag gar nichts hören. Recht viel und mancherlei Freuden habe ich gehabt, und dies ist schon die zweite Recapitulation davon. Ich hatte eigentlich beschloßen diesen Tag ganz still und sehr fleißig in meiner Klause zu verbringen und nur Abends war ich zum Thee bei gemeinschaftlichen Freunden von mir und Schlegel gebeten, die aber von meinem Geburtstag gar nichts wißen konnten, bei einer Tochter nemlich von Moses Mendelssohn, die hier an einen Banquier verheirathet ist. So saß ich des Morgens um 10 Uhr im tiefsten Negligé sehr fleißig an meinem Tisch, als – der älteste Dohna erschien, der mich freilich seit seiner Rükkunft noch nicht besucht hatte. Er hielt sich aber ungewöhnlich lange auf, sah manchmal ängstlich nach dem Fenster, so daß ich fast argwohnte, daß etwas vor seyn müßte – doch ohne begreifen zu können was. Endlich kam sein Bruder nach, der fing mit einer Gratulation an, so daß ich merkte mein Geburtstag wäre verrathen, und nicht lange darauf kam angefahren | Madame Herz – bei der ich sehr oft mit Dohna’s bin, und Madame Veit bei der ich auf den Abend seyn sollte mit Schlegel. Die Männer der beiden Frauen entschuldigten sich mit ihren Geschäften. Plözlich war auch mein Tisch abgeräumt und mit Chokolade und Kuchen besezt den Dohna besorgt hatte, die freundlichsten Glükwünsche strömten mir auf allen Seiten zu, und kleine Geschenke um mir die Erinerung an diese freundliche Feier festzuhalten. Die Herz schenkte mir ein Uhrband, weil meine Kette im deplorablesten Zustande war, die Veit ein paar Handschuh und ein Weinglas um den Burgunder, den sie mir für meinen Magen verordnet hat daraus zu trinken und Schlegel ein Fläschchen Parfum für meine Wäsche, wovon ich wie er weiß ein großer Freund bin. Du kannst denken, wie ich mich über die Theilnahme von 5 Menschen die mir alle in einem hohen Grade werth sind, herzlich gefreut habe, und wie wenig ich eben deswegen dazu sagen konnte. Schlegel spielte mir zwar einen kleinen Poßen indem er sie aufhezte im Chore in seinen alten Wunsch einzustimmen daß ich nemlich nun auch fleißig seyn d. h. Bücher schreiben solle. Neun und zwanzig Jahr, und noch nichts gemacht! damit konnte er gar nicht aufhören, und ich mußte ihm wirklich feierlich die Hand darauf geben, daß ich noch in diesem Jahr etwas eignes schreiben wollte – ein Versprechen, was mich schwer drükt, weil ich zur Schriftstellerei gar keine Neigung habe. Zum Ersaz dafür wurde aber etwas herrliches beschloßen, wovon schon seit einigen Tagen die Rede gewesen war, daß nemlich Schlegel den Winter über zu mir heraus ziehen sollte. Ich habe eine Stube, die ich ihm abtreten kann, und heute ist alles arrangirt worden. Du kannst denken, wie innig ich mich darauf freue meine leere Einsamkeit gegen einen solchen Gesellschafter zu vertauschen, und wie lang mir in dieser Erwartung die 6 Wochen bis Neujahr dauern werden. – Gegen Mittag entfernte sich mein schöner Besuch und überließ mich meinen frohen Betrachtungen über das Glük überall so viel Wolwollen zu | finden, und über den schönen Anfang meines neuen Lebensjahrs. Bald darauf bekam ich einen Brief von der Benike mit einer Einlage vom Onkel und einem französischen Briefchen von Emilie[.] Die Mutter schenkte mir eine schöne Geldbörse und die Tochter ein Halstuch, was sie selbst gar zierlich und fleißig ausgenäht hat. Ganz unerwartet aber langte zu gleicher Zeit ein Brief von Karl an als eine reine Zugabe des guten Geschiks, denn der konnte unmöglich berechnet haben, daß er diesen Tag ankommen würde. Sein Principal hat ihn so weichmüthig gemacht, daß er die Stettiner Condition ausgeschlagen hat; er gefällt sich in Absicht seiner häuslichen Lage recht gut, genießt Vertrauen und Achtung und kann der Officin sehr niizlich seyn, nur daß ihm Lecture über sein Fach so gut als gänzlich abgeschnitten ist. Daß er nicht nach Stettin geht (ich habe Dir doch, wo ich nicht irre in meinem lezten Briefe von diesem Vorschlage erzählt?) thut mir sehr leid; ich kann aber nichts dagegen sagen; weil ich weiß, daß ich in derselben Lage schwerlich anders gehandelt hätte. Gegen Abend ging ich zu Veits wo wir mit Schlegel sehr vergnügt waren und noch einmal in einem – wie ich es liebe – sehr guten, aber sehr mäßigen Punsch meine Gesundheit getrunken wurde. Von da bin ich vor einer Stunde zurükgekommen und habe an die Benike und an Dich geschrieben. Was sagst Du zu diesem Geburtstag? Hat wol noch etwas andres gefehlt als ein Brief von Dir, und daß Sacks und Eichmanns davon gewußt hätten um ihn so vollkommen glüklich zu machen als er in Berlin nur seyn konnte. Ich bin aber auch von Dankbarkeit und von Freude durchdrungen. Wie herzlich waren die guten Menschen alle! Wie gab mir jedes Wort und jede Mine ihr aufrichtiges Wohlwollen, ja ihr Vertrauen zu fühlen! Es hat mich gefreut neben Schlegel zu stehn, der mir an Talent, an Wiz, an Gesellschaftsgaben so weit überlegen ist, und doch von denen die uns beide kennen soviel Liebe zu genießen. Es kann doch nichts seyn, als meine eigenste Persönlichkeit, was ihnen gefällt; aber was eigentlich? ich weiß es nicht. – Und was für Schäze habe ich nun noch in der Ferne, in Osten und Westen und Süden. Ja ich überzeuge mich, daß wenig Menschen so reich sind als ich! und ich würde übermüthig werden, wenn ich nicht wüßte, daß der Mensch auch diese Kleinodien | in zerbrechlichen Gefäßen trägt. – Auch in Gnadenfrei ist meiner gedacht worden, und herzlichen warmen Dank den guten Seelen die Deine Freude und Dein Andenken getheilt haben. Was ist es wenn die Freude wemüthig macht? das ist der höchste und schönste Standpunkt ihres Thermometers, und so steht sie bei mir heute.
den 19ten December
Vorgestern habe ich Deinen Brief bekommen, als ich eben in die Kirche gehen wollte. Du kannst denken, wie schwer es war, mit soviel Ideen und Empfindungen überfüllt zu predigen. Aber nun ist der dritte Tag und ich weiß noch nicht was ich sagen soll. Meine Manier das kleine immer zuerst zu lesen kennst Du vielleicht also war der Brief von der kleinen Jette das erste was ich las; da blieb es mir noch räthselhaft ob Du nicht vielleicht nur eine andere Stube bekommen hättest, das Postskript aber was mir demnächst in die Augen fiel machte mir die ganze Sache klar. Befürchtet hatte ich eigentlich schon längst, daß es so kommen würde, aber so dunkel, daß ich mir selbst nicht gern Rechenschaft davon gab, und den Gedanken soviel als möglich entfernte. Du siehst also daß ich Dir nicht ganz Unrecht gebe: ich glaube wol daß Ruhe Dir ganz vorzüglich wohl thut; ich glaube auch – denn es ist nicht anders möglich – daß Dem Gesundheitszustand bisweilen einen Einfluß auf Deinen Humor gehabt hat, der Dir hernach schmerzliche Empfindungen geben mußte – aber das Schwesternhaus! dagegen habe ich nun freilich meine alten – nicht Vorurtheile sondern wolgepanzerten Meinungen, die mit Ober und Untergewehr von Beweisen aufmarschiren können. Freilich kennst Du nun das Alles seit langer Zeit und weißt was alles dagegen zu thun und zu machen ist aber mir ist doch gar nicht ganz wohl dabei zu Muthe. Eine gewiße Freiheit ist Dir doch auch Noth neben der Ruhe, und von der ist doch im Schwesternhause leider wenig zu erwarten. Doch bleibe lieber dort, als daß Du Dich in irgend etwas anderes einlaßen solltest gegen Deine Neigung und nur aus Gehorsam. Dem Himmel sei Dank man verlangt ja in der Gemeine in solchen Dingen nicht unbedingten Gehorsam, und hat wie billig großen Respekt davor, wenn Jemand äußert, daß er zu dem und jenem keinen Beruf fühlt. Und das ist doch in der That ganz eigentlich Dein Fall: Du würdest gewiß nur wenig nüzlich seyn können in einem Hause wo Du Dir nicht gefielst, und Deine Gesundheit würde Dir in allen den Dingen die über den Unterricht hinausgehen und die beständige Aufsicht be-|treffen in einem Privathause gewiß eben soviel in den Weg legen als in der Anstalt. Und wieviel mehr Unbehaglichkeiten und Unannehmlichkeiten würde es da geben, die auf Deine Gesundheit eine höchst nachtheilige Wirkung haben müßten. Inständig bitte ich Dich also: seze Dich standhaft gegen jeden solchen Vorschlag. Einige Stunden anzunehmen – ja nur so weit mag der Gehorsam immer vorwalten! Ich bewillkomne Dich also herzlich in der Wohnung Deiner Wahl. Der Himmel laße Dich Ruhe und Friede da finden und vor allen Dingen Gesundheit. Du Arme was hast Du wieder gelitten in der Periode in der Dein Brief geschrieben ist! Zulezt zwar sprichst Du von Beßerung und von schnell fortschreitender Beßerung: aber nachdem uns diese so oft getäuscht hat kann ich mich kaum mehr daran halten. Daß Du in einem solchen Zustande immer befürchten mußtest, Du werdest nicht im Stande seyn, Deine Pflichten mit der Treue zu erfüllen die Du Dir zum Gesez gemacht hattest – das kommt mir so natürlich vor, daß es alle meine Einwürfe entkräftet. Daß Du mir aus Deinem neuen Aufenthalt so wenig geschrieben hast, ist mir zwar wie Du leicht denken kannst nicht angenehm, aber ich kann doch auch nichts dagegen sagen weil ich sonst den Brief, der mir dies mal so besonders nöthig war noch nicht bekommen hätte. Das alte und Bekannte, welches Du in diesem Hause antrifst: dieselbe Stube, zum Theil dieselbe Gesellschaft, das mag freilich erfreulich genug seyn. Wo bleibt aber Lotte Schlegel? wo bleiben die Thee’s bei denen euch kein ungebetner Mitinhaber des Zimmers störte? Ich rechne darauf recht bald einen ausführlichem Brief zu bekommen, der mir nach meinem Begehr das innere und äußere Deiner Lage – das ökonomische auch – recht ausführlich darstelle. Meine Epistel soll um dies zu beschleunigen nach Deinem Wunsch noch vor Neujahr abgehen. Bei mir soll auch nächstens die große Veränderung vorgehen: Uebermorgen zieht Schlegel zu mir und heute wird schon seine Stube gescheuert und alle nöthigen Anstalten werden getroffen. Grade ists der 21te wie ist der Monat von meinem Geburtstag bis nun verfloßen! und wie gewaltsam eilt das Jahr zu Ende! für mich stirbts an der schnellen Auszehrung, aber ein Gutes will es mir noch zulezt stiften deßen ich mich noch lange freuen soll. Gute Nacht für Heute es ist spät. Du wirst merken daß es größtentheils die Abendstunden sind in denen ich an Dich schreibe. Kann man etwas beßeres thun ehe man sich dem kurzen Tode in die Arme wirft, als noch zu bereisen was einem auf der Erde am theuersten ist? Wie lange schläfst Du schon in Deinen klösterlichen Mauern? Ganz gegen Deine Gewohnheit hast Du mir ja nicht einmal geschrieben an welchem Tage Du ausgezogen bist? das muß ich noch nacherfahren. |
Den 31ten.
Wie ist das Jahr zu Ende gegangen ohne daß diese Epistel vorwärts gekommen ist! Da kam das Fest, wo ich 5mal gepredigt habe, da kam Schlegels Einziehen und Einrichtung bei mir, und so ist die Zeit vergangen ohne mich zu fragen. Eine herrliche Veränderung in meiner Existenz macht Schlegels wohnen bei mir. Wie neu ist mir das, daß ich nur die Thüre zu öfnen brauche um mit einer vernünftigen Seele zu reden, daß ich einen guten Morgen austheilen und empfangen kann sobald ich erwache, daß mir Jemand gegen über sizt bei Tische und daß ich die gute Laune, die ich Abends mitzubringen pflege noch früh Jemand mittheilen kann. Schlegel steht gewöhnlich eine Stunde früher auf als ich, weil ich meiner Augen wegen des Morgens kein Licht brennen darf und mich also so einrichte daß ich vor halb neun Uhr nicht ausgeschlafen habe. Er liegt aber auch im Bette und liest und ich erwache gewöhnlich durch das Klirren seiner Kaffetasse. Dann kann er von seinem Bett aus die Thüre, die meine Schlafkammer von seiner Stube trennt öfnen und so fangen wir unser Morgengespräch an. Wenn ich gefrühstükt habe arbeiten wir einige Stunden ohne daß einer vom andern weiß; gewöhnlich wird aber vor Tisch noch eine kleine Pause gemacht um einen Apfel zu eßen, wovon wir einen gemeinschaftlichen schönen Vorrath der auserlesensten Arten haben. Dabei sprechen wir gewöhnlich über die Gegenstände unserer Studien. Dann geht die 2te Arbeitsperiode an bis zu Tisch d. h. bis halb zwei. Ich bekomme mein Eßen wie Du weißt aus der Charité, Schlegel läßt sich seins aus einem Gasthause holen; welches nun zuerst kommt das wird gemeinschaftlich verzehrt dann das andere, dann ein paar Gläser Wein getrunken so daß wir beinahe ein Stündchen bei unserm Diner zubringen. Ueber den Nachmittag läßt sich nicht so bestimmt sprechen; leider aber muß ich gestehen, daß ich gewöhnlich der erste bin, der ausfliegt, und der lezte der nach Hause kommt. Doch ist nicht die ganze Hälfte des Tages bloß dem gesellschaftlichen Genuß gewidmet ich höre einigemal die Woche Collegia und lese einige Mal welche – versteht sich privatissime nur einem oder dem andern guten Freunde, und dann erst geh ich, wohin meine Lust mich treibt. Wenn ich Abends zwischen 10 und 11 nach Hause komme finde ich Schlegel noch auf, der aber nur darauf gewartet zu haben scheint mir gute Nacht zu geben, und dann bald zu Bett geht. Ich aber seze mich dann hin und arbeite gewöhnlich noch bis gegen 2 Uhr denn von da bis halb neun kann man noch vollkommen ausschlafen. Unsere Freunde haben sich das Vergnügen gemacht unser Zusammenleben eine Ehe | [zu nennen] und stimmen allgemein darin überein, daß ich die Frau seyn müßte, und Scherz und Ernst wird darüber genug gemacht. Seit Schlegel hier ist, ist es doch schon ein Paarmal geschehen daß ich den ganzen Abend zu Hause geblieben bin und daß wir zusammen von 7 - 10 einen traulichen Thee getrunken und uns dabei recht ausgeplaudert haben. Wahrscheinlich aber wirst Du auch wissen wollen wie ich nun bei dieser nächsten aller Bekanntschaften den Mann selbst finde? ich weiß wirklich nicht wieviel ich Dir schon von ihm gesagt habe und so stehe denn ein für allemal eine kleine Schilderung von ihm hier. Was seinen Geist anbetrift so ist er mir so durchaus superieur, daß ich nur mit vieler Ehrfurcht davon sprechen kann: wie schnell und tief er eindringt in den Geist jeder Wissenschaft, jedes Systems, jedes Schriftstellers, mit welcher hohen unpartheiischen Kritik er jedem seine Stelle anweist, wie seine Kenntniße alle in einem herrlichen System geordnet da stehn und alle seine Arbeiten nicht von ohngefähr sondern nach einem großen Plan aufeinander folgen, mit welcher Beharrlichkeit er alles verfolgt was er einmal angefangen hat – das weiß ich alles erst seit dieser kurzen Zeit völlig zu schäzen, da ich seine Ideen gleichsam entstehen und wachsen sehe. Aber nach seinem Gemüth wirst Du unstreitig mehr fragen als nach seinem Geist und Genie. Es ist äußerst kindlich, das ist gewiß der Hauptzug darin; offen und froh, naiv in allen seinen Aeußerungen, etwas leichtfertig, ein tödtlicher Feind aller Formen und Plakereien, heftig in seinen Wünschen und Neigungen, allgemein wolwollend aber auch, wie Kinder oft zu seyn pflegen, etwas argwöhnisch und voll mancherlei Antipathien. Sein Charakter ist noch nicht so fest und seine Meinungen über Menschen und Verhältniße noch nicht so bestimmt daß er nicht leicht sollte zu regieren seyn wenn er einmal Jemand sein Vertrauen geschenkt hat. Was ich aber doch vermisse ist das zarte Gefühl und der feine Sinn für die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens und für die feinen Aeußerungen schöner Gesinnungen die oft in kleinen Dingen unwillkührlich das ganze Gemüth enthüllen. So wie er Bücher am liebsten mit großer Schrift mag, so auch an den Menschen große und starke Züge; das bloß sanfte und schöne fesselt ihn nicht sehr, weil er zu sehr nach der Analogie seines eignen Gemüths alles für schwach hält, was nicht feurig und stark erscheint. So wenig dieser eigenthümliche Mangel meine Liebe zu ihm mindert, so macht er es mir doch unmöglich ihm manche Seite meines Gemüths ganz zu enthüllen und verständlich zu machen. Er wird immer mehr seyn als ich, aber ich werde ihn vollständiger faßen und kennen lernen, als er mich. Sein Aeußeres ist mehr Aufmerksamkeit erregend als schön. Eine nicht eben zierlich und voll, aber doch stark | und gesund gebaute Figur, ein sehr charakteristischer Kopf, ein blaßes Gesicht, sehr dunkles rund um den Kopf ganz kurz abgeschnittnes ungepudertes und ungekräuseltes Haar und ein ziemlich uneleganter aber doch feiner und gentlemansmäßiger Anzug – das giebt die äußere Erscheinung meiner dermaligen Ehehälfte. In Deinem Brief, meine Liebe, komt auch etwas vom wahren, ernstlichen Heirathen vor, was mir ein sehr wichtiges Kapitel ist; auch die leiseste Vermuthung, daß mir das lächerlich seyn könnte, kann nicht Dein Ernst seyn da Du weißt wie viel Häuslichkeit und Herzlichkeit ist. Ich will Dir nächstens meine Gedanken darüber recht ausführlich mittheilen, denn fragmentarisch will ich mich auf einen solchen Gegenstand nicht einlaßen; nur so viel daß leider, leider Deine Vermuthung am Ende wol wahr werden könnte! Ich habe gestern Abend ein langes und sehr merkwürdiges Gespräch mit der Herz gehabt darüber wieviel jedem Menschen von dem was eigentlich in ihm ist verloren zu gehen pflegt durch äußere Lagen. Ach wie viel ginge in mir verloren bei diesem Sinn fürs Familienleben, wenn ich nicht heirathete – und doch! Aber ich will mich nicht melancholisch machen, denn wenn ich bei diesem Punkt verweile bin ich auf dem graden Wege es zu werden.
Nachmittags muß der Brief auf die Post, und da ich noch zu predigen und für meine morgende englische Stunde zu übersezen habe, so muß ich alles andere aus Deinem Briefe unbeantwortet, und vieles unerzählt lassen. Wie meine besten Wünsche für das künftige Jahr Dich begleiten davon rede ich nicht viel. Möchte es Dir endlich Gesundheit mitbringen. Möchtest Du in Deiner neuen Lage nichts vermissen, was Dir in der alten werth war! Daß ich dabei besonders an Lotte denke, glaubst Du ungesagt. Schreibe mir ja, wie ihr euren freundschaftlichen Umgang fortsezt. Die Adresse des Briefes scheint mir von ihrer Hand zu seyn, und das ist eine gute Vorbedeutung daß ihr euch noch seht. Das doppelte S Pettschaft habe ich aber schon in ein paar Briefen nicht gesehn. Ach manchmal giebt eine kleine Entfernung eine große Trennung und es darf oft nur einer Mauer um ein schönes Verhältniß zwischen zwei freundschaftlichen Seelen so gut als ganz zu zerstören. Erlöse mich von dieser Bangigkeit, bringe zu Lotten, zu Lisetten, zu Zimmermann und Aulock meine besten Wünsche. Möge es jedem dieser schönen Gemüther wol gehn und kein äußerer Druk die freien Bewegungen eines zarten Herzens in gewaltsame Anstrengungen, keine ungünstige Atmosfäre den lieblichen Hauch eines wolwollenden Geistes in tiefe Seufzer verwandeln. – Gottes Segen mit euch allen, und schreibe bald. Bekome ich nächstens auch ein Brieflein an den Westfälinger? es wird ihm wol thun. Dein treuer
Friz
  • Schleiermacher, Friedrich  Gesundheit  besorgt sein  Schleiermacher, Lotte
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  • Schleiermacher, Friedrich  positiv bewerten  Schlegel, Friedrich von
  • Schleiermacher, Friedrich  erfragen  Schlegel, Charlotte (Gnadenfrei)
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  • Schleiermacher, Friedrich  Gesundheit  wünschen  Schleiermacher, Lotte
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  • Schleiermacher, Friedrich  grüßen  Schlegel, Charlotte (Gnadenfrei)
  • Schleiermacher, Friedrich  grüßen  Prittwitz, Juliane Elisabeth (Lisette) von
  • Schleiermacher, Friedrich  grüßen  Zimmermann, Renate Christiane
  • Schleiermacher, Friedrich  grüßen  Aulock, Friederike Eleonore Elisabeth von
  • Schleiermacher, Friedrich  Brief  erbitten  Schleiermacher, Charles
Metadata Concerning Header
  • Date: 21. November bis 31. Dezember 1797
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Lotte Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Gnadenfrei ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 2. Briefwechsel 1796‒1798 (Briefe 327‒552). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1988, S. 212‒221.

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