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Ludwig Tieck to Wilhelm Heinrich Wackenroder TEI-Logo

Halle, am 12. Juni 1792.
Lieber W.!
Endlich habe ich einmahl wieder einen Brief von Dir erhalten, willst Du mich denn für meine Nachlässigkeit wirklich jedesmahl dadurch bestrafen, daß Du mir nicht antwortest? Das thu doch ja nicht. Auch dieser Brief kömmt einen Posttag später als er sollte, allein ohne meine Schuld, denn ich muste am vorigen Sonnabend nothwendig Bernhardis Vetter besuchen, weil ich es ihm als ganz gewiß versprochen hatte, Du glaubst gar nicht, welcher Contrast es ist, dieser Vetter und sein Vater, denn dieser ist ein so vernünftiger Mann, als es vielleicht nur wenige giebt, ich bin einen ganzen Nachmittag bei ihm gewesen und mich sehr unterhalten, er hat mehrere recht artige Gemählde und Kupferstiche und spricht darüber sehr vernünftig, daß er ein Schwärmer von einer andern Seite ist (wie Du vielleicht schon von Bernhardi erfahren hast) sieht man ihm vorzüglich an den Augen an. Der Vetter ist wie immer ennuyant, und dieser Prophet gilt so wenig in seinem Vaterlande als irgendwo. – Doch genug von diesem Menschen, mein Brief möchte sonst eben so langweilig werden, als er selbst ist.
Was ich mache? Wir haben ausgemacht, daß ich gegen Dir recht aufrichtig sein soll und so muß ich Dir denn freilich wohl sagen, daß ich einige Tage kranck, recht kranck gewesen bin und selbst nahe daran war, etwas schlimmer als kranck zu werden. Erschrick nicht, ich will es Dir umständlicher erzählen. Lieber W., wenn Du recht glüklich sein willst auf mehrere Stunden, so ließ den zweiten Theil vom Genius der diese Ostermesse herausgekommen ist, er hat mich äusserst glüklich gemacht, es ist fast gar nichts Wunderbares darinn, aber ich habe mich so ganz und gar darinn wiedergefunden, alle meine Lieblingsideen so schön ausgeführt, daß ich dem Verfasser ausserordentlich gut geworden bin, ließ ihn nächstens, und besonders aufmercksam die Scenen bei dem Einsiedler, dies ist nach meiner Meinung das Schönste, der Triumph des Verfassers, so dachte ich mir meinen Almansur (wenn Du Dich noch dieses flüchtigen Aufsatzes erinnerst) dies war mein Ideal, so hatt’ ich schreiben, so alles sagen wollen. –
Ich bekam beide Theile vom Genius und weil Schwieger oft bei mir ist, und sich fast eben so oft ennuyirt und weil mit Schmohl nicht so recht etwas anzufangen ist und am meisten weil ich mir vom zweiten Theil sehr viel schönes versprach, so machten wir aus, daß ich ihnen beide Theile hintereinander vorlesen sollte, wir fingen um 4 an. Es interessirte sie ausserordentl., wie der erste Theil denn wohl jeden anziehn muß und wir machten nun aus, daß Schwieger dort bleiben sollte bei uns, weil vorauszusehen war, daß wir schwerlich vor zwei Uhr in der Nacht zu Ende kommen würden, unsre Rechnung traf sehr zu, denn nach neun hatten wir den ersten Theil geendigt. Der zweite ward angefangen, ach! und ich bin lange nicht so glüklich gewesen, besonders bei jenen Scenen, von denen ich Dir schon gesagt habe und grade bei diesen (es war schon nach 12 Uhr) fingen meine beiden Zuhörer alle Augenblick an einzuschlafen, weil hier eigentlich keine Handlung, kein Fortgang der Geschichte war, doch ich war in einer zu schönen Stimmung, alle Menschen waren mir so lieb, die Welt so theuer geworden, daß ich mich darüber gar nicht ärgern konnte, sondern ich las stets weiter, mit eben dem Enthusiasmus, mit eben dem ununterbrochenen Eifer, nach 2 Uhr war das Buch geendigt. Eine kleine Pause, worinn ich nichts sprechen, nichts denken konnte, alle Scenen wiederholten sich vor meinen Augen, mir war so zu Muth, wie Dir nach dem ergreifenden Akt einer Tragödie während der schaalen Musick, ich hörte das Geschwätz um mich her, ohne es zu vernehmen, ich lag in den lieblichsten Träumen eingewiegt, ich empfand, wie ich nur selten, nur in den schönsten Stunden der glüklichsten Begeisterung empfinde, ich stand so viele Stufen höher als gewöhnlich, tausend Ideen, tausend grosse Vorsätze schwebten auf goldenen Wolken um mich her und winkten mir lächelnd entgegen – doch wozu will ich Dir beschreiben, was keiner als grade Du besser empfindet. – Schmohl u. Schwieger gingen in die Kammer um sich schlafen zu legen, ich wollte die Nacht auf einem Stuhl zubringen, wie ausgemacht war. – Das Licht ward entfernt, ich war allein, Nacht um mich her, nur eine sommerliche Dämmerung brach sich durch die Fenster und kuckte schläfrig hinter den weißen Gardinen hervor, die Nacht schien mit trüben verdrüßlichen Augen nach dem Tage hinzublicken. Ich stand gedankenvoll mit dem Arm auf einen Stuhl gelehnt, in jener schönen erhabnen Schwärmerei verlohren, nur für Schönheit empfänglich, süsse Töne wie abgebrochene Gesänge schwärmten um mein träumendes Ohr, rosenfarbene Bilder umgaukelten mich mit blauen Schmetterlingsflügeln, – als plözlich – noch schaudre ich wenn ich daran denke, noch kann ich die Möglichkeit nicht begreifen – als wie in einem Erdbeben alle diese Empfindungen in mir versanken, alle schöne grünenden Hügel, alle blumenvollen Thäler gingen plözlich unter, und schwarze Nacht und grause Todtenstille, gräßliche Felsen stiegen ernst und furchtbar auf, jeder liebliche Ton wie verweht, Schrecken umflog mich, Schauder die gräßlichsten bliesen mich an, alles ward um mich lebendig, Schatten jagten sich schrecklich um mich herum, mein Zimmer war als flöge es mit mir in eine fürchterliche schwarze Unendlichkeit hin, alle meine Ideen stiessen gegeneinander, die grosse Schranke fiel donnernd ein, vor mir eine grosse wüste Ebne, die Zügel entfielen meiner Hand, die Rosse rissen den Wagen unaufhaltsam mit sich, ich fühlte es wie mein Haar sich aufrichtete, brüllend stürzte ich in die Kammer. – Jene, in der Meinung ich will sie erschrecken, schreien ebenfalls, als plözlich sich die kleine Kammer wie zu einem weiten Saal ausdehnt, in ihm zwei riesenmässige Wesen, groß und ungeheuer, mir fremd, deren Gesicht wie der Vollmond ist (o jezt versteh ich erst ganz diese vortrefliche Schilderung im K. Lear) mir war als sollt’ ich niederstürzen, die Angst und Wuth schüttelte alle meine Glieder, ich hätte beide niedergestochen, hätt’ ich einen Degen in meiner Gewalt gehabt. Ich war auf einige Sekunden wirklich wahnsinnig. Jetzt kam eine verlorne Idee zurück, ich stürzte vorüber, den Zügel wiederzufassen, der Wagen stand, um Gotteswillen! ich werde rasend! rief ich u. sanck halbohnmächtig nieder, Alles gewann nach einem kleinen Kampfe seine natürlichen Umrisse wieder, ich fand mich selbst wieder. Ich war äusserst ermattet. Alle meine Pulse klopften hörbar. Meine Phantasie arbeitete aber immer noch, wie ich mich nur von wenigen Stunden erinnern kann, der Anblick des weissen war mir besonders schrecklich, Schmohl muste sich daher seinen Ueberrock anziehn, er war mir noch immer etwas fremd, ich entsezte mich noch jedesmahl, so oft ich ihn ansahe. Höchst ermattet legte ich mich endlich aufs Bette, aber alles erschreckte mich, die Thür der Kammer stand auf und unser Zimmer war mir wie das Reich des Todes, man muste die Thür zumachen, über eine Stunde brachte ich in einem Zustande zu, der einer Ohnmacht des Körpers nahe war, indeß alle Kräfte der Phantasie krampfhaft arbeiteten. Das Licht ward endlich ausgelöscht. Sobald ich die Augen zumachte, war mir als schwämme ich auf einem Strom, als löste sich mein Kopf ab und schwämme rückwärts, der Körper vorwärts, eine Empfindung die ich sonst noch nie gehabt habe, wenn ich die Augen aufmachte, war mirs, als läg ich in einem weiten Todtengewölbe, drei Särge nebeneinander, ich sehe deutl. die weissen schimmernden Gebeine, alles dehnte sich in eine fürchterliche Länge, alle meine Glieder waren mir selbst fremd geworden und ich erschrack wenn ich mit der Hand nach meinem Gesichte faßte. Schmohl war mir immer noch ein fürchterliches Ungeheuer, das die einbrechende Dämmerung des Morgens zu fürchterlichen Gestalten umwandelte. So brachte ich noch eine entsezliche Stunde zu, alle Schrecken des Todes u. d. Verwesung umgaben mich, alles schöne war in mir erstorben, ich konnte keinen angenehmen Gedanken denken. Einige mahl schlief ich ein, Du weißt daß das Einschlafen mit einer krampfhaften Zuckung anfängt, diese war aber so gewaltsam, daß ich davon fürchterlich in die Höhe geworfen wurde. Endlich schlief ich ein und erwachte äusserst ermattet. Ich konnte den ganzen Tag nicht ausgehn und mich kaum von einem Stuhl zum andern bewegen.
– Dieser Vorfall hat die Besorgniß, die ich Dir schon ehedem mitgetheilt habe und die mir so fürchterlich ist, daß ich nehmlich wahnsinnig werden möchte, um vieles vermehrt, um vieles wahrscheinlicher gemacht.
Wer weiß
Was in der Zeiten Hintergründe schlummert
sagt Karlos, und auch ich fürchte das Erwachen mancher noch jezt verborgenen Furchtbarkeit, denn Unglück und Traurigkeit war ja mein Schicksal von meinen frühsten Jahren, es wird sich jezt nicht ändern, ach wüstest Du, welche bange Ahndungen mich jezt manchmal umschweben, ich sollte mich doch schon daran gewöhnt haben alles zu verlieren, was mir in der Welt theuer ist, aber noch habe ich es nicht so weit bringen können, vielleicht kann ich es nie, und habe ich denn gewonnen, wenn ich es kann? – Beklage mich, lieber Freund, Du wolltest mir nicht glauben, daß ich nie glüklich werden könne, nimm jezt immer meine Ueberzeugung an. –
O verzeih’ mir meine Schwärmereien, die Dich nur ängstigen müssen, aber Aufrichtigkeit sollte ja das erste Gesetz unsers Briefwechsels sein, ich will dies Gesetz nicht zuerst brechen, dies mag meine Weitläuftigkeit entschuldigen, nur unter solchen Freunden, wie wir sind und bleiben wollen, ist es verzeihlich, viel von sich selbst zu sprechen, und meine Empfindung sagt es mir nur zu oft, daß meine Eltern und Geschwister und Deine Freundschaft das Einzige sind, was mich noch an diese Welt fesseln können, ich wünschte oft, von diesen weniger geliebt zu werden, um ohne einen einzigen wehmüthigen Rückblick in das Leben – sterben zu können, der einzige Augenblick, in welchem ich gewiß glüklich sein werde. – Ich falle wieder in den schwermüthigen Ton, ich muß weinen, o habe Geduld mit meiner Schwäche, bester, liebster Freund, lege den Brief auf einige Zeit weg und laß Dir Deine Zärtlichkeit sagen, daß ich mich jezt besser befinde und glaube ihr diesmahl immer. –
Daß ich Dir schreibe, hat mich äusserst schwermüthig gemacht. Ich bin jezt überhaupt schwächer geworden, als ich vordem war. Am Sonntag vor acht Tagen war ein kleiner Ball bei Reichardts, ein Gartensaal ward sehr poetisch mit Tannenzweigen und Blumenkränzen ausgeschmückt, ich half mit daran arbeiten, am Sonntag früh aber ward ich von Jasmin und von Zugluft so schwach, daß ich kaum aufrecht stehen konnte, alle meine Glieder zitterten, ich sah’ wie ein Todter aus, nur eine gewaltsame Cur, wie gewöhnlich konnte mir helfen, ich lief in der größten Sonnenhitze, so starck ich nur konnte, nach der Stadt, tranck hier schnell recht starken Caffé, und lief dann in der brennenden Hitze des Mittags eben so schnell zurück. Dadurch war mir um vieles besser. Doch bin ich beim Tanzen mitten in der größten Freude nicht im mindesten vergnügt gewesen, die Vergangenheit verfolgt mich allenthalben, gleich einem zu zärtlichen Freunde. Alles Tanzen kam mir, ich weiß nicht warum, so unnütz vor, das Vergnügtsein so unzweckmässig. Ich überzeuge mich täglich mehr davon, daß ich nicht für die Welt gehöre, in der Einsamkeit ist mir besser.
Der Ball endigte sich um 11 Uhr, ich hatte ziemlich viel, aber ohne alle Theilnahme getanzt, fast alle Gesichter waren mir zuwider, ich bemerckte allenthalben Affectation und elende Eitelkeit, wo es vielleicht auch nicht der Fall war. Ich ging mit Bothe, Schmohl und Sack nach der Stadt, unter dem unerträglichsten Geschwätz, das mir in meiner wehmüthigen Stimmung höchst zuwider war, ich sprach kein Wort, mögen sie es meinethalben immer für Ziererei gehalten haben! Es war am 3ten Juni, (der Geburtstag der Reichardtinn) vielleicht bist Du ausgegangen gewesen und erinnerst Dich, daß es ein göttlicher Abend war, der Mond schien so hell, die Luft war so heiter und war der Himmel so blau. Ich begleitete mechanisch meine Gefährten bis zum Thor und kehrte dann um, ohne von ihnen eben bemerckt zu werden und ohne ein Wort zu sprechen. Ich forderte von der Natur Ersatz für die verlorenen Stunden und erhielt ihn, ich war wirklich einmahl glücklich. Ich ging neben Gärten hin, wo mich der balsamische Duft von tausend Blumen umfing, die Lichter erloschen nach und nach in den Häusern, die Hunde bellten mir allenthalben nach, ich ging vor einer Wassermühle vorbei, deren schäumender Wasserfall wie Flammen in dem Strahl des Mondes fluthete, alles war so schön, so abentheuerlich. Ich sezte mich oft nieder, die schönen Gegenden zu übersehen. Die Saale glänzte vor mir wie ein grosser See, tausend kleine Sterne zitterten auf der ungewissen Oberfläche, ein leichter goldner Nebel ruhte über die ganze Gegend, die Wogen der Saale tönten in der einsamen Nacht wie die Schritte eines Wanderers, bald wie Harfentöne, bald wie das Rudern eines Schiffes. O wie oft dacht’ ich an Dich, wie oft wünscht’ ich Dich an meine Seite. Endlich stieg ich auf die Felsen, die schönste Gegend bei Giebichenstein, wie alles romantisch vor mir lag, mir war, als lebt’ ich in der fernsten Vergangenheit, die Ruinen des Ritterschlosses blickten so ernsthaft nach mir hin, die Felsen gegen über, die Felsen über mir, die wankenden Bäume, das Hundebellen, alles war so schauerlich, alles stimmte die Phantasie so rein, so hoch. Oft saß ich halb im Traum, halb wachend, mit einem Auge süsse Träume sehend, mit dem andern in die schöne Gegend blickend. – Rührend ist mir immer der Untergang des Mondes, er senkt sich so still so bescheiden, einem Grössern Platz zu machen, voll so ruhiger Schaam und doch ist es, als könnte man ihm die tiefe Kränkung ansehn, daß er weichen muß, daß er nicht mehr nicht heller glänzen kann – ach, verzeih! Du siehst, wie ich heut zum Schwärmen aufgelegt bin. – Das Heraufkommen des Tages ist mir immer so bang, so erwartungsvoll, die ganze Natur scheint aufmercksam. Jetzt stieg ich auf den höchsten Felsen. – Das Morgenroth glänzte um den ganzen Horizont, – kurz, diese Nacht gehört zu den schönsten Stunden meines Lebens, sie wird mir unvergeßlich sein, ich habe hier manches gelernt, manches empfunden, was ich vorher nicht wuste, nicht empfand.
Erinnerst Du Dich vielleicht noch, daß ich Dir einst in Berlin versprach, die Geschichte meiner Empfindungen und Ideen von meiner Kindheit an niederzuschreiben, ich bin jezt sehr oft in einer Stimmung, die mich an dies Versprechen erinnert. Ich will Dir nächstens den Anfang davon schicken, wenn es Dich noch so interessirt, wie vordem.
Ich hatte mir vorgenommen, Dir den Plan zu unserm Lamme zu schicken, allein ich habe noch nicht Zeit gehabt ihn aufzuschreiben, aber wenn das geschehn ist, nicht wahr dann hilfst Du mir doch auch daran arbeiten?
Was meine Einrichtung betrifft, so will ich Dir nur ganz kurz davon schreiben. Ich wohne in einer ziemlich engen Strasse, im dritten Stock, was aber nicht sehr hoch ist, in einem eben nicht grossen Zimmer mit einer Kammer, ich stehe nach 4 Uhr oft nach 5 erst auf, die Aufwärterin weckt mich und bringt den Kaffé, der Friseur frisirt mich, ich ziehe mich an und höre – 6–7 empirische Psychologie bei Jakob,– 7–8 Exegese bei Knapp, dann von 9–10 Logick bei Jakob, und von 2–3 Nachmittags röm. Antiq. bei Wolf, alle meine Collegia interessiren mich noch so ziemlich, besonders das letztere. Dann gehe ich zu Reichardts oder gehe spatzieren, oder lese, oder thue nichts, oder bin kranck, so wie in Berlin, Gesellschaft fehlt mir fast immer und doch habe ich ihrer immer noch zu viel und zu offt.
Reichardts ausgenommen habe ich jezt doch noch einen Menschen, zu dem ich mit Vergnügen gehe, und das ist – Burgsdorff, wir haben unsre alte Bekanntschaft erneuert und leben jezt auf einem recht vertrauten Fuß. Weil er reich ist, lebt er hier recht brillant, er wohnt auf dem Wege nach Giebichenstein in einem Garten, hört diesen Sommer keine Collegia, sondern studirt bloß etwas für sich. Er ist sehr vernünftig, viel vernünftiger als in Berlin, ob er gleich eben nicht in der besten Gesellschaft lebt, ich halte ihn jezt wirklich für einen grossen Kopf, er kann gewiß alles, was er will. Gleich nach dem ersten Besuch muste ich ihm durchaus etwas von meinen Sachen vorlesen, denn er wollte durchaus nicht glauben, daß ich nichts Poetisches geschrieben hätte, er hat (verzeih meine Schwachheit) die Anna Boleyn gehört, und ich bin mit mir selbst sehr zufrieden, daß ich sie ihm vorgelesen habe, denn er hat mir darüber sehr scharfsinnige und interessante Bemerkungen mitgetheilt, besonders über den Character Heinrichs, auch über den Alla-Muddin habe ich manches Gute von ihm gelernt, er besizt sehr viel natürlichen Scharfsinn, wenn er diesen durch Studium ausbildet, kann er einst in jedem Fache viel leisten.
– Vielleicht machen wir beide nächstens eine kleine Reise zusammen nach dem Harz, meine Gesundheit scheint wirklich eine Reise zu fordern. – Nächstens will ich auch auf dem Petersberg die Sonne aufgehn sehn, es soll eins der entzückendsten Schauspiele sein.
Ich übersehe wieder Deinen Brief und freue mich, daß Du so vergnügt gewesen bist, sei es oft und auch ich bin es dadurch etwas mehr. Hüte Dich doch ja vor zu viel Arbeiten, Du kannst noch glücklich sein, aber bist Du einmahl auf dem Punkt, auf dem ich stehe, dann ist jeder Wunsch vergebens, die wahre Melancholie läßt ihren Gefangenen so wenig wieder frei wie der Acheron.
Die Erscheinung des anmaßlichen Gespenstes hat auf Dich einen andern Eindruck gemacht, als sie auf mich gemacht haben würde, ich sehe, daß Du darinn stärker bist, als ich. So etwas versezt mich jedesmahl in ein wehmüthiges Entsetzen (wie es der Verfasser des Genius sehr schön nennt) ich würde wirklich sehr geschaudert haben, ja ich hätte können kranck davon werden, denn für mich sind oft Wirklichkeit und Nachbildung in Ansehung der Folgen einerlei. – Spillner hat eine sehr enge Kammer, worinn gerade ein Bett und ein Stuhl Platz haben, die Thür hat ein Glasfenster, ich war neulich gerade da, als ihn Carow und Köhler besucht hatten. Spillner und Köhler sezten sich mit dem Lichte in diese enge Kammer und ich schauderte so heftig, daß ich dadurch in eine Art von Wuth versezt ward, denn sie waren mir beide mit einemmahle ganz fremd (eine Empfindung die sich bei mir sehr leicht einstellt) und sahen wie wahnsinnig aus. Daß Wahnsinn anstecke, wird mir immer deutlicher, und so glaube ich muß man auch die Worte Hamlets verstehn: „Die Kerl’s werden mich noch wirklich verrückt machen!“ Denn ich glaube daß auch der Mensch (wenn er schwache Nerven hat) wirklich wahnsinnig wird, wenn er sich einige Zeit wahnsinnig stellt, und Sh. macht also wieder zwei schöne Contraste zwischen dem starken heldenmüthigen Edgar und dem schwachen Hamlet. – Ob noch kein Schauspieler nach einer wahnsinnigen Rolle wirklich wahnsinnig geworden ist? Man hat von so etwas nur wenig Nachrichten. Von mir würde ich etwas ähnliches befürchten. – Daß der Dichter, der einen Wahnsinnigen schildert, wirklich es indeß sein müsse, davon bin ich überzeugt.
Du kommst also wahrscheinlich nicht nach Halle? – Du glaubst nicht wie außerordentlich leid mir das thut, denn ich werde mich wirklich aus mehreren Ursachen ungern von Halle trennen, ich werde hier wahrscheinlich die Bekanntschaften mehrerer Professoren machen, Reichardts sind immer sehr freundschaftlich gegen mich, ich habe alle Collegia ganz frei, ein Grund, der, so nichtswürdig er ist, für mich doch immer ein Grund bleibt. – Doch gehe ich wahrscheinlich mit Dir nach Erlangen, wenn es nicht anders sein kann, denn lieber dort mit Dir, als hier ohne Dich. – Obgleich Woltaer hier ein sehr geschickter und berühmter Jurist ist, und Du von dem Hallischen Ton, (der sich überdies täglich bessert) gar nichts zu befürchten hast, denn ich bin nun schon so lange hier und kenne noch keinen einzigen Studenten, es fällt mir auch keiner zur Last. Viele Studenten die von hier nach Erlangen gegangen sind, sind auch dort sehr unzufrieden, man soll zuviel davon sprechen, wenig so finden, wie man es hört. – Könntest Du denn nicht wenigstens ein halb Jahr in Halle studieren? Es wird mir sehr traurig sein, mich hier von den herrlichen Gegenden zu trennen, doch Du wirst mir dies ersetzen. – Wenn Du nur schon auf Michaeli von Berlin abgehn könntest? Ist dies denn nicht möglich?
Darf ich wohl auf diesen Brief schon über acht Tage (heut ist Dienstag) Antwort erwarten? – Schreib mir doch recht oft, recht oft! hörst Du? – Du glaubst nicht, mit welcher Sehnsucht ich einem Briefe von Dir entgegensehe. – Wenn Du Zeit und Lust hast, schreib mir öffter, auch wenn ich Dir nicht geschrieben haben sollte, denn alles was von Dir kömmt, ist mir erfreulich. Herzlichen Danck noch dafür, daß Deine Briefe immer so lang sind, wenn ich es kann, will ich es jederzeit erwiedern. – Antworte mir bald!
Der Vorhang, von dem Du mir schreibst, ist nach meinem Urtheil abgeschmackt, die Gefrässigkeit! – soll sie denn ein Gegenstand der Tragödie oder Komödie sein? – Die Geschichte Saturns und seiner Kinder wäre ein allerliebstes Sujet. – Dabei fällt mir Deine Aufgabe wegen der Allegorie ein, ich kann Dir diesmahl nichts darüber schreiben, aber nächstens. – Du hast mich auch lezt über die Wirkung des Erhabenen zur Verantwortung gezogen, ich möchte mich an Dich rächen und Dir ein anderes Räthsel aufzulösen geben. Hast Du Zeit und Lust nachzudencken, so schreib mir doch nächstens Deine Gedanken über das Naive, es ist ein äusserst schwerer Gegenstand, von dem wir schon im Thiergarten sprachen und an den ich mich lange nicht habe wagen wollen, endlich aber glaube ich etwas Festes darüber aufgefunden zu haben, darum schreib’ mir doch, ob sich hierüber auch unsre Gedanken, wie so oft begegnen. Sollte es Dir nicht gelegen sein, (denn oft thut der Zufall der uns gerade auf eine Idee führt hierinn mehr als das schärfste Nachdenken) so will ich Dir nächstens einige Bemerkungen darüber schicken, die, soviel ich mich erinnern kann, neu sind. Urtheile dann darüber.
Das Spiel der Engst meinst Du werfe in der Entführung einen Schleier über alle Fehler des Stücks? über alle? Nach meiner Meinung nur über einige, denn Du selbst hast einen davon sehr schwer empfunden, die Naseweisheit (und zwar der Engst selbst) der Nichte gegen ihren alten Oheim, das elende Spötteln über die Väter, dies hat ihr Spiel doch nicht verschleiern können. Aber wie konntest Du Dich so in mir irren? Wie konntest Du glauben daß ich hier Deine richtige, zarte Empfindung schelten würde, eine Empfindung die für Dein vortrefliches Herz so laut spricht. Jene Stelle die Du erwähnst, hätte mir das Stück (seine übrigen Fehler abgerechnet) schon allein verhaßt machen können. Ich kann das Spötteln und Witzeln über etwas was Ehrwürdig ist und sein muß, durchaus nicht leiden, es wirft einen sehr nachtheiligen Schatten auf den Verfasser, der so etwas schreiben kann und einen noch nachtheiligern auf das Zeitalter dem solche Witzelei gefallen kann. – Unsre Verfassung duldet keine Codrus, Curtius oder Scävola’s mehr, unsre bürgerliche Verfassung hat allen Patriotismus, alle grossen Tugenden erstickt, nur die sanftern, menschlichen sind noch übrig, um den Menschen über das Thier zu erheben, und auch diesen droht die schändliche Hand unsrer Frivolität, und sie würckt leider auf unser Zeitalter mehr, als es die Bürgerkriege Roms konnten. O warum steht kein Dichter auf, der diesem Ungeheuer in den Arm falle? Er würde sich den Danck der Menschheit verdienen. Schon sind Empfindsamkeit und Liebe gebrandmarkt, diese Kinder des Himmels, welche er nur seinen Lieblingen schenckt, Kindesliebe und Ehrfurcht gegen das Alter gehören in unserm Zeitalter zu den plumpen Vorurtheilen, Ehrfurcht für Religiosität ist nur für den Dummkopf – ob nicht nächstens ein neues Genie aufstehn wird die Freundschaft eines Karlos und Posa lächerlich zu machen? Denn dies ist ja noch das Einzige woran man sich nicht versündigt hat. Noch diese Tugend umgestürzt und der Mensch steht da in seinem nackten elenden Egoismus, – er sich selbst genug, der Elende! – Ohne Tugend, ohne Enthusiasmus, – weniger als ein Thier! O Schande unserm Zeitalter! – Suche im Shakespear nach, in seinen ausgelassensten Characteren, allenthalben vergißt er nie daß Eltern und jeder Alte uns ehrwürdig sein müssen, – diese Ausgelassenheit war unserm aufgeklärten Zeitalter aufbehalten, denn uns regiert die Vernunft, wir bedürfen keiner andern Lenkung. – O Fluch der Vernunft, die uns das nimmt, worauf der Mensch allein stolz sein kann, die uns lehrt daß Dankbarkeit und Liebe gegen Eltern nur Vorurtheile sind. – Mag man mich lieber dumm nennen und einfältig, wenn ich nur ein Mensch bleibe.
Kann man sich etwas abgeschmackteres denken, als den Einfall: „ich habe mich mit meinem Vater nie gezanckt und doch war ich schon zwei Monathe alt, als er starb!“ – Wenn dies nicht falscher Witz ist, so muß ich noch erst lernen, was wahrer sei.
Aber ein noch so feines Spiel kann nach meinem Urtheil nie die übrigen Fehler des Stücks verbergen, den unausstehlichen Witzling Czelizky, die alberne Gans Hellmuth, den elenden Hannswurst Reinwald, den zur Verächtlichkeit schwachen Onkel und die über alles unausstehliche Rolle der Engst. – Ich muß Dir gestehen, es würde mir nichts verhaßter sein, als mit einem solchen Frauenzimmer umzugehen, sie ist in meinen Augen Carrikatur. So unausstehlich witzig und stets sich so bewußt, daß sie es ist, so über alles urtheilend, was sie nicht versteht, auf eine so widrige Art verliebt! – Ließ die Beatrix noch einmal im Viel Lärmen um Nichts und Du wirst dann vielleicht Natur von der Phantasie des Dichters unterscheiden lernen. Ein solcher Character so durchgeführt, kann nie interessiren, bei Sh. wird er in Situationen gesezt, wo dieser Muthwille, dieser Leichtsinn in ein liebenswürdiges Licht gesezt wird, diese Lustigkeit dient bloß dazu, die Rührung zu präpariren, Gott soll mich bewahren, daß ein Zug in meiner Anna so werde wie diese Charlotte, oder wie sie heißt. – Vielleicht ist Dir das Stück weniger widrig gewesen, weil Du keine anderen Stücke von Jünger kennst, denn sonst würdest Du gesehn haben, daß es nichts als die ekelhafteste Wiederholung seiner eignen Stücke ist, dieselbe Verwickelung, dieselben Personen, dieselben Spässe.
Hast Du je etwas unnatürlicheres gesehn, als Lippert im Reinald? Je etwas widrigeres als den Theatersprung, wenn er das Essen vermißt?
Und doch wette ich, das ganze Parterr hat gelacht. Denn je unnatürlicher, je besser! ist bei ihm der Grundsatz. O wie nöthig hat Berlin einen Dramaturgen, der seinen ungehobelten Geschmack etwas ausfeile. – Wo ein Lippert glänzt, da sollte Thalia billig noch auf einem Karrn herumfahren.
Mach doch, daß ich Dein und Bernhardis Protokoll über die Anna bald erhalte, ich freue mich recht darauf, denn ich bin eitel genug zu wünschen, das Stück so vollkommen als möglich zu machen.
Warum schreibt mir denn Rambach nicht? Erinnere ihn doch daran, Dich wirst Du wohl selbst erinnern. Grüsse ihn und Bernhardi, sage dem Leztern ich würde ihm nächstens schreiben. – Bleibe gesund und vergnügt, und lebe wohl, und denck u. schreib an mich. –
Tieck
Was Befriedigendes über die Allegorie kann ich Dir nirgends nachweisen, das Beste steht noch darüber im Winkelmann, Lairesse und du Bos haben auch darüber geschrieben, Sulzer hat einige recht gute Anmerkungen, aber das Ganze ist so frostig und oberflächlich, so wenig philosophisch, wie alles in der Art bei ihm. – Mir scheint es als wenn die ausgeführte Allegorie mehr in den zeichnenden und bildenden Künsten als in der Dichtkunst an ihrer Stelle wäre. Ganze grosse allegorische Gedichte sind für mich Undinge. – Die Allegorie auf dem Vorhange ist nach Deiner Schilderung gar keine Allegorie, es ist durcheinandergemischter Unsinn, lauter Widersprüche. – Wozu denn die komische und tragische Muse und dann noch die Göttinn der Schauspielkunst? Wahrlich nicht sehr antick, – und reissen denn die Dichter nicht mehr als die Schauspieler dem Laster die Larve ab, wozu die Tugenden im Gefolge der Schauspielkunst? Wozu die Tugenden überhaupt? Wozu diese doppelte allegorischen Personen, Tugenden und Schauspielkunst? Eins von beiden ist offenbar überflüssig, kann die Schauspielkunst nicht allein handeln, wozu ist sie da, handelt die Göttinn selbst, wozu der Tugenden? – Und wie sind denn die Laster in dem Tempel gekommen? Die Bühne selbst ist schon ein Bild des Lebens, man hätte also keine solche zusammengesezte Allegorie wählen sollen. – Diese Laster und Tugenden machen, daß ich das ganze nicht verstehe, ich wünsche Du hättest mir die gedruckte Anzeige mitgeschickt.
Wozu denn aber überhaupt die alte Idee von Tugend und Laster beim Schauspiel? Es kommt mir immer vor, als hätte sie ein gutmüthiger Priester erfunden, der dadurch sein Besuchen des Schauspielhauses hätte bemänteln wollen. Das Schauspiel sei schön in allen seinen Theilen, der moralische Nutzen ist bloß zufällig und insofern jede Schönheit unsern Sinn für Schönheit verfeinert und veredelt, insofern hat jede schöne Kunst auch unmittelbaren Einfluß auf unsern Character, ich erinnere mich nicht, daß ein Mahler schon diesen Gedanken als Allegorie behandelt hätte, ob er sie gleich nach meinem Urtheil verdient und es auch vielleicht keine unüberwindliche Schwierigkeit wäre, den specielleren Einfluß des Schauspiels eben so allegorisch darzustellen.
An Wißmann will ich schreiben und das nächstens. Ich habe nun schon so viel gute Menschen gekannt, die nicht glücklich waren und es auch nie werden konnten. – Wehe dem der den Kindereien dieser Welt entsagt, er muß diese Verachtung theuer bezahlen!
Daß Bernhardi äusserst empfindlich ist, das glaube mir einmahl auf mein Wort, er hat es mir auch einst, als ich ihn darum fragte, selbst gestanden, aus dem, woraus Du das Gegentheil schliessest, folgt es auch so eigentlich nicht. Aber ich sehe, daß er mich doch noch verkannt hat, ob er mich gleich sonst so ziemlich kennen muß. Den Vorwurf der Zurückhaltung verdiene ich auf keine Art. – Rambach und Bernhardi sind offenbar vertrautere Freunde, als ich und Bernhardi waren, warum sollte ich mich denn also mit meinem Tadel bei Bernhardi aufdrängen, hätte es nicht geschienen, als fühlte ich mich über Rambach erhaben, wäre es nicht grobe Anmassung gewesen? Wenn er anfing darüber zu sprechen, sagte ich ihm jedesmahl aufrichtig meine Meinung. Hätte ich aber Rambach sehr gelobt, hätte es dann nicht wieder geschienen, als wünschte ich, daß Bernhardi dies Rambach wieder sagte; in meinen Augen hätte dies einer Sucht sich einzuschmeicheln nicht unähnlich gesehen; oder Bernhardi hätte vielleicht glauben können, ich wollte ihm selber schmeicheln, da von den Verdiensten unserer genauen Freunde immer auf uns selbst etwas zurückfällt. Mein ganzer Fehler war also eine vielleicht übertriebene Delikatesse. – Wenn Du Gelegenheit hast, so gieb ihm davon etwas zu verstehen, um mich von jenem Vorwurf, der mich und ihn beleidigt, zu befreien.
Die Reichardtsche Familie läßt Dir vielmahl grüssen. Hensler studiert jetzt in Kiel. Reichardt hat den Theseus von Rambach gelesen und sein Urtheil ist fast das Deinige, er findet viele schöne Verse, aber eben so viele Härten, die Scene im Garten zwischen Ariadne und Theseus findet er etwas frostig, und er sagt, ein Componist, der es wüste, was im Gesange auf dem Theater Effekt machte, würde ihm fast die Hälfte des Gesanges wegstreichen.
Lebe recht wohl
Tieck.
am 12. Juni.
Sei doch so gut und besorge einliegende Briefe. – Sei nicht böse darüber. –
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  • Date: Dienstag, 12. Juni 1792
  • Sender: Ludwig Tieck ·
  • Recipient: Wilhelm Heinrich Wackenroder ·
  • Place of Dispatch: Halle ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2: Briefwechsel, Reiseberichte. Hg. v. Richard Littlejohns u. Silvio Vietta. Heidelberg 1991, S. 47‒58.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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