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Novalis to Wilhelmine von Thümmel TEI-Logo

W[eißenfels]. Den 8ten Febr[uar] 1797. [Mittwoch]
Aus einem Briefe der Danscour ersah ich, daß Sie sich meiner gnädigst errinnert hatten. Dis hat mich aufgemuntert mich selbst wieder bey Ihnen in Errinnerung zu bringen und diese Gelegenheit zu benutzen, um Ihnen meine zärtlichste Achtung zu bezeugen. Ich weis wohl, daß ich mit einer Entschuldigung des Vergangenen anfangen sollte – allein sollte meine peinliche Lage mich nicht längst bey Ihnen entschuldigt haben? Es war mir eine gute Portion Leichtsinn nöthig, um zeither nur noch so fertig werden zu können – um ruhig schlafen, arbeiten, denken, sprechen und gleich Andern seyn zu können. Rechnen Sie hierzu noch eine Menge andre Verdrießlichkeiten und Abhaltungen, so wird es Sie nicht mehr befremden, wenn ich, zufrieden das Nöthigste gethan zu haben – mich so tief, als möglich in die Fluth des menschlichen Wissens versenke, um, so lange ich in diesen heiligen Wellen bin, die Traumwelt des Schicksals zu vergessen. Dort blühn allein mir die Hoffnungen auf, die ich hier verliere – die hiesigen Rückschritte sind dortige Fortschritte – das verwundende Schwerdt wird dort zum beseelenden Zauberstabe und die Asche der irdischen Rosen ist das Mutterland der himmlischen. Ist nicht unser Abendstern der Morgenstern der Antipoden?
O! wenn noch Orakel vorhanden sind, so reden sie aus den Bäumen der Erkenntniß, so tönen sie in uns, so lesen wir sie im Sybillinischen Buche der Natur. Meine Fantasie wächst, wie meine Hoffnung sinkt – wenn diese ganz versunken ist und nichts zurückließ, als einen Grenzstein, so wird meine Fantasie hoch genug seyn, um mich hinauf zu heben, wo ich das finde, was hier verloren gieng. Frühzeitig hab ich meine precaire Existenz fühlen gelernt und vielleicht ist dieses Gefühl das erste Lebensgefühl in der Künftigen Welt.
Wie sehr wünscht ich einmal mit Ihnen einige Tage in Grüningen verleben zu können. Im März komm ich sicher hin und dann mach ich mir das Vergnügen und hole Sie ab. Die Erfüllung des Wunsches macht gewiß Ihr Glück, wie das Meinige; daß wir dann endlich aufhören mögen für Söffchens Tage zu zittern, daß ich nicht mehr, wie ein verzweifelter Spieler lebe, dessen ganzes Wol und Weh davon abhängt, ob ein Blütenblatt in diese oder jene Welt fällt.
Leben Sie wol,
Beste Diemmeln, und
bleiben Sie die Freundinn
Ihres
Freundes Hardenberg.
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 8. Februar 1797
  • Sender: Novalis ·
  • Recipient: Wilhelmine von Thümmel ·
  • Place of Dispatch: Weißenfels · ·
  • Place of Destination: Sondershausen · ·
Printed Text
  • Bibliography: Novalis: Schriften. Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg. v. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Bd. 4. Stuttgart u.a. 1975, S. 201‒202.
Manuscript
  • Provider: Privatbesitz
Language
  • German

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