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Novalis to Coelestin August Just TEI-Logo

Freyberg: den 26sten Dec[ember] 1798. [Mittwoch]
Es freut mich, wenn meine abgerissenen Gedanken Ihnen einige beschäftigte Stunden gemacht haben – wenn sie Ihnen gewesen sind, was sie mir waren, und noch sind, Anfänge interessanter Gedankenfolgen – Texte zum Denken. Viele sind Spielmarken und haben nur einen transitorischen Werth. Manchen hingegen hab ich das Gepräge meiner innigsten Ueberzeugung aufzudrücken gesucht. Gern gesteh ich, daß ich selbst glaube, sehr entfernt von Ihrer Weise die Religion zu betrachten und zu beurtheilen, einen Weg eingeschlagen zu haben, der Ihnen wunderseltsam scheinen muß. Indeß wir sind Freunde, und werden Freunde seyn, und hierin stoßen unsere Religionen, besser unsre Theologien, zusammen. Wenn Freundschaft, Liebe, Sittlichkeit und Thätigkeit das Resultat von beyden ist; so müssen wohl beyde Schwestern Glieder jener heiligen Familie von Religionen seyn, die, von jeher unter den Menschen einheimisch, die treuste Pflege alles Guten und Schönen bewiesen, in ihrem Schooße Tugend und Liebe in den wildesten Zeiten bewahrt und Trost und Hofnung, Muth und Zufriedenheit überall erhalten und verbreitet hat. Ihre Freundin hat durch Ihren Verstand sich Ihnen offenbart, da ein herzlicher Verstand der Hauptzug in Ihrem Charakter ist. Mir ist sie durch herzliche Phantasie nahe gekommen – denn dies ist vielleicht der hervorstechendste Zug meines eigenthümlichen Wesens – Sollte sich gerade in dem bedeutendsten Verhältnisse unsre mannichfache Verschiedenheit, der Grund unsrer ganzen menschlichen Verfassung nicht zeigen? Sie hängen mit kindlichem Sinn an den unwandelbaren Chiffern einer geheimnißvollen Urkunde, die seit Jahrtausenden unzählige Menschen mit göttlichem Leben erfüllt und Ihre ehrwürdigen Vorfahren ein langes Leben hindurch, wie ein Palladium, begleitet – einer Urkunde, die, außer wenigen unbegreiflichen Worten, Vorschriften und Beyspiele, Geschichten und Lehren enthält, die mit Allem übereinstimmen, was die besten und weisesten Menschen, was unser eignes Gewissen mehr oder weniger klar, als das Vortreffliche und Wahre empfohlen, kennen gelernt und bewährt gefunden haben. Es scheint sich in ihr noch über alles dieses eine unendliche Welt, wie ein Himmel, zu wölben, und eine entzückende Aussicht in eine himmlische Zukunft wunderthätig zu eröffnen. Mit welchem Herzen nehmen Sie an der Bibel ein Unterpfand Gottes und der Unsterblichkeit in die Hand – wie glücklich müssen Sie Sich vorkommen, wenn Sie Sich überzeugt sehen, an ihr eine überirdische Schrift, eine bleibende Offenbarung zu besitzen, in diesen Blättern gleichsam eine leitende Hand aus einer höhern Sphäre fest zu halten! – Ihre Theologie ist die Theologie des historisch-kritischen Verstandes; dieser sucht eine feste Grundlage, einen unumstößlichen Beweißgrund, und findet ihn in einer Sammlung von Urkunden, deren Erhaltung allein schon ein bestätigendes Wunder zu seyn scheint und für deren Glaubwürdigkeit alle historische Beweißmittel und Herz und Vernunft zugleich sprechen – Wenn ich weniger auf urkundliche Gewißheit, weniger auf den Buchstaben, weniger auf die Wahrheit und Umständlichkeit der Geschichte fuße; wenn ich geneigter bin, in mir selbst höhern Einflüssen nachzuspüren, und mir einen eignen Weg in die Urwelt zu bahnen; wenn ich in der Geschichte und den Lehren der christlichen Religion die symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen, Weltreligion – das reinste Muster der Religion, als historischen Erscheinung überhaupt – und wahrhaftig also auch die vollkommenste Offenbarung zu sehen glaube; wenn mir aber eben aus diesem Standpunkt alle Theologien auf mehr und minder glücklich begriffenen Offenbarungen zu ruhen, alle zusammen jedoch in dem sonderbarsten Parallelism mit der Bildungsgeschichte der Menschheit zu stehn und in einer aufsteigenden Reihe sich friedlich zu ordnen dünken, so werden Sie das vorzüglichste Element meiner Existenz, die Phantasie, in der Bildung dieser Religionsansicht, nicht verkennen.
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 26. Dezember 1798
  • Sender: Novalis ·
  • Recipient: Coelestin August Just
  • Place of Dispatch: Freiberg · ·
  • Place of Destination: Tennstedt ·
Printed Text
  • Bibliography: Novalis: Schriften. Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg. v. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Bd. 4. Stuttgart u.a. 1975, S. 270‒272.
Language
  • German

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