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Erasmus von Hardenberg to Novalis TEI-Logo

Wermsdorf, den 28. November 1794. [Freitag]
Ich gestehe Dir, als ich Deinen lieben Brief erbrach, wunderte ich mich im Anfange; obstupui et comae mihi ad montem steterunt; ich bin aber schon zu sehr an außerordentliche Fälle und Begebenheiten in unserm Leben und besonders in diesem Punkte gewöhnt, als daß ich mich nicht bald hätte hineinfinden sollen.
Daß Dein Brief Überlegung brauchte, wenn ich ihn ordentlich beantworten wollte, das siehst Du wohl selbst ein, deswegen ging ich gestern, da ich ihn früh erhalten hatte, den ganzen Tag im Walde herum, in tiefes Nachdenken versunken, aus welchem mich selbst eine lustige Abendgesellschaft nicht herausreißen konnte, so daß mich die Ideen, die mich den Tag über beschäftigt hatten, auch im Schlafe begleiteten und meine Träume mit interessanten Bildern verlebendigten; heute früh war es wieder mein erster Gedanke beim Aufstehen, und jetzt fühle ich mich vollkommen im Stande, Dir zu antworten.
Deine Aufforderung, Dir mit Humanität zu antworten, Deine Ungewißheit, ob meine Seele weiter als mein System sei? und ob ich Dich verstehen würde? könnte mich böse machen, wenn wir beide nicht einander das wären, was wir einander sind; jetzt schreibe ich es auf Rechnung der leidenschaftlichen Stimmung, in welcher Du im Augenblick des Briefschreibens warst, denn sonst hättest Du mich doch wohl besser kennen sollen, als daß Du mich zur Humanität gegen Dich aufrufen zu müssen hättest glauben oder einen Zweifel hegen können, ob ich Dich auch verstehen würde? Brauchst Du wohl einen Menschen von nur etwas feiner Bildung, ja sogar einen Naturmenschen, nur mit einem gefühlvollen Herzen, brauchst Du diesen, sag ich, zu erinnern, daß er gegen ein Wesen human sein soll, welches ihm das liebste und teuerste auf dieser sublunarischen Welt ist, und an dessen Schicksalen er, vom kleinsten bis zum größten, den wärmsten unbeschränktesten Anteil nimmt. Schmeicheleien sind für uns beide zu klein. Auch soll es kein Vorwurf sein, verzeihe, es war nur ein Ausbruch meines zu vollen Herzens. Du wünschest, ich soll mein Urteil suspendieren, Brüderchen, das hätte ich so getan, denn ohngeachtet der außerordentlichen Ähnlichkeit unserer Charaktere, die sich mit verschiedenen Nuancen in den meisten unserer Handlungen, Ideen und Empfindungen äußert und mich oft bis zum Erstaunen überrascht hat, und ohngeachtet, daß ich Dich auch vielleicht besser kenne als irgend jemand, so wäre es doch viel gewagt und zeugte von einem hohen Grade von Selbstvertrauen, wenn ich über Deine Verhältnisse mit einer dritten Person, die ich platt gar nicht kenne, und wo ich also gar nicht entscheiden kann, was Ihr Euch jetzt seid, viel weniger was Ihr Euch sein werdet, bestimmt aburteilen sollte. Daß ich Dir aber nicht im allgemeinen meine Meinung sagen sollte und zugleich Dich brüderlich warnen, damit Du nicht vielleicht Dein Herz mit Deinem Verstande davonlaufen läßt, das verbietet mir meine glühendheiße Liebe zu Dir, und meine Vorsorge für Dein Bestes. Brüderchen, die Folgen dieses Schrittes treffen Dein ganzes Leben, verzeihe mir also, wenn ich Dir mit der möglichsten Freimütigkeit sage, alles, was ich darüber denke und was mir dabei besonders in Deiner individuellen und singulären Hinsicht einfiel. Ich bin zwar fest überzeugt, wenn Du auch eine Unbesonnenheit begingest und es hinterher einsähest, daß Du Dich nicht darüber totgrämen oder dadurch aus Deiner männlichen Fassung würdest bringen lassen, Du würdest es vielmehr mit Geduld ertragen, es so viel als möglich zu verbessern suchen, und dabei immer fidel bleiben, es würde Dir aber doch vielleicht dadurch eine Art des feinsten Lebensgenusses entzogen, und der Verlust desselben würde Dir um so viel auffallender sein, je mehr Du fühltest, daß Du seine Freuden durch Deine eigene Schuld entbehren müßtest; und je größer Dir das Glück anderer schiene, die Deiner Meinung nach vollkommen glücklich verheiratet wären, desto höher würde Dein eigenes Unglück im Preise steigen und Dir vielleicht manche unangenehme Stunde machen.
Kein Eingang ist passender zu meiner freundschaftlichen Vorstellung an Dich als der Anfang des Briefes des Sulpizius an Cicero nach dem Tode seiner Tochter Tullia, nur mit dem Unterschiede, daß bei jenem die Leidenschaft des Schmerzes, bei Dir die der Liebe obwaltet; alle Leidenschaften sind sich aber einander in Rücksicht ihrer Wirkungen auf den Menschen gleich, d. h. alle berauben ihn, wenn sie heftig sind, des freien Denkens- und Handlungsvermögens, und unter diesen Umständen muß ein guter Freund ihm zureden und ihm, durch Schwächung der Leidenschaft, wieder dazu zu verhelfen suchen. Wenn der Eingang jenes Briefes aber auf Dich passen sollte, so müßte er ungefähr so heißen: Posteaquam mihi renuntiatum est de amore tuo in Sophiam, decrevi, quae in praesentia in mentem veniebant, quaeque ad salutem tuam pertinebant, brevi ad te perscribere;non quod ea te fugere existimem, sed quod forsitan, amore impeditus, minus ea perspicias.
Leidenschaft, Brüderchen, bleibt es doch, Du magst es nun mit einem Namen bemänteln, mit welchem Du willst, wenigstens hat es alle Symptome derselben. Das Augenblickliche, Hervorspringende und doch so Entscheidende Bestimmte zeugt für das Dasein einer Leidenschaft; und sollte die nicht imstande sein, Dich auf einige Momente blind zu machen? Nicht allein aus Deinem eigenen Munde, aus Erfahrung weiß ich es, Dein Nervensystem ist äußerst reizbar, Dein Herz im höchsten Grade empfänglich und offen für den Eindruck, den das höchste Ideal der schönen Natur, ein schönes unschuldiges Mädchen, auf jeden Menschen von Gefühl und feiner Empfindung machen muß; aber auch Genie bist Du im eigentlichsten Verstande, Deine Seele immer gierig nach neuer Beschäftigung und daher an Veränderung gewöhnt. Nun merke wohl auf! – – Sollte wohl, nach diesen Prämissen, Dein immer reger Geist, der sich schon durch die Macht der Gewohnheit hingerissen auf die Seite der Veränderung geneigt hat, sollte sich der wohl so lange Jahre hindurch an ein einziges Wesen binden und so unauflöslich fesseln lassen, daß ihm nicht einmal, während dieser ganzen langen Zeit, der Gedanke einfallen sollte: Wie wärst Du nicht um vieles glücklicher, wenn Du nicht an Sie, oder wenn Du an eine andere das Schicksal Deines Lebens geknüpft hättest? Und wenn er dir einfiele, würdest du alsdann nicht alles aus diesem Gesichtspunkte ansehen, würde Dir Deine Lage nicht vielleicht ungleich unangenehmer vorkommen, als sie wirklich wäre, würde Sie dir nicht beinahe unerträglich werden? Im Anfang siegt der Reiz der Neuheit, aber sollte wohl die Macht der Gewohnheit, wenn Du einige Jahre in ihrem Besitz wärest, beständig soviel über dich vermögen, daß Du, wenn auch der Spiritus Deiner Jugend verflogen ist und eine Reihe von Jahren Dein sanguinisches Temperament in ein cholerisches verwandelt hat, daß Du Sie, sage ich, auch alsdann noch, wenn Du alle ihre Schwächen und Mängel gegen ihre Vorzüge hast abwiegen können, für ein Ideal der Liebenswürdigkeit ansiehst? Wenn Du sie aber nicht mehr dafür halten kannst, so fehlt Deinem Blute die Leichtigkeit, sich, wie ehedem, über so etwas hinwegzusetzen, und Du mußt es alsdann lebhaft fühlen, daß Du die ganze Masse Deines Lebensgenusses zu früh auf einen Punkt konzentriert hast, um lange und ruhig genießen zu können! – – – Endlich, bester Fritz, schreibst Du mir selber: „Mit der zarten Blüte meiner Neigung ist es vorbei, sobald ich gemeine Gunstbezeugungen erhalte“! Kann es fehlen, daß Du diese nicht an einem Mädchen, welche mit Dir versprochen ist, wenn nicht anders, doch einmal in einer zärtlich[en] Stunde erhalten, ja vielleicht mit jugendlichem Ungestüm fordern solltest? Und wenn Du auch alle Tête-à-têtes vermiedest, ganz für Dich erobern mußt Du sie doch erst, damit kein anderer Dich ausstechen kann, und 4 Jahre sind eine lange Zeit (und das ist doch der kürzeste Termin, den ich Dir zum Heiraten setze). Du bist jung und feurig, das Mädchen ist jung und feurig, Ihr seid beide sinnliche Menschen, und nun laßt einmal eine zärtliche Stunde kommen und Ihr küßt Euch und herzt Euch, was das Zeug hält, und wenn es vorbei ist, so denkst Du, es ist ein Mädchen, wie alle andern Mädchen! Sei es aber auch, Ihr kommt über diese Klippe hinweg, Ihr heiratet Euch; auch im Ehestande wirst Du nach langer Enthaltsamkeit als Jüngling da schwelgen, wo Du als Mann weise genießen würdest; Vollgenuß macht Überdruß, und Du kommst dahin, wofür Du Dich immer so gefürchtet hast, nämlich Du frönst der Langenweile! – –
Nun noch einige Zweifel, lieber Fritz, wegen des Mädchens, deren Beantwortung ich wünschte.
Du schreibst mir, eine Viertelstunde hätte Dich bestimmt; wie kannst Du in einer Viertelstunde ein Mädchen durchschauen? Noch überdies ein Mädchen von so außerordentlichen Eigenschaften, wie Du mir jene beschreibst? Wenn Du mir „ein Vierteljahr“ geschrieben hättest, so hätte ich noch Deine Talente in der Kenntnis des weiblichen Herzens bewundert, aber eine Viertelstunde, denke nur selbst an, eine Viertelstunde, das klingt gar zu wunderbar, da muß ich Leidenschaft, den ewigen Scharwenzel, dahinter suchen. -- -- -- -- -- -- --
Wer bürgt Dir davor, wenn sie auch jetzt noch Dir keine gemeine Seite gezeigt hat, daß sich auch in der Folge bei mehrerer Entwicklung ihres Charakters keine Gemeinheit äußern wird, die, wie Du selbst sagst, kein eigentlicher Fehler, sondern Natur ist? – –
Wer bürgt Dir davor, wenn sie jetzt unverdorben ist, daß sie auch noch in der Folge, wenn sie in die Welt kommt, unverdorben bleiben wird; denn einmal muß sie doch in die Welt, und wenn sie ihre Eltern nicht hineinführen, so kommt dies Ämtchen auf Dich, und je später, je schlimmer, denn die Menschen sind am leichtesten zu verführen, die am unbekanntesten mit der Welt und am längsten gewöhnt sind, alle Menschen aus dem Lichte anzusehen, aus welchem sie sie in ihrer Eltern Hause sahen. Schönheit ist eine gefährliche Klippe, an welcher schon manches Mädchens Tugend und öfter der vorzüglichsten und besten gescheitert ist. Ein sehr abgedroschener Gemeinplatz, wirst Du mir antworten, Du hast recht, ein Gemeinplatz aber ist nicht allemal ein schlechter Platz, öfters gut und bewährt; ich treibe mich überhaupt in diesem Briefe viel mit Alltagsideen herum, aber ich weiß nicht, ob sie Dir nicht gerade jetzt am besten bekommen werden, ich weiß es wenigstens aus Erfahrung, daß, wenn Du mir unter solchen Umständen, statt aller köstlichen Speisen, Salz und Brot verordnet hast, daß mir das am besten bekommen ist. Wer sagt Dir endlich gut, daß dies Mädchen, das überdem erst 14 Jahr alt ist, nicht veränderlich sein wird, daß sie Dich nicht, wenn sie, wie denn das bei ihrer Schönheit nicht anders möglich ist, von vielen andern fetiert wird, alsdann vergessen und Dir untreu werden wird. Denn in diesem Punkte sind die Mädchens, so daß es beinahe Instinkt zu sein scheint, meistenteils im 14. Jahre klüger als wir im 24. und wissen uns schlauer zu hintergehn als Füchse. Und, wie würde es Dich verdrießen, wenn Dein ganzes schönes Gebäude von mehreren Jahren auf einmal durch einen Schurken über den Haufen gerissen würde! Und von einem Mädchen von vierzehn Jahren ist es wahrlich viel gefordert, wenn Du verlangst, daß sie Dir von jetzt an treu bleiben soll. Bist Du aber davon fest überzeugt, daß sie dieser Forderung ganz entspricht, so hat sie schon eins von den Haupterfordernissen einer wirklich guten Frau, und alsdann rate ich Dir, sie schärfer aufs Korn zu nehmen. Überhaupt gefällt mir Deine ganze Art nicht, Dich in das Mädchen zu verlieben, Du bist mir so tragisch, Freund, und selbst, wenn Du sie heiraten willst, solltest Du die Sache aus einem leichtsinnigern Gesichtspunkte ansehen; erinnere Dich doch nur an alles das, was Du mir in dieser Hinsicht so oft, und selbst noch vor 2 Monaten in Weißenfels gesagt hast. Hast du das alles so bald vergessen; auch Deine Freundschaft mit der [Karoline] Justen gefällt mir, offenherzig gestanden, nicht; ich wollte wetten, das wäre ein empfindsames Mädchen, die die Großmütige spielen will, indem sie Deine Liebe zu einer Dritten begünstigt, dabei aber Koketterie genug besitzt, um einzusehen, daß sie sich gerade dadurch Deine Freundschaft und Achtung erwirbt. Es kann sein, ich irre mich; aber überlege Dir ja alles recht genau, ob ich nicht überall, wenigstens hin und wieder recht habe. Prüfe alles und das Beste behalte! – – –
Wenn ich hin und wieder mich zu stark ausgedrückt habe, so verzeihe es meiner Liebe zu Dir, lieber Fritz. Errare humanum est. Homo sum nihilque humani a me alienum puto! – – – Das, was mir am meisten an Deinem Briefe mißfällt, lieber Junge, ist das kalte entschlossene Wesen, was durch Deinen ganzen Brief herrscht, es zeugt von so viel Beharrlichkeit in seinem Grundsatze, die ich Dir wahrlich jetzt nicht wünsche. Ich kenne aber wirklich das ganze Lokale zu wenig, um ganz dawider zu sein, und bin überhaupt nur gegen das Heiraten von Dir im allgemeinen, nicht gegen Deine Heirat mit diesem Mädchen. Wenn aber Deine sententia einmal sic stat, nun, so begleiten Dich auch da meine wärmsten Wünsche für Dein Bestes, und wenn ich Dir hierbei meine Neigung auf eine tätige Art beweisen könnte, so würde ich es, und wenn es mit der größten Aufopferung verbunden wäre, mit Freuden und von Herzen gern tun, damit ich Dir von neuem zeigen könnte, daß meine Liebe zu Dir unveränderlich und ihre Grenze nur der Tod sei. Das wußte ich nicht, daß Du von der Lindenau gemeine Gunstbezeugungen erhalten hattest, sonst hätte ich anders geurteilt, mir geht es in diesem Falle ebenso wie Dir. In Weißenfels davon und von Deinem Mädchen ein Mehreres, vielleicht schon in meinem nächsten Briefe. Antworte mir ja gleich und schreibe mir, ob Du gewiß nach Weißenfels kommst; das Gegenteil würde mir meinen Aufenthalt in Weißenfels sehr verleiden! Erdmannsdorf der Ältere läßt Dir sagen, daß er in preußische Dienste geht und in 3 Wochen nach Berlin zu Heynitz geht, der ihn in einem Jahre bei den westfälischen Kammern mit Gehalt anstellen will. Ich umarme Dich tausendmal.
Ewig
Dein Erasmus.




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  • Date: Freitag, 28. November 1794
  • Sender: Erasmus von Hardenberg ·
  • Recipient: Novalis ·
  • Place of Dispatch: Wermsdorf · ·
  • Place of Destination: Tennstedt ·
Printed Text
  • Bibliography: Novalis: Schriften. Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg. v. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Bd. 4. Stuttgart u.a. 1975, S. 364‒368.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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