[Hubertusburg, Ende Oktober 1795.]
Du selbst, liebes Brüderchen, kannst kaum eine größere Liebe und Anhänglichkeit für Grüningen fühlen, als ich, und diese vermehrt sich bei mir täglich und stündlich, denn ich liebe Gr[üningen] schon an und vor sich unendlich, aber durch Dich wird es mir noch ungleich lieber, und überdem weißt Du ja, daß Abwesenheit die Liebe nährt. Im Grunde bin ich aber auch immer bei Euch, mein alter träger Leichnam ist nur hier, der wie ein bleierner Vogel nicht mit einem Sperling, geschweige denn mit den Adlerschwingen meiner Phantasie fort kann. Ich sehe Euch aufstehen, ich frühstücke, arbeite, esse, trinke Kaffee, spiele mit Euch und lege mich auch wieder mit Euch schlafen, ich habe mich so an Euch gewöhnt, daß Eure Gesellschaft mir das notwendigste Bedürfnis, und Ihr mir ganz zur andern Natur geworden seid. Nie habe ich meiner äußerst lebhaften und immer geschäftigen Einbildungskraft mehr Dank gewußt als itzt, da sie meine Liebe zu Euch begünstigt, und mir Euren Umgang verschafft. Glaube ja nicht, lieber Fritz, daß ich hier etwas Übertriebenes sage, ich bin gewiß nie von aller Übertreibung entfernter gewesen als itzt.
Vor einigen Tagen fiel mir der letzte Nachmittag einmal wieder recht lebhaft ein, wo ich mit der Mutter allein oben herum und Ihr mit S[ophie] und der Danscour unten durch den Garten nach dem Gartenhäuschen ginget und unterwegens Dein Lieblingsplätzchen besuchtet, und vor Freuden standen mir die Tränen in den Augen, ich ging ans Klavier und spielte: Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus, und war vor Entzücken außer mir, denn alle solche dem Anschein nach unbedeutende Umstände
– – – – –
zaubern milder
Als Abendsonnenblick
Die rosenfarbnen Bilder
Von Grüningen zurück.
Heute früh saß ich vor dem Klavier und spielte den Choral: Nun danket alle Gott! Und in dem Augenblick stand ich durch die Combination der Ideen, im Gr[üninger] Kirchenstuhle und sang nach der Trauung dies Lied aus Herzensfreude mit, und es war mir so wohl und so heiter, und die Zukunft schwebte in so einem herrlichen Lichte vor mir, daß ich vor Wonne und innerem Herzensjubel hätte närrisch werden mögen. Laß nichts von Dir mich scheiden, O Gr[üningen], O Gr[üningen]!!! – – Da mögte aber der Teufel nicht jubeln, wenn sich noch so manchmal der Gedanke mit einmelirt, daß wir noch einmal aus Brüdern Schwäger werden könnten. Juchhey! Juchhey! Der Bauer fuhr ins Haus. – Und auch hieraus kannst du sehen, daß ich beständig an Euch denke, und noch mehr wird es mich aber freuen, wenn ich erst öffentlich an Euch denken kann, denn ich spiele nicht gern carte cachée, weil mir dadurch die Gelegenheit genommen wird, Euch öfters zu sehen, und ich dann auch eher darüber sprechen und mich laut freuen kann – und Du weißt, daß ich stets ein Freund von lauten Jubel war. –
Jetzt muß ich Dir aber noch einiges über Karln sagen, was ich Dir gern schon in Leipzig gesagt hätte, weil es mir schon so lange auf dem Herzen liegt! – – –
Die Geschichte mit der L[indenau] hat den Menschen entsetzlich mitgenommen, du kannst nicht glauben, wie blaß, wie gleichgültig gegen alles, selbst im Grunde, wiewohl er es nicht eingestehen wollte, wie kalt er gegen Grüningen war; denn an allen seinen Ideen hing sich mit Schmarotzerpflanzenwurzeln hoffnungslose Liebe. –
Von Deinem Brief war er ganz bezaubert und gestand mir, über meinen Brief hätte er zwar lachen müssen und wenn er in den letzten Zügen gewesen wäre, aber Deiner hätte ihn getröstet. Da hatte er auch nicht unrecht; aber wahrlich, lieber Fritz, Du hattest unrecht, ihm einen solchen Brief zu schreiben! – Bei einem Menschen wie Karl, der nach einer solchen Überspannung in einen so hohen Grad von Abspannung verfällt, da sieht man doch deutlich, daß die schwache Organisation seines Nervensystems die Grundursache von der Konfusion seines Kopfes und der Verwirrung all seiner Gefühle ist. Unter diesen Umständen ist doch wohl eine essentia confortativa roborentissima besser und gesünder, wenn sie auch gleich etwas bitter schmeckt und den Arzt zum Hofnarren macht, über den man lacht, als Deine essentia auribus blandiens, die wie Süßholz den Gaumen des Kranken kitzelt und den Arzt zum tröstenden Freund erhebt. Denn den Menschen muß man, wie den Kindern gegen ihre Hofmeister, nie gegen das Schicksal recht geben, selbst wenn sie recht haben; und den Hofnarren war ja von jeher das Amt, die Wahrheit zu sagen, verpachtet.
Ich habe die „Unsichtbare Loge“ jetzt gelesen und sie wirklich in ihrer Art so außerordentlich gefunden, als Du sagtest; indessen gestehe ich Dir doch, ob sie gleich einen außerordentlichen Einfluß auf mich gehabt hat, so daß ich einige Tage traurig gewesen bin, und ich besonders für einen schwindsüchtigen jungen Menschen, dessen erfreulichste Aussicht das Ende aller seiner Plage, der Tod ist, kein trostreicheres Büchlein in der Welt wüßte, so finde ich doch, daß es nicht für diese, sondern für die künftige Welt, und daher im ganzen nicht für die Menschen, sondern für die Unglücklichen geschrieben ist. Ich bleibe bei meinem Grundsatz und werde ewig dabei bleiben: Der Mensch ist schon hier zur Glückseligkeit bestimmt und ist töricht, wenn er mit allen seinen Hoffnungen aus diesem Leben ins andere marschiert und dort so fest Posto faßt, als wenn hier gar keine Position mehr zu nehmen wär, hinter welcher man seinen Zeitpunkt abpassen könnte! Nimm mirs nicht übel, aber Dein Brief war in dem Ton geschrieben, als wenn er an einen hohen Menschen (Du erinnerst Dich doch der Definition vom hohen Menschen in der „Unsichtbaren Loge“) gerichtet wäre, und wir armen niedrigen Menschen, bei welchen keine Kunst die Dephlegmation zu bewirken im Stande gewesen ist, können solche superfeinen Speisen nicht vertragen, da wir einmal an unsere grobe irdische Kost gewöhnt sind, und verderben uns leicht den Magen damit. Bedenke das und nimm Deine Maßregeln danach.
Leb wohl, mein lieber Fritz, ich küsse Dich und ganz Gr[üningen]. Ewig Dein Dich liebender Bruder
Erasmus.
Du selbst, liebes Brüderchen, kannst kaum eine größere Liebe und Anhänglichkeit für Grüningen fühlen, als ich, und diese vermehrt sich bei mir täglich und stündlich, denn ich liebe Gr[üningen] schon an und vor sich unendlich, aber durch Dich wird es mir noch ungleich lieber, und überdem weißt Du ja, daß Abwesenheit die Liebe nährt. Im Grunde bin ich aber auch immer bei Euch, mein alter träger Leichnam ist nur hier, der wie ein bleierner Vogel nicht mit einem Sperling, geschweige denn mit den Adlerschwingen meiner Phantasie fort kann. Ich sehe Euch aufstehen, ich frühstücke, arbeite, esse, trinke Kaffee, spiele mit Euch und lege mich auch wieder mit Euch schlafen, ich habe mich so an Euch gewöhnt, daß Eure Gesellschaft mir das notwendigste Bedürfnis, und Ihr mir ganz zur andern Natur geworden seid. Nie habe ich meiner äußerst lebhaften und immer geschäftigen Einbildungskraft mehr Dank gewußt als itzt, da sie meine Liebe zu Euch begünstigt, und mir Euren Umgang verschafft. Glaube ja nicht, lieber Fritz, daß ich hier etwas Übertriebenes sage, ich bin gewiß nie von aller Übertreibung entfernter gewesen als itzt.
Vor einigen Tagen fiel mir der letzte Nachmittag einmal wieder recht lebhaft ein, wo ich mit der Mutter allein oben herum und Ihr mit S[ophie] und der Danscour unten durch den Garten nach dem Gartenhäuschen ginget und unterwegens Dein Lieblingsplätzchen besuchtet, und vor Freuden standen mir die Tränen in den Augen, ich ging ans Klavier und spielte: Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus, und war vor Entzücken außer mir, denn alle solche dem Anschein nach unbedeutende Umstände
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zaubern milder
Als Abendsonnenblick
Die rosenfarbnen Bilder
Von Grüningen zurück.
Heute früh saß ich vor dem Klavier und spielte den Choral: Nun danket alle Gott! Und in dem Augenblick stand ich durch die Combination der Ideen, im Gr[üninger] Kirchenstuhle und sang nach der Trauung dies Lied aus Herzensfreude mit, und es war mir so wohl und so heiter, und die Zukunft schwebte in so einem herrlichen Lichte vor mir, daß ich vor Wonne und innerem Herzensjubel hätte närrisch werden mögen. Laß nichts von Dir mich scheiden, O Gr[üningen], O Gr[üningen]!!! – – Da mögte aber der Teufel nicht jubeln, wenn sich noch so manchmal der Gedanke mit einmelirt, daß wir noch einmal aus Brüdern Schwäger werden könnten. Juchhey! Juchhey! Der Bauer fuhr ins Haus. – Und auch hieraus kannst du sehen, daß ich beständig an Euch denke, und noch mehr wird es mich aber freuen, wenn ich erst öffentlich an Euch denken kann, denn ich spiele nicht gern carte cachée, weil mir dadurch die Gelegenheit genommen wird, Euch öfters zu sehen, und ich dann auch eher darüber sprechen und mich laut freuen kann – und Du weißt, daß ich stets ein Freund von lauten Jubel war. –
Jetzt muß ich Dir aber noch einiges über Karln sagen, was ich Dir gern schon in Leipzig gesagt hätte, weil es mir schon so lange auf dem Herzen liegt! – – –
Die Geschichte mit der L[indenau] hat den Menschen entsetzlich mitgenommen, du kannst nicht glauben, wie blaß, wie gleichgültig gegen alles, selbst im Grunde, wiewohl er es nicht eingestehen wollte, wie kalt er gegen Grüningen war; denn an allen seinen Ideen hing sich mit Schmarotzerpflanzenwurzeln hoffnungslose Liebe. –
Von Deinem Brief war er ganz bezaubert und gestand mir, über meinen Brief hätte er zwar lachen müssen und wenn er in den letzten Zügen gewesen wäre, aber Deiner hätte ihn getröstet. Da hatte er auch nicht unrecht; aber wahrlich, lieber Fritz, Du hattest unrecht, ihm einen solchen Brief zu schreiben! – Bei einem Menschen wie Karl, der nach einer solchen Überspannung in einen so hohen Grad von Abspannung verfällt, da sieht man doch deutlich, daß die schwache Organisation seines Nervensystems die Grundursache von der Konfusion seines Kopfes und der Verwirrung all seiner Gefühle ist. Unter diesen Umständen ist doch wohl eine essentia confortativa roborentissima besser und gesünder, wenn sie auch gleich etwas bitter schmeckt und den Arzt zum Hofnarren macht, über den man lacht, als Deine essentia auribus blandiens, die wie Süßholz den Gaumen des Kranken kitzelt und den Arzt zum tröstenden Freund erhebt. Denn den Menschen muß man, wie den Kindern gegen ihre Hofmeister, nie gegen das Schicksal recht geben, selbst wenn sie recht haben; und den Hofnarren war ja von jeher das Amt, die Wahrheit zu sagen, verpachtet.
Ich habe die „Unsichtbare Loge“ jetzt gelesen und sie wirklich in ihrer Art so außerordentlich gefunden, als Du sagtest; indessen gestehe ich Dir doch, ob sie gleich einen außerordentlichen Einfluß auf mich gehabt hat, so daß ich einige Tage traurig gewesen bin, und ich besonders für einen schwindsüchtigen jungen Menschen, dessen erfreulichste Aussicht das Ende aller seiner Plage, der Tod ist, kein trostreicheres Büchlein in der Welt wüßte, so finde ich doch, daß es nicht für diese, sondern für die künftige Welt, und daher im ganzen nicht für die Menschen, sondern für die Unglücklichen geschrieben ist. Ich bleibe bei meinem Grundsatz und werde ewig dabei bleiben: Der Mensch ist schon hier zur Glückseligkeit bestimmt und ist töricht, wenn er mit allen seinen Hoffnungen aus diesem Leben ins andere marschiert und dort so fest Posto faßt, als wenn hier gar keine Position mehr zu nehmen wär, hinter welcher man seinen Zeitpunkt abpassen könnte! Nimm mirs nicht übel, aber Dein Brief war in dem Ton geschrieben, als wenn er an einen hohen Menschen (Du erinnerst Dich doch der Definition vom hohen Menschen in der „Unsichtbaren Loge“) gerichtet wäre, und wir armen niedrigen Menschen, bei welchen keine Kunst die Dephlegmation zu bewirken im Stande gewesen ist, können solche superfeinen Speisen nicht vertragen, da wir einmal an unsere grobe irdische Kost gewöhnt sind, und verderben uns leicht den Magen damit. Bedenke das und nimm Deine Maßregeln danach.
Leb wohl, mein lieber Fritz, ich küsse Dich und ganz Gr[üningen]. Ewig Dein Dich liebender Bruder
Erasmus.