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Charlotte Ernst to Novalis TEI-Logo

[Dresden, Anfang Februar 1799.]
Ich habe von Carolinen den Auftrag, theuerster Freund, Ihnen diese kleine Schrift von Fichten mitzutheilen. Ich habe mich auch daran gewagt, sie zu lesen, sie ist mir äußerst interessant gewesen; ich halte es für ein wahres Meisterstück, solch tief abstrakte Ideen in einer so populären Sprache vorzutragen, es muß ein jeder glauben, indem er sie liest, sie ganz zu verstehen, mir ist es selbst so gegangen, und nur da ich das Buch ein paar Tage weggelegt, fühlte ich wohl, daß ich augenblicklich verstanden, was Fichte hat sagen wollen, jedesmal einzeln, aber im Zusammenhange seines Systems noch lange nicht Herr bin. Die Art, wie er sich rüstig zum Streite stellt, gefällt mir, sie ist männlich und doch nicht leidenschaftlich.
Sie haben mir etwas bange gemacht, indem Sie von den gepfefferten Kritiken schreiben, die meine Brüder im Sinne haben, könnten Sie sie etwas milder über diesen Punkt stimmen, so wäre meine Freude an diese beiden Brüder ganz ungemischt. Wenn sie sich selbst recht strenge prüfen wollten, so würden sie finden, daß nicht allein die reine Liebe zum Guten und Wahren ihre Triebfeder ist, sondern daß etwas Muthwille zum Grunde liegt, und eine Eitelkeit, ihre brillant witzigen Einfälle nicht unterdrücken zu können, die Feinde, die ihnen das zuzieht, und die Härte, die das allmälig in ihrem Charakter hervorbringt, rechnen sie nicht. Ich halte dafür, die beste und für das Publikum wirksamste Kritik ist, in eben dem Fache ein besserer Schriftsteller zu sein. Wilhelm traue ich es zu, auf diese Art gegen Wieland zu Felde ziehen zu können. – Eigentlich herrscht doch jetzt gar kein Enthusiasmus mehr für Wieland. Die Anhänger, die er jetzt hat, raubt ihm keine Kritik, der Grund liegt zu tief, Wieland hat ihrer sinnlichen Natur zu sehr geschmeichelt.
Daß wir Sie recht bald sehen werden, darüber freue ich mich herzlich, schieben Sie es ja nicht weiter hinaus. Und wenn Sie in guter Gesellschaft kommen, so hoffe ich werden wir Sie einmal länger festhalten können.
Mit Ihrem Herrn Bruder ist es mir unglücklich gegangen, er hat mich wieder besuchen wollen, und ich war nicht zu Hause. Ich hoffe, ich mache seine Bekanntschaft, wenn Sie kommen.
Mein Mann und Auguste lassen Sie herzlich grüßen. Ihre
Charlotte Ernst.
Die Propyläen hat mir Thielemann noch nicht gegeben, er wird sie mitgenommen haben, und mir sie bei seiner Rückkunft erst geben.
Metadata Concerning Header
  • Date: [Anfang Februar 1799]
  • Sender: Charlotte Ernst ·
  • Recipient: Novalis ·
  • Place of Dispatch: Dresden · ·
  • Place of Destination: Freiberg · ·
Printed Text
  • Bibliography: Novalis: Schriften. Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg. v. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Bd. 4. Stuttgart u.a. 1975, S. 517.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verbrannt
Language
  • German

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