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Friedrich Schleiermacher to Eleonore Christiane Grunow TEI-Logo

Den 27sten November 1802.
Wie sehnlich wünsche ich, meine theure Freundin, recht bald zu hören, wie Sie den wehmüthigen heiligen Tag zugebracht haben. Möge nichts, auch kein eigener Gedanke Sie in Ihren zwar traurigen, aber doch schönen Empfindungen gestört, nichts die Reinheit derselben getrübt haben. Wohl wird Sie der Gedanke nie verlassen haben, daß es der lezte ist; er wird allen Ihren Geschwistern gegenwärtig gewesen sein und auch Ihrer Mutter sich aufgedrungen haben. Wenn es nöthig wäre unter Ihnen, so hätte gewiß dieser Tag noch ein neues festeres Band der Liebe | und Eintracht geknüpft. Möchte es nie durch etwas zufälliges oder unvermeidliches auch nur augenblicklich gelöst werden. Wie gern hätte ich auch den Antheil eines nahen Freundes – ich fühle mich Ihnen allen so innig nahe – an Ihrer wehmüthigen Feier und an Ihren kindlichen Schmerzen genommen! wie gern besonders alle Ihre Gefühle genossen und getheilt. Hart ist unter diesen Umständen die Entfernung, bei der uns nichts übrig bleibt als der todte Buchstabe, der unzulängliche und noch überdies so oft mißverständliche todte Buchstabe. Ich habe seit kurzem eine solche Abneigung gegen alles Schreiben, bin so durchdrungen von der Schlechtigkeit dieses Hülfsmittels, daß es mich in meinem Zustand wohl elend machen muß, wenn mir dieses Gefühl bleibt. – Doch es wäre auch Zeit, jezt Ihnen von mir und meinen vielleicht selbstverschuldeten Anwandlungen zu reden! Nein, Sie haben recht, liebe Freundin, daß Sie mir immer von Sich und nur von Sich reden. Könnten Sie nur Alles herausreden, was in Ihnen ist, wie glücklich wäre ich. Selbst das höre ich so gern, wozu ich eigentlich nicht ja sagen kann, wenn Sie mir schmeicheln, daß irgend etwas in Ihnen, noch gar das schönste, was Sie haben, Ihre feste innere Ruhe, mein Werk sei. Ich weiß zu gut, wie ich höchstens nur die Veranlassung war, daß Sie Sich tiefer besonnen und Sich Selbst inniger angeschaut haben, und ich bin sehr zufrieden mit diesem Ruhm. Das Innere eines Menschen kann nicht das Werk des Andren sein. Dies kann nur gesagt werden von solchen Eigenschaften, welche nur ein Werk der Uebung sind, wobei eine neue Richtung der Gedanken oft entscheidend ist, und oft die freundliche Aufmerksamkeit einer theilnehmenden Seele unparteiischer, ununterbrochener, scharfsichtiger ist als die eigene. Wie vieles an mir ist auf diese Art schon Ihr Werk und wie viel mehr würde es noch werden, wenn ich wieder in Ihrer Nähe lebte. Es ist an meinem Geburtstage ein eigner Gegenstand meines frohen Nachdenkens gewesen. Unter allen Seelen, die mich angeregt und zu meiner Entwicklung beitragen haben, ist doch niemand mit | Ihnen, mit Ihrem Einfluß auf mein Gemüth, auf die reinere Darstellung meines Inneren zu vergleichen, und diese dankbare Ueberzeugung ist das schönste Gefühl gewesen, dem ich mich habe hingeben können. Doch ich kann Ihnen darüber nichts sagen, was ich Ihnen nicht schon gesagt, nur, daß es mir immer lebendiger wird und mich immer schöner ergreift. Was sollte mich auch trösten in dieser Entfernung, als eben diese Ansicht von Ihrem Verhältniß zu meinem Leben rückwärts und vorwärts.
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 27. November 1802
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Eleonore Christiane Grunow ·
  • Place of Dispatch: Stolp · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 6. Briefwechsel 1802‒1803 (Briefe 1246‒1540). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 2005, S. 219‒220.

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