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Friedrich Schleiermacher to Eleonore Christiane Grunow TEI-Logo

Den 10ten December 1802.
Es wird Ihnen, liebe Freundin, umgekehrt ergehen, wie mir; einen Tag vor Ihrem Geburtstage werden Sie meinen Gruß zu demselben bekommen. Er wird sich anreihen an die wehmüthigen Tage, die Sie bis jezt verlebt haben, er wird sich vor allen seinen älteren Brüdern auszeichnen durch das zum leztenmal, das sich auch hier Ihnen aufdringen wird. Ich werde viel daran denken, und es wird mich schmerzen, daß ich Ihren Schmerz und Ihre Wehmuth nicht gegenwärtig theilen kann. Es ist ein heiliges Jahr Ihres Lebens, was Sie vollenden und was Sie antreten. Sie vollenden das, worin Sie die Gegenwart eines Freundes verloren haben, der es mit wehmüthiger Freude fühlt, daß er Ihnen immer etwas war und daß sein Dasein viel Schönes in Ihnen veranlaßt hat. Sie treten das an, was Ihnen Ihre theure so zärtlich geliebte Mutter rauben wird. Wie ich Sie um diese kindliche Liebe liebe und um alle Schmerzen, die sie Ihnen schon gemacht hat, davon sage ich Ihnen nichts mehr. Lassen Sie uns bei dem Gedanken an den merkwürdigen Gehalt Ihres neuen Jahres auch mit wehmüthiger Freude daran denken, daß die Zeit, welche vergeht, doch eigentlich nichts mitnimmt, wie sehr es auch so scheine. Sie verlieren Ihre Mutter nicht mehr, denn schon jezt ist Ihre schöne Liebe zu ihr und das Bild, das Sie von ihr im Herzen tragen, die einzige Art, wie Sie sie besizen – und in eben dem Sinne – man kann fast die Worte beibehalten – haben Sie auch mich nicht verloren, und ich hoffe, Sie werden unsrem schönen Bunde treu bleiben, fest an der ewigen Jugend zu halten und auch das zeitliche Leben durch sie zu verjüngen, und Ihre Seele wird, wie es jedem Phönix gebührt, aus dem Feuer heiliger Schmerzen schöner verjüngt wieder hervorgehn. So hoffe ich Sie in dem neuen Jahr Ihres Lebens zu sehen und Ihnen zu zeigen, daß auch mich unter allen Entbehrungen und nicht | wenigen Schmerzen das frohe Gefühl meines schönen Geschicks dem Bunde dieses Tages treu erhalten hat. Möchte Ihnen nur in diesem Jahre alles Schöne werden können, das Ihnen mein dankbares Herz wünscht. – Ich hatte mir ein Geschenk für Sie ausgedacht, was Ihnen gewiß Freude gemacht hätte. Ich hoffte in Königsberg die seltenen früheren schriftstellerischen Versuche von Hippel sammeln zu können, allein es ist mir gar nicht gelungen, und so biete ich Ihnen jezt nichts dar, als die paar Kleinigkeiten von ihm und über ihn, die Jette Ihnen zustellen wird. Ich tröste mich leicht, daß es nicht mehr ist. Bei den Geschenken, die befreundete Herzen sich machen, ist eben auch die Gegenwart das beste, die Liebe, die sich ausspricht im Nehmen wie im Geben, und die auch das Große erst zu dem machen muß, was es sein soll. Doch ich hätte beinahe vergessen, daß Sie, wenigstens ist es meine Absicht, auch den Heinrich von Ofterdingen empfangen werden. Nehmen Sie ihn schon jezt, wie aus meinen Händen. Ein Buch, wie dieses, ein Denkmal eines so reinen und hohen Gemüthes, das jedes ähnliche zu sich hinzieht und sich auch in jede würdige Stimmung eines solchen willig fügt, ist zu jeder Zeit ein schönes Besitzthum. –
Sie sind, glaube ich, nicht mißverstanden worden von mir, aber lassen Sie mir meinen rechtmäßigen kleinen Krieg mit dem todten Buchstaben. Leide ich doch jezt gern so viel durch ihn als der Apostel durch Alexander den Schmidt, denn bedenken Sie nur, ich muß ja nun wirklich die Kritik der Moral schreiben. Wieviel todte Buchstaben über den heiligsten lebendigsten Gegenstand! Und so will ich über das, was ich von dem todten Buchstaben gesagt, wenigstens keinen weiter verlieren. Ungerecht bin ich aber auch hier nicht. Ich habe noch nie über den todten Buchstaben geklagt, dem eine Frau das Leben gegeben, sondern fühle, und gewiß sehr innig, was mir Schönes, wahrlich nicht ein weniges, auf diesem Wege geworden ist.
Metadata Concerning Header
  • Date: Freitag, 10. Dezember 1802
  • Sender: Friedrich Schleiermacher ·
  • Recipient: Eleonore Christiane Grunow ·
  • Place of Dispatch: Stolp · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 6. Briefwechsel 1802‒1803 (Briefe 1246‒1540). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 2005, S. 234‒236.

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