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Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling to Johann Gottlieb Fichte TEI-Logo

Jena, den 12. Sept. 1799.
Ich wollte nur das Ende der Collegien abwarten, um Ihnen zu schreiben.
Schlegel sagt mir, ich soll’ entscheiden, ob Sie Kants Erklärung zu lesen brauchen, zu [lesen] nun eben nicht, dünkt mir, wenn Sie nicht [antworten] müßten. Dieß scheint mir aber in jeder Rüksicht nothwendig. Es gehört nur dazu, daß Sie [wollen], um die ganze Erklärung in einer erbärmlichen Blöße darzustellen. Sollen Sie schonen, da dieser Mann, bei aller seiner völligen Blindheit über das, was Sie sind, und was selbst das Zeitalter durch Sie bereits geworden ist, in vornehmem Tone von Ihnen und Ihrer Philosophie spricht, und die Naivetät, die er erst schriftlich gegen Sie begangen, als ob ein Mann wie Sie nichts Größeres thun könnte – als die [Critik] commentiren, nun noch im Angesicht des ganzen Publicum zu wiederholen sich nicht schämt? In der That, es konnte für Ihre Philosophie nichts glücklicher erfolgen, als diese Erklärung, welche so abgefaßt [/] ist, daß auch dem einfältigsten Menschen ihre Abgeschmacktheit und Bornirtheit sich sonnenklar machen läßt. Es ist Zeit, daß Sie das zweideutige Verhältniß mit Kant verlassen, was Ihnen vielleicht mehr als alles Andre geschadet hat – glüklich genug, daß es Kant selbst aufhebt. Mag er hinführo die todten Gypsabdrüke seiner Critik hinter sich schleppen; er verdient es jezt nicht mehr, so transscendental ausgelegt zu werden, als ob er bewußtlos gesagt hätte, was er freilich, wie wir alle wohl wußten, mit Bewußtseyn nie gesagt hat, noch zu sagen fähig war. Da es offenbar ist 1) daß er von Ihrer Wissenschaftslehre nur den Titel kennt (ausgenommen, was ihm etwa seine Freunde, namentlich der Göttinger Recensent zugetragen haben, von dem er ohne Zweifel gelernt hat, daß Sie die Metaphysik aus der Logik [heraus]klauben) daß er also abspricht über etwas, das er gar nicht versteht und kennt; 2) daß er der seligen Einbildung lebt, das Zeitalter stehe noch da, wo es gerade vor 10 Jahren gestanden hat, nämlich beim Nachbeten der Critik, was er mit dürren Worten verlangt; 3) daß er glaubt, die Critik hätte nicht etwa nur für jezt, sondern für alle folgenden Zeitalter die Herkulessäulen des Denkens errichtet, – so hat er sich offenbar selbst annihilirt, und Sie brauchen weiter nichts, als diese Selbstannihilation anzuerkennen und utiliter zu acceptiren. Da Sie überzeugt seyn müssen (ich weiß [/] es aus Ihren Erklärungen nicht nur, sondern auch aus der Evidenz, mit der ich davon überzeugt bin) daß Kants Philosophie entweder in sich null und widersprechend ist, oder gerade dasselbe behaupten muß, was die Ihrige behauptet, so ist ja Kants Lossagung vom Sinn Ihrer Philosophie die offenbarste Declaration, daß für ihn die [Nachwelt] schon gekommen ist, die ihn (wie er selbst einmal von Plato sagt) besser versteht, als er sich selbst versteht; und da jeder nur in seinem Zeitalter mitzusprechen hat, weil er über die Schranken desselben doch nicht hinaus kann, so hat er eben darum alles Recht, weiter mitzusprechen, verwirkt, und ist philosophisch todt. Er hat ganz Recht, daß es für [ihn] nichts weiteres giebt, als die Critik. Da nun aber dieses über die Critik Hinausragende nicht etwa nur möglich, sondern bereits wirklich ist, also über die Möglichkeit kein Zweifel mehr seyn kann, so existirt ja eben damit etwas, was schon ganz außer seinem Horizont liegt, das was für ihn schon zur Nachwelt gehört, worüber er absolut keine Stimme hat.
Ich muß noch Eines sagen. Das Einzige, dadurch man sich noch die Hände könnte binden lassen, ist die Hochachtung, die man dem Alter und dem großen Verdienste schuldig ist – allein ich bitte Sie, Folgendes zu überlegen. Kant erklärt sich, wie er sagt, auf die Aufforderung eines obscuren Recensenten in der Erlanger [/] Litteraturzeitung. Diese Aufforderung ist im Januar ergangen. Allein Kant wartet erst bis das Geschrei über Ihren Atheismus anfängt. Er schweigt auch da noch, er wartet, bis Sie Ihre Stelle verlassen[;] nicht genug, er wartet bis Sie in Berlin sind. Jam proximus arsit Ucalegon. Sie waren Anfangs Juli in Berlin und spät im August ist die Erklärung geschrieben. Welche verächtliche Maske, nun, da er eigentlich blos für [seine] Ruhe besorgt ist, weil man ihm wahrscheinlich von Berlin aus Angst gemacht, mit Ihnen in Eine Categorie gesezt zu werden, und mittragen zu müssen, was Sie verschuldet haben – den Geist einer längst vergessnen, vor 8 Monaten erschienenen, Recension zu citiren, um doch vor dem Publicum mit seiner Erklärung nicht gar zu jämmerlich zu erscheinen, und doch eine bessre Veranlassung aufweisen zu können, als die, welche er wirklich hatte. Die ganze Geschichte ist ein neuer Charakterzug von der Klasse des Bekannten: „[als Ew. Majestät getreuster Unterthan]“ im Streit der Facultäten.
Ich hoffe, daß diese Gründe Sie vor Allem überzeugen werden, daß es das Interesse nicht Ihrer Person, aber der [Sache] ist, zu antworten und dann freilich auch die Erklärung zu lesen. Je eher, desto besser. – Und nun noch von einigen andern Dingen.
Ich habe gehört, daß ich Sie vielleicht sehen werde. [/] Ich bitte Sie, mir dieß bestimmt zu schreiben, weil ich im entgegengesezten Fall die Ferien über zu Ihnen komme. Mein Plan ist so weit gediehen. Ich bin ohne fremde Unterstüzung vorerst in Stand gesezt, auf den Sommer nach Bamberg zu gehen. Röschlaub verlangt, daß ich dort Privatissima lese, und dieß ist mir, wie Sie leicht denken können, sehr erwünscht. Das darauf folgende Jahr will ich in Wien zubringen. Das Weitere wird sich zu seiner Zeit zeigen. Also hoffe ich in 11/2 bis 2 Jahren vollkommen fertig zu seyn, und so lange dünkt es mir, müssen wir ohnehin noch diesen Plan aufschieben.
Werden Sie denn in Berlin bleiben, und ist es nicht möglich, daß wir künftigen Sommer wenigstens zusammen leben?
Zum Beweis wie unverschämt in Berlin die Briefe erbrochen werden, schicke ich Ihnen das Beiliegende.
Leben Sie wohl, theuerster Freund, und antworten Sie bald Ihrem
[Schelling.]
Metadata Concerning Header
  • Date: Donnerstag, 12. September 1799
  • Sender: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 4: Briefe 1799–1800. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1973, S. 68‒71.

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