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Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling to Johann Wolfgang von Goethe TEI-Logo

Die Wiederherstellung Ihrer Gesundheit ist zwar ein allgemeines und öffentliches Glük; doch kann unter so vielen erfreuten Gemüthern kein erfreuteres seyn, als das meinige, dem Ihre Güte noch ein besondres Recht gegeben hat, dem Himmel für Ihre Erhaltung zu danken.
Nie, ich darf es sagen, habe ich ein unmittelbareres Glük gefühlt, als da ich Sie der Welt, der Wissenschaft und der Kunst wiedergegeben wußte.
Die Erinnerung an den wohlthätigen und glüklichen Aufenthalt in Ihrem Hause und unter Ihren Augen verließ mich keinen Augenblik, und wurde in dieser Zeit für mich von einem unendlichen Werthe.
Ich suche mich der alten Freiheit zu bedienen, und Ihnen einige Gedanken vorzulegen, die sich seitdem weiter entwickelt haben.
Die Metamorphose scheint schon vor der organischen Natur stattzufinden, und auch das Wort des chemischen Rätsels zu seyn. – Die bisher für einfachgehaltnen Körper, welche aber nur Ursubstanzen der Erde heißen sollten, sind alle Abkömmlinge des Eisens, und kommen aus ihm durch eine ursprüngliche Metamorphose zum Vorschein. Sie sind freilich so wenig explicite in ihm als irgend ein Ding oder Stoff, oder wie man es sonst nennen will in dem andern ist, aber doch implicite. Das Wasser ist das vollkommen depotenzirte, d. h. aller nach außen entwikelten Potenzen beraubte Eisen, und mit ihm beginnt eine zweite in umgekehrter Richtung geschehende Metamorphose, die man chemischen Proceß genannt hat. Die sogenannte Zerlegung und Wiederzusammensetzung aller andern sog. Zerlegungen und Zusammensetzungen des Wassers ist Vorbild und Grundschema aller andern sog. Zerlegungen und Zusammensetzungen. Die Materie ist durchgängig Eins, und bloß die, durch Aufhebung ihrer entgegengesezten aus ihr entwikelte Potenz unterscheidet sie. Die Qualität einer Materie ist nicht bestimmt durch das nach innen gekehrte, überall sich selbst gleiche, Indifferente, sondern durch den Pol, mit dem sie nach außen zu cohäriren sucht: die durch Analyse erhaltenen Bestandtheile sind immer nur Producte der Analyse, also nicht vorher da, sondern entwikelt. Aber eben weil alles Entwiklung ist, kommt auch nichts in die Materie von außen hinein. Jeder Körper ist eine Monas; nur Potenzen werden hinzugesezt, oder solche durch ihre entgegengesezten vertilgt, welche die Materie hindern, sich in dieser Gestalt zu zeigen. Es wird sich zeigen, daß alle sogenannte Zersetzung der Materie nur Potenzirung deßselben homogenen Substrats, alle Zusammensetzung nur Depotenzirung der heterogenen Materie ist. Deßwegen sucht eigentlich die Natur in jeder chemischen Zusammensetzung Wasser hervorzubringen. Auch in dem Metall wird die + electrische Potenz, zu der es im Conflict mit einem andern determinirt wurde, aufgehoben, durch die entgegengesezte des hinzukommenden Sauerstoffs; dadurch wird der eigne Sauerstoff des Metalls nach außen entwikelt, und das, wodurch es oxydirt scheint, kommt ganz aus ihm, so wie es bei der sogenannten electrischen Mittheilung die eigne + oder – E jedes Körpers ist, welche nur entwikelt wird. Auch das Metall würde Wasser werden, wenn es nicht dadurch zurükgehalten würde, daß es noch beide Factoren der activen Cohaesion, obgleich, den Einen im relativen Übergewicht, enthält. Übrigens ist doch alles Bestreben der Natur im chemischen Proceß darauf gerichtet, alle dynamischen Potenzen durch einander zu vertilgen, und so den potenzlosen Zustand hervorzubringen. – Aber durch alle diese Veränderungen geht doch Ein (ursprünglich metallisches) Substrat hindurch, das eben durch seine nach außen entwikelten Potenzen sich selbst verbirgt, und wo diese aufgehoben werden, ganz nach innen, und in sich selbst zurükfällt. – Die Natur, nachdem sie in der Materie verkörpert ist, hält diese auch solange als möglich fest, und kann nur in einem unendlich langen Proceß gezwungen werden, alle ihre Seiten zu zeigen. – In der dynam. Sphäre der Erde tritt sie zuerst mit dem Eisen aus ihrer Gleichgültigkeit. Aber dieses Eisen ist etwas seiner Substanz nach völlig unbekanntes; nur die Accidenzen kennen wir, und auch nur diese wechseln im dynam. Proceß, welcher ein durchgängiger Versuch der Natur ist, auch das, was sie gezwungen enthüllt hat, wieder zu verbergen. Der Magnet strebt mit seinen beiden Polen zusammen. Jeder Pol sucht nach außen mit seinem entgegengesetzten zusammenzukommen, um sich zu verbergen. Kommen zwei differente Körper zusammen, so setzen sie in sich wechselseitig Cohaesions-vermindrung und Erhöhung, damit jeder von ihnen seinen Mangel an Ganzheit durch den andern verberge, und sie zusammen wieder einen Magnet machen. Kommen daher zwei indifferente zusammen, so sucht jeder im andern eine Cohaesionsverminderung hervorzubringen, um die Bedingung der Cohaesion zu haben; sie erwärmen sich. So hängt sich alles aneinander, um sich gleichsam nicht bloß zu zeigen, und darauf beruht das ganze Spiel des chemischen Processes.
Mit diesen Ansichten wird es vielleicht gelingen, die chemischen Personificationen der Stoffe, und die bloßen Namenerklärungen zu verdrängen, welche einem doch den wahren Hergang beim chemischen Proceß nie zeigen, der, wenn er nur recht erzählt wird, selbst seine Theorie ist, so wie überhaupt die Chemie, welche, da sie eigentlich bloße Magd seyn sollte, sich jezt auf den Stuhl gesezt hat, der allgemeinen Physik wieder untergeordnet werden muß, wenn nicht ein gänzlicher Stillstand oder vielmehr Zurükkommen in wahrer, reeller Naturerkenntniß eintreten soll.
Die Materie zeigt sich im dynam. Proceß nach außen nur different, indifferent nur nach innen. Das Problem des organischen Processes ist, sie nach außen indifferent zu machen, und sie so zur Entfaltung ihrer Substanz zu zwingen. – Die construirende Thätigkeit selbst wird durch den dynamischen Proceß und das Verhältniß der Erde zur Sonne auf den Punct getrieben, wo sie um zur Indifferenz zu gelangen, die Bande der Schwere lösen, sich gleichsam lichten muß, nur daß in dem Moment, wo sie den Einen Factor entläßt, die Schwere aufs Neue eintritt, und so in einen neuen, obgleich tiefer greifenden, Cohaesionsproceß verwikelt wird, welches eben der organische ist. So wie die Indifferenz der Schwere aufgehoben wird, bricht das im Innern verschloßne Licht durch. Aber indem die Schwere wieder sich schließt, wird es in's Product aufgenommen, durch die construirende Thätigkeit begränzt, und es entsteht die Formel: A2 = (A = B), welche jezt zusammengenommen das Product bezeichnet.
Aber eben durch dieses Begränztwerden im Product wird das im Princip unbegränzbare A gezwungen, noch tiefer in das Innere der Natur zurükzutreten, und sich also in die höhere Potenz zu erheben.
Das Potenzirtwerden des Lichtes ist also nun ein immer weiteres und weiteres Zurüktreten, bis es in der Vernunft ganz zurükweicht und seine Strahlen blos nach innen wirft. Es ist also immer Ein und dasselbe A, mit dem die Natur nur in ein immer tieferes Dunkel sich zurükzieht. Das A2 im dynamischen Proceß ist an sich ebenso wenig objectiv, als es jezt im organischen dies A3 ist. Es ist also für das Organische objectiv, ja das Einzige unmittelbar Objective für dieses, das, wodurch es allein mit der Außenwelt in Zusammenhang ist. – In der Identität mit dem A = B ist es, was man Reizbarkeit genannt hat, der ideelle Factor des Lebens, so wie dagegen A = B das organische Indifferenz-Vermögen, welchem das organische Product allein das Seyn und Bestehen verdankt.
Die Metamorphose der Pflanzen nach Ihrer Darstellung hat sich mir durchgängig als Grundschema alles organischen Entstehens bewährt, und mir die innere Identität aller Organisationen unter sich und mit der Erde, welche ihr gemeinschaftlicher Stamm ist, jezt schon sehr nahe gebracht. Daß die Erde Pflanzen und Thier werden konnte, war freilich in sie schon durch die dynamische Grundorganisation gelegt, und so entstand freilich das Organische niemals, sondern war immer schon da. Doch werden wir künftig den ersten Ursprung der höher organisirten Pflanzen und Thiere aus der bloß dynamisch organisirten Erde ebenso zeigen können, wie Sie die höher organisirten Blüthen und Geschlechtstheile der Pflanzen aus den ersten niedriger organisirten Samenblättchen durch Verwandlung konnten hervorgehen lassen.
Der Zwang, in welchem die Erde war, sich zu organisiren scheint mir darinn gelegen zu haben, daß sie mit ihren beiden Polen isolirt und gleichsam auf die Spitze gestellt ist, so daß sie nur die Wahl hat, isolirt zu bleiben, oder aus dem organisch-indifferenten Kohlenstoff und Stikstoff einen Kohlenstoff und Stikstoff der höhern Potenz, hervorzubringen, welches eben die beiden Geschlechter sind. Und da es ihr nicht vergönnt war, sich nach innen zu schließen, mußte sie streben, sich nach außen und zwar durch die Sonne, zu schließen. Auf dem nördlichen Pol, wohin mir die Pflanze ursprünglich zu gehören scheint, konnte sie der Sonne ihren entsprechenden Pol nur in den Staubfäden der Blüthen zubiegen, welche ebendeßwegen fast wie bewegliche Magnetnadeln dem Zug der Sonne folgen. Der sogenannte Lichthunger der Pflanzen, und die unläugbaren Krümmungen und Wendungen nach dem Licht, verrathen ein wirkliches Bedürfniß der Pflanzen, mit der Sonne durch das Licht gleichsam zu cohäriren.
Eine andere Bewandniß scheint es mit dem südlichen Pol zu haben, der gegen die Sonne für sich schon inclinirt, wo also das Geschlecht, subordinirter werden konnte, und hier vielmehr Medium einer Cohaesion mit der Erde als mit der Sonne seyn mußte. Wogegen dann die Erde in ihrer ersten Metamorphose der Sonne hinwiederum ihren entsprechenden Pol zuzubringen, sich also soviel möglich in reinen Stikstoff umzugestalten suchen mußte, welches eben in der Animalisation geschieht, wo das Gehirn die Blüthe ist. – Der relative Mangel an Eisen in der südlichen Hemisphäre scheint anzudeuten, daß es dort durch die ungeheure Flamme des organischen Prozesses aufgezehrt wurde, dagegen das Wasser unangegriffen blieb; während in der nördlichen durch die stillere Flamme des vegetativen Processes das Wasser verzehrt, das Eisen aber ruhig gelassen wurde. – Daß die Grundindifferenz der Erde gerade in ihren beiden Hauptresultaten angegriffen wurde, war zu erwarten, daß aber das Wasser gerade auf der nördlichen Hemisphäre, also durch die Pflanze aufgenommen wurde, scheint seinen Grund in der Tendenz der Sonne zu haben, dem Nordpol beizukommen, wodurch sie aber vielmehr Ursache der Wasserstoff- und Sauerstoff-Polarität, dadurch der Axendrehung, der meterologischen Veränderungen und selbst der Abweichung der Magnetnadel wird. Diese Polarität in der Breite hervorzubringen scheint der Erde mit dem Mond geglükt zu seyn, den sie ebendeßwegen mit seiner Einen Seite an sich geheftet hat.
Jedoch ich muß hier abbrechen. Denn schon zu sehr habe ich Ihre Nachsicht misbraucht. Nehmen Sie, gütigster Gönner, diese Mittheilungen mit der gewohnten Milde auf. Ich lege das neue Stük meiner Zeitschrift bei.
Der Himmel walte über Ihnen mit allen seinen segnenden Kräften. Dieß ist der Wunsch Ihres innigsten Verehrers, der sich unfähig fühlt, Ihnen seine ganze Dankbarkeit auszusprechen.
Schelling.
Jena, d. 26ten Januar 1801.


Metadata Concerning Header
  • Date: Montag, 26. Januar 1801
  • Sender: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Recipient: Johann Wolfgang von Goethe ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Weimar · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 1. 1775‒1809. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1962, S. 240‒244.

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