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Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling to Georg Wilhelm Friedrich Hegel TEI-Logo

Tübingen, am heil. Dreikönigsabend 1795.
Du erinnerst Dich also doch noch Deiner alten Freunde? Beinahe glaubte ich mich und uns alle von Dir vergessen. Ueberhaupt scheinen unsre alte Bekannte uns nimmer zu kennen. Renz ist in unserer Nähe, wir sehen und hören nichts von ihm, und – Hölderlin? – ich vergeb' es seiner Laune, daß er unsrer noch nie gedacht hat. Hier meine Hand, alter Freund! Wir wollen uns nimmer fremd werden! Ich glaube sogar, wir könnten uns indeß neu geworden sein: desto besser zum neuen Anfang!
Willst Du wissen, wie es bei uns steht? – Lieber Gott, es ist ein αὐχμὸς eingefallen, der dem alten Unkraut bald wieder aufhelfen wird. Wer wird es ausjäten? – Wir erwarteten alles von der Philosophie und glaubten, daß der Stoß, den sie auch den Tübinger Geistern beigebracht hatte, nicht so bald wieder ermatten würde. Es ist leider so! Der philos. Geist hat hier bereits seinen Meridian erreicht, – vielleicht, daß er noch eine Zeitlang in der Höhe kreißt, um dann mit accelerirtem Falle unterzugehen. Zwar gibt es jetzt Kantianer die Menge, – aus dem Munde der Kinder und Säuglinge hat sich die Philosophie Lob bereitet, – aber nach vieler Mühe haben nun endlich unsre Philosophen den Punkt gefunden, wie weit man (da es nun einmal ohne die leidige Philosophie nimmer fort will) mit dieser Wissenschaft gehen dürfe. Auf diesem Punkt haben sie sich festgesetzt, angesiedelt und Hütten gebaut, in denen es gut wohnen ist und wofür sie Gott den Herrn preisen! – Und wer wird sie noch in diesem Jahrhundert daraus vertreiben? Wo sie einmal fest sind, da bringe sie der – – weg! – Eigentlich zu sagen, haben sie einige Ingredienzien des K[ant]schen Systems herausgenommen (von der Oberfläche, versteht sich), woraus nun tamquam ex machina so kräftige philosophische Brühen über quemcunque locum theologicum verfertigt werden, daß die Theologie, welche schon hektisch zu werden anfing, nun bald gesünder und stärker als jemals einhertreten wird. Alle möglichen Dogmen sind schon zu Postulaten der praktischen Vernunft gestempelt und, wo theoretisch-historische Beweise nimmer ausreichen, da zerhaut die praktische (Tübingische) Vernunft den Knoten. Es ist Wonne, den Triumph dieser philosophischen Helden mit anzusehen. Die Zeiten der philosophischen Trübsal, von denen geschrieben steht, sind nun vorüber! –
Wenn ein großer Mann erscheint und einen neuen meteorischen Gang, weit über die Köpfe der bisherigen Menschen weg, vorschlägt, wie angst und bange wird es da dem großen Haufen der gemäßigten, wohlgeregelten Menschen, die die Mittelstraße wandeln, und welche Noth ist es, bis sie endlich im Schweiß ihres Angesichts zwischen dem neuen excentrischen und dem alten bequemen und abgetretenen Wege eine neue Mittelstraße gefunden haben, auf der ein rechtlicher Mann in Fried und Ruhe einträchtig mit andern Parteien wandeln kann. Diese Mittelstraße ist nun gefunden! Nun Friede und Ruhe und sanfter Schlaf mit ihrem Geiste an allen Enden und Orten! Sie haben nun wieder ausgearbeitet! Ihr Maß ist voll!
Du schreibst von meinem Aufsatz in Paulus´ Memorabilien. Er ist schon ziemlich alt, flüchtig gearbeitet, vielleicht aber doch nicht ganz umsonst geschrieben. Von meinen theologischen Arbeiten kann ich Dir nicht viel Nachricht geben. Seit einem Jahre beinahe sind sie mir Nebensachen geworden. Das ein[z]ige, was mich bisher interessirte, waren historische Untersuchungen über das A. und N. T. und den Geist der ersten christlichen Jahrhunderte, – hier ist noch am meisten zu thun; hier ist noch am meisten zu thun; – seit einiger Zeit ist aber auch dieß abgebrochen. Wer mag sich im Staub des Alterthums begraben, wenn ihn der Gang seiner Zeit alle Augenblicke wieder auf- und mit sich fortreißt. Ich lebe und webe gegenwärtig in der Philosophie. Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen? – Ein Kant wohl, aber was soll der große Haufe damit? Fichte, als er das letzte Mal hier war, sagte, man müsse den Genius des Sokrates haben, um in Kant einzudringen. Ich finde es täglich wahrer. –
Wir müssen noch weiter mit der Philosophie! – Kant hat Alles weggeräumt, – aber wie sollten sie's merken? Vor ihren Augen muß man es in Stücke zertrümmern, daß sie's mit Händen greifen! O der großen Kantianer, die es jetzt überall gibt! Sie sind am Buchstaben stehen geblieben und segnen sich, noch so viel vor sich zu sehen. Ich bin fest überzeugt, daß der alte Aberglaube nicht nur der positiven, sondern auch der sogenannten natürlichen Religion in den Köpfen der Meisten schon wieder mit den Kantischen Buchstaben combinirt ist. – Es ist eine Lust anzusehen, wie sie den moralischen Beweis an der Schnur zu ziehen wissen. Eh'man sich's versieht, springt der deus ex machina hervor, – das persönliche individuelle Wesen, das da oben im Himmel sitzt! –
Fichte wird die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianer schwindeln werden . .
[...] ür, [...] sie müssen, vollends der reinen, alle Schla [...] augen! Wenn mich nicht alles trügt, so [...] Du sein Programm [...] .die das Porto austrügen. Nun erhalte ich den Anfang der Ausführung von Fichte selbst, die „Grundlage zur gesammten Wissenschaftslehre". (Du wirst sie im Intelligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung angezeigt gelesen haben. Sie kommt aber nicht in den Buchhandel und soll indeß bloß Manuskript für seine Zuhörer seyn.) Ich las und fand, daß mich meine Prophezeiungen nicht getäuscht hatten. – Nun arbeit´ ich an einer Ethik à la Spinoza, sie soll die höchsten Principien aller Philosophie aufstellen, in denen sich die theoretische und praktische Vernunft vereinigt. Wenn ich Muth und Zeit habe, soll sie nächste Messe oder längstens nächsten Sommer fertig sein. – Glücklich genug, wenn ich einer der ersten bin, die den neuen Helden, Fichte, im Lande der Wahrheit begrüßen! – Segen sei mit dem großen Mann! er wird das Werk vollenden! Im Vorbeigehen gesagt: hast du die Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas gelesen? Wo nicht, so lasse sie von Jena kommen. Dort ist sie zu haben. – Wer wollte ihren Verfasser verkennen? – Sie ist in Reformators [...]
[...] mich nicht alles trügt, so geht der



Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 6. Januar 1795
  • Sender: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Recipient: Georg Wilhelm Friedrich Hegel ·
  • Place of Dispatch: Tübingen · ·
  • Place of Destination: Bern · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 56‒60.

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