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Georg Wilhelm Friedrich Hegel to Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling TEI-Logo

[Ende Januar 1795]
Mein Lieber!
Wieviel Freude mir Dein Brief gemacht hat, brauche ich Dir nicht weitläufiger zu sagen; mehr als Dein treues Andenken an Deine Freunde konnte mich nur der Gang interessieren, den Dein Geist längst betreten hatte und den er jetzt immer noch fortsetzt. Nie sind wir uns als Freunde fremd geworden, noch weniger sind wir uns in Ansehung dessen fremd, was das große Interesse jedes vernünftigen Menschen ausmacht und zu dessen Beföderung und Ausbreitung er, so viel in seinen Kräften steht, beizutragen suchen wird.
Seit einiger Zeit habe ich das Studium der Kantischen Philosophie wieder hervorgenommen, um s[eine] wichtige Resultate auf manche uns noch gang und gäbe Idee anwenden zu lernen oder diese nach jenen zu bearbeiten. Mit den neuern Bemühungen, in tiefere Tiefen einzudringen, bin ich ebenso wenig noch bekannt, als mit den Reinholdischen, da mir diese Spekulationen nur für die theoretische Vern[unft] von näherer Bedeutung als von großer Anwendbarkeit auf allgemeiner brauchbare Begriffe zu sein schienen. Ich kenne daher diese Bemühungen in Ansehung ihres Zwecks nicht näher, ich ahnde es nur dunkler. Aber daß Du mir die Bogen, die Du drucken ließest, nicht mitgeteilt hast, – davon hätte Dich die Besorgnis wegen des Portos doch nicht abhalten sollen. Gib sie nur auf den Postwagen, nicht auf die Briefpost! Sie werden mir höchst schätzbar sein.
Was Du mir von dem theologisch-Kantischen (si diis placet) Gang der Philosophie in Tübingen sagst, ist nicht zu verwundern. Die Orthodoxie ist nicht zu erschüttern, solang ihre Profession mit weltlichen Vorteilen verknüpft in das Ganze e[ine]s Staats verwebt ist. Dieses Interesse ist zu stark, als daß sie sobald aufgegeben werden sollte, und wirkt, ohne daß man sich's im Ganzen deutlich bewußt ist. So lang hat sie den ganzen, immer zahlreichsten Trupp von gedanken- und höherem Interesse -losen Nachbeter[n] oder Schreiber[n] auf ihrer Seite. Liest dieser Trupp etwas, das seiner Ueberzeugung (wenn man ihrem Wortkram die Ehre antun will, es so zu nennen) entgegen ist und von dessen Wahrheit sie etwa[s] fühlten, so heißt es: „Ja, es ist wohl wahr", legt sich dann auf's Ohr, und des Morgens trinkt man seinen Kaffee und schenkt ihn andern ein, als ob nichts geschehen wäre. Ohnedem nehmen sie mit allem vorlieb, was ihnen angeboten wird und was sie im System des Schlendrians erhält. Aber ich glaube, es wäre interessant, die Theologen, die kritisches Bauzeug zur Befestigung ihres gotischen Tempels herbeischaffen, in ihrem Ameisen-Eifer so viel möglich zu stören, ihnen alles [zu] erschweren, [sie] aus jedem Ausfluchtswinkel herauszupeitschen, bis sie keinen mehr fände[n] und sie ihre Blöße dem Tageslicht ganz zeigen müßten. Unter dem Bauzeug, das sie dem Kantischen Scheiterhaufen entführen, um die Feuersbrunst der Dogmatik zu verhindern, tragen sie aber wohl immer auch brennende Kohlen mit heim; sie bringen die allgemeine Verbreitung der philosophischen Ideen. –
Zu dem Unfug, wovon Du schreibst und dessen Schlußart ich mir darnach vorstellen kann, hat aber unstreitig Fichte durch seine „Kritik aller Offenbarung" Tür und Angel geöffnet. Er selbst hat mäßigen Gebrauch gemacht; aber wenn seine Grundsätze einmal fest angenommen sind, so ist der theologischen Logik kein Ziel und Damm mehr zu setzen. Er räsoniert aus der Heiligkeit Gottes, was er vermöge seiner rein moralischen Natur tun müsse u.s.w., und hat dadurch die alte Manier, in der Dogmatik zu beweisen, wieder eingeführt; es lohnte vielleicht der Mühe, dies näher zu beleuchten. – Wenn ich Zeit hätte, so würde ich suchen, es näher zu bestimmen, wieweit wir – nach Befestigung des moralischen Glaubens die legitimierte Idee von Gott jetzt rückwärts brauchen, z. B. in Erklärung der Zweckbeziehung u.s.w., sie von der Ethikotheologie her jetzt zur Physikotheologie mitnehmen und da jetzt mit ihr walten dürften. Dies scheint mir der Gang überhaupt zu sein, den man bei der Idee der Vorsehung – sowohl überhaupt, als auch bei Wundern und, wie Fichte, bei Offenbarung – nimmt u.s.w. – Sollte ich dazu kommen, meine Meinung breiter zu entwickeln, so werde ich sie Deiner Kritik unterwerfen, aber zum Voraus dabei um Nachsicht flehen. – Meine Entfernung von mancherlei Büchern und die Eingeschränktheit meiner Zeit erlauben mir nicht, manche Idee auszuführen, die ich mit mir herumtrage. Ich werde wenigstens nicht viel weniger tun, als ich kann. Ich bin überzeugt, nur durch kontinuierliches Schütteln und Rütteln von allen Seiten her ist endlich eine Wirkung von Wichtigkeit zu hoffen, es bleibt immer etwas hangen; und jeder Beitrag von der Art, auch wenn er nichts Neues enthält, hat sein Verdienst; – und Mitteilung und gemeinschaftliche Arbeit erneuert und stärkt. Laß uns oft Deinen Zuruf wiederholen: „Wir wollen nicht zurückbleiben!"
Was macht Renz? Es scheint in seinem Charakter etwas Mißtrauisches zu sein, das sich nicht gern mitteilt, nur für sich arbeitet, andre nicht der Mühe wert hält, für sie etwas zu tun, oder das Uebel für zu unheilbar hält. Vermöchte es Deine Freundschaft nicht über ihn, ihn zu Tätigkeit aufzufordern, gegen die jetzt lebende Theologie zu polemisieren? Die Notwendigkeit, und daß es nicht überflüssig ist, erhellt doch aus der Existenz derselben.
Hölderlin schreibt mir zuweilen aus Jena, ich werde ihm wegen Deiner Vorwürfe machen. Er hört Fichte'n und spricht mit Begeisterung von ihm als einem Titanen, der für die Menschheit kämpfe und dessen Wirkungskreis gewiß nicht innerhalb der Wände des Auditoriums bleiben werde. Daraus, daß er Dir nicht schreibt, darfst Du nicht auf Kälte in der Freundschaft schließen, denn diese hat bei ihm gewiß nicht abgenommen, und sein Interesse für weltbürgerliche Ideen nimmt, wie mir's scheint, immer zu.
Das Reich Gottes komme, und unsre Hände seien nicht müßig im Schoße!
Einen Ausdruck in Deinem Briefe von dem moralischen Beweise verstehe ich nicht ganz: „den sie so zu handhaben wissen, daß das individuelle, persönliche Wesen herausspringe." Glaubst Du, wir reichen eigentlich nicht so weit? Lebe wohl!
Vernunft und Freiheit bleiben unsre Losung, und unser Vereinigungspunkt die unsichtbare Kirche.
H.
[Am Rande:] Antworte mir recht bald; grüße meine Freunde!
Metadata Concerning Header
  • Date: nach dem 06. Januar 1795
  • Sender: Georg Wilhelm Friedrich Hegel ·
  • Recipient: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Place of Dispatch: Bern · ·
  • Place of Destination: Tübingen · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 60‒63.

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