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Georg Wilhelm Friedrich Hegel to Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling TEI-Logo

Mein Lieber!
Das Verspäten meiner Antwort hat teils in mancherlei Geschäften, teils auch in Zerstreuungen seinen Grund, welche durch die politische Feste, die hier gefeiert wurden, veranlaßt waren. Alle 10 Jahr wird der conseil souverain um die etwa 90 in dieser Zeit abgehende Mitglieder ergänzt. Wie menschlich es dabei zugeht, wie alle Intrigen an Fürstenhöfen durch Vettern und Basen nichts sind gegen die Kombinationen, die hier gemacht werden, kann ich Dir nicht beschreiben. Der Vater ernennt seinen Sohn oder den Tochtermann, der das größte Heiratsgut zubringt und so fort. Um eine aristokratische Verfassung kennen zu lernen, muß man einen solchen Winter, vor den Ostern, an welchen die Ergänzung vorgeht, hier zugebracht haben!
Noch mehr hinderte mich aber an einer bäldern Antwort der Wunsch, Dir ein gründliches Urteil über Deine mir zugeschickte Schrift, wofür ich Dir sehr danke, zu schreiben, Dir wenigstens zu zeigen, daß ich Deine Ideen ganz gefaßt habe. Aber zu einem gründlichen Studium derselben hatte ich nicht Zeit; nur soweit ich die Hauptideen aufgefaßt habe, sehe ich darin eine Vollendung der Wissenschaft, die uns die fruchtbarste Resultate geben wird, – ich sehe darin die Arbeit eines Kopfs, auf dessen Freundschaft ich stolz sein kann, der zu der wichtigsten Revolution im Ideensystem von ganz Deutschland seinen großen Beitrag liefern wird. Dich aufzumuntern, Dein System ganz auszuführen, würde Beleidigung sein, da eine Tätigkeit, die einen solchen Gegenstand ergriffen hat, dessen nicht bedarf. Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung erwarte ich eine Revolution in Deutschland, die von Prinzipien ausgehen wird, die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet, auf alles bisherige Wissen angewendet zu werden. Immer wird freilich eine esoterische Philosophie bleiben, – die Idee Gottes als des absoluten Ichs wird darunter gehören. Bei einem neuern Studium der Postulate der praktischen Vernunft hatte ich Ahndungen gehabt von dem, was Du mir in deinem letzten Brief deutlich auseinandersetzest, was ich in Deiner Schrift fand und was mir die „Grundlage der Wissenschaftslehre" von Fichte vollends aufschließen wird; durch die Konsequenzen, die sich daraus ergeben werden, werden manche Herren in Erstaunen gesetzt werden. Man wird schwindeln bei dieser höchsten Höhe aller Philosophie, wodurch der Mensch so sehr gehoben wird; aber warum ist man so spät darauf gekommen, die Würde des Menschen höher anzuschlagen, sein Vermögen der Freiheit anzuerkennen, das ihn in die gleiche Ordnung aller Geister setzt? Ich glaube, es ist kein besseres Zeichen der Zeit als dieses, daß die Menschheit an sich selbst so achtungswert dargestellt wird; es ist ein Beweis, daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet. Die Philosophen beweisen diese Würde, die Völker werden sie fühlen lernen, und ihre in den Staub erniedrigte Rechte nicht fordern, sondern selbst wieder annehmen, – sich aneignen. Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte, Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgend einem Guten, durch sich selbst etwas zu sein. Mit Verbreitung der Ideen wie etwas sein soll, wird die Indolenz der gesetzten Leute, ewig alles zu nehmen, wie es ist, verschwinden. Diese belebende Kraft der Ideen – sollten sie auch immer noch Einschränkung an sich haben – wie die des Vaterlandes, seiner Verfassung, u.s.w. – wird die Gemüter erheben, und sie werden lernen, ihnen aufzuopfern, da gegenwärtig der Geist der Verfassungen mit dem Eigennutz einen Bund gemacht, auf ihn sein Reich gegründet hat. Ich rufe mir immer aus dem Lebensläufer zu: „Strebt der Sonne entgegen, Freunde, damit das Heil des menschlichen Geschlechtes bald reif werde! Was wollen die hindernden Blätter? Was die Aeste? – Schlagt euch durch zur Sonne, und ermüdet ihr, auch gut! Desto besser läßt sich schlafen!".
Es fällt mir ein, daß dieser Sommer Dein letzter in Tübingen ist. Wenn Du eine eigne Disputation schreibst, so will ich Dich ersucht haben, sie mir sobald als möglich zuzuschicken (gib sie nur auf den Postwagen und schreibe auch darauf, daß sie durch den Postwagen weiter befördert werden soll); auch wenn Du sonst etwas drucken lässest, so ersuche den Buchhändler Cotta, es mir zu[kommen] zu lassen. Ich bin auf die Produkte der Ostermesse begierig; Fichtes W[issenschaftslehre] nehme ich mir vor, auf den Sommer zu studieren, wo ich überhaupt mehr Muße haben werde, einige Ideen auszuführen, mit denen ich schon lange umgehe, wobei mir der Gebrauch einer Bibliothek abgeht, welches ich doch sehr nötig hätte. Schillers Horen, zwei erste Stücke, haben mir großen Genuß gewährt; der Aufsatz über die aesthetische Erziehung des Menschengeschlechts ist ein Meisterstück. Niethammer kündigte zu Anfang des Jahres ein Philosophisches Journal an; ist etwas daraus geworden? Hölderlin schreibt mir oft von Jena; er ist ganz begeistert von Fichte, dem er große Absichten zutraut. Wie wohl muß es Kant tun, die Früchte seiner Arbeit schon in so würdigen Nachfolgern zu erblicken. Die Ernte wird einst herrlich sein! Süskind danke ich für seine freundschaftliche Bemühung, die er für mich übernommen hat. Was macht Renz? Deinen Aeußerungen nach ist mir sein Verhältnis zu seinem Onkel unbegreiflich und benimmt mir den Mut, mich an ihn zu wenden. – Was nimmt Hauber für einen Weg?
Lebe wohl, mein Freund! Ich möchte uns einst wieder versammelt sehen, um manches einander mitzuteilen, voneinander zu hören, was unsere Hoffnungen bestätigen könnte –
Dein H.
Bern, den 16. Apr. 95.
[Darunter von Schellings Hand:] resp. den 16. Jul.
[Am Rande von Hegel:] Sei so gut, Deine Briefe in Zukunft gar nicht mehr zu frankieren; sie laufen sicherer, – ich fange mit diesem an.
[Anschrift] An Herrn M. Schelling in Tübingen frei bis Schaffhausen.
Metadata Concerning Header
  • Date: Donnerstag, 16. April 1795
  • Sender: Georg Wilhelm Friedrich Hegel ·
  • Recipient: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Place of Dispatch: Bern · ·
  • Place of Destination: Tübingen · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 66‒68.

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