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Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling to Georg Wilhelm Friedrich Hegel TEI-Logo

Tübingen, d. 21. Jul. 95.
Endlich komm ich dazu, Dir, 1. Freund, Deinen letzten Brief zu beantworten. Anfangs wollte ich nur so lange warten, bis meine Disputation geschrieben wäre, um sie Dir Deinem Verlangen gemäß schicken zu können. Als ich dies Geschäft vom Hals hatte, ward ich krank, mußte nach Haus gehen, um mich da zu erholen, und bin nur erst seit ungefähr 8 Tagen wieder hier. Nun ist es mir wahres Bedürfniß, mich durch Unterhaltung mit einem Freunde, wie Du bist, aufzurichten. Mein einförmiges Leben, an welchem ich immer weniger Lust habe und das mir durch Verhältnisse, die Du wohl kennst, gänzlich freie Aeußerung meiner Gesinnungen verbittert, treibt mich an, in der Stille meine Freunde zu suchen und mit ihnen gemeinschaftlich mich der Hoffnungen zu freuen, die ich großentheils auch ihrem Umgänge verdanke.
Was unsern gegenwärtigen Zustand um Vieles bessert, sind die Hoffnungen, die uns die Thätigkeit und die aufgeklärte Gesinnung des neuen Herzogs einflößen. Der Despotismus unsrer philosophischen Halbmänner wird, wie ich hoffe, durch diese Veränderung einen großen Stoß bekommen. Es ist unbegreiflich, wie viel jener moralische Despotismus geschadet hat: hätt' er noch einige Jahre gedauert, er hätte die Denkfreiheit in unserm Vaterlande tiefer, als kein politischer Despotismus im Stande gewesen wäre, niedergedrückt. Ignoranz, Aberglaube und Schwärmerei hatten allmählich die Maske der Moralität und – was noch weit gefährlicher ist – die Maske der Aufklärung angenommen. Gewiß hätte sich in kurzer Zeit mancher die Zeiten der krassesten Finsterniß zurückgewünscht; denn der Kreis, den diese beschreibt, ist weit gegen die Schranken, welche jene halbe Aufklärung um uns gezogen hätte. Es war nimmer blos um Kenntniß, Einsicht, Glaube zu thun; es gieng um Moralität: von Beurtheilung der Kenntnisse, der Talente, war nimmer die Rede, man beurtheilte nur den Charakter. Man wollte keine gelehrte, man wollte nur moralisch-gläubige Theologen, Philosophen, die das Unvernünftige vernünftig machen und der Geschichte spotten. – Doch Du sollst einst mündlich eine Charakteristik dieser Periode bekommen; ich glaube, ihren Geist so gut als irgend ein andrer zu kennen. Ich bürge Dir dafür, daß Du erstaunen würdest.
Du erhältst hier meine Disputation. Ich war genöthigt, sie schnell zu schreiben, und erwarte deswegen Deine Nachsicht. Gern hätte ich ein anderes Thema gewählt, wenn ich frei gewesen wäre, und das erste Thema, daß ich bearbeiten wollte (de praecipuis orthodoxorum antiquiorum adversus haeriticos armis) und das ohne alles mein Verdienst die beißendste Satire geworden wäre, mir nicht gleich anfangs privatim mißrathen worden wäre.
Noch weit mehr aber bitte ich Dich um Deine Nachsicht mit der andern Schrift, die Du anbei erhältst. Wie sehr hat mich das Urtheil in Deinem letzten Brief beschämt. Ich heuchle diese Empfindung nicht; aber ich fühle es nur gar zu sehr, was dieser neuen Schrift sowie der früheren fehlt, und ich verzeihe es gerne – gerne jedem, der mir, wenn er dasselbe Gefühl hat, es mittheilt. Nur spät vielleicht werde ich wieder gut machen, was ich bis jetzt verdorben habe. Mein Hauptfehler war, daß ich die Menschen nicht kannte, daß ich zu viel von ihrem guten Willen – vielleicht selbst zu viel von ihrer Divinationsgabe erwartet habe. Auch Du hattest Deinem letzten Briefe nach ganz andere Begriffe. Gewiß, Freund, die Revolution, die durch die Philosophie bewirkt werden soll, ist noch ferne. Die Meisten, die mitwirken zu wollen schienen, treten nun erschrok-ken zurück. Das hätten sie nicht vermuthet! –
Fichtes Wirksamkeit scheint vollends gar für jetzt wenigstens ganz unterbrochen zu sein. Muthiger Eifer gegen akademische Thorheiten der Jenaischen Studenten, verbunden mit der wahrscheinlich noch insgeheim mitwirkenden Cabale neidischer Collegen hat ihm die fürchterlichsten Ausbrüche eines allgemeinen Hasses der Studirenden zugezogen. Zu Anfang dieses Sommers war er genöthigt Jena auf eine Zeitlang wenigstens zu verlassen, jetzt, sagt man, sei er wieder zurückgekehrt – aber, 1. Gott, mit welchen Aussichten? – Oeffentlich – in vielen Journalen – wird ihm moralisch-politisch-philosophisch der Prozeß gemacht.
In Jakobs Philosophischen Journalen wird er behandelt, wie sonst kaum der Auswurf der Literatur behandelt wurde. Alle, die seine Beiträge etc., seine neue Philosophie vor den Kopf gestoßen, triumphiren. – Von Schiller (dem wahrscheinlichen Verfasser der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in den Horen) wird geurtheilt, daß es Schande für einen solchen Mann sei, sich mit einem Fichte gemein zu machen. Alle Schwachköpfe sind empört!
Hölderlin ist, wie ich höre, zurückgekommen. Hier haben wir noch nichts von ihm gesehen. Renz ist Vikar in Maulbronn, nun, so viel ich weiß, in besserer, vergnügterer Lage. Er hat nun angefangen, bisweilen zu schreiben. Wolltest Du mir einen Brief für ihn schicken, so weiß ich, daß ihn das außerordentlich freuen würde. – Hauber – mit der Zeit gewiß ein großer Mathematiker – nimmt den Weg, den man von einem solchen Kopf vermuthen kann. – Niethammers Philosophisches Journal ist erschienen: es enthält zum Theil vorzügliche Abhandlungen – Er hat mich um Beiträge gebeten; im 5ten Stück – wenn Du das Journal lesen kannst – wirst Du philosophische Briefe finden, die von mir sind.
Dir und Mögling (warum läßt dieser nichts von sich hören? man sagt hier, er werde zurückkommen) tausend Grüße von allen Bekannten.
Ich hoffe, Du werdest mich den langen Aufschub meiner Antwort nicht entgelten lassen. Lebe wohl, theurer Freund.
Der Deinige Sch.
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 21. Juli 1795
  • Sender: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Recipient: Georg Wilhelm Friedrich Hegel ·
  • Place of Dispatch: Tübingen · ·
  • Place of Destination: Bern · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 69‒72.

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