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Georg Wilhelm Friedrich Hegel to Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling TEI-Logo

Tschugg bei Erlach über Bern, den 30. Aug. 95.
Die Geschenke, mein Bester, die Du mir geschickt hast, sowie Dein Brief, haben mir die lebhafteste Freude verursacht und den reichsten Genuß gewährt, und ich bin Dir aufs äußerste dafür verbunden. Unmöglich ist es mir, Dir alles zu schreiben, was ich dabei empfand und dachte.
Deine erste Schrift, der Versuch, Fichtes Grundlage zu studieren, zum Teil meine eigenen Ahndungen, haben mich in den Stand gesetzt, in Deinen Geist einzudringen und seinem Gange zu folgen, viel mehr, als ich es noch bei Deiner ersten Schrift im Stande war, die mir aber jetzt durch deine zweite erklärt wird. Ich war einmal im Begriff, es mir in einem Aufsatz deutlich zu machen, was es heißen könne, sich Gott zu nähern, und glaubte, darin eine Befriedigung des Postulats zu finden, daß die praktische Vernunft der Welt der Erscheinungen gebiete, und der übrigen Postulate. Was mir dunkel und unentwickelt vorschwebte, hat mir Deine Schrift aufs Herrlichste und Befriedigende aufgeklärt. Dank sei Dir dafür, – für mich, – und jeder, dem das Heil der Wissenschaften und das Weltbeste am Herzen liegt, wird Dir, wenn auch jetzt nicht, doch mit der Zeit danken. – Was Dir im Wege stehen wird, verstanden zu werden und Deinen Betrachtungen, Eingang zu finden, wird, stelle ich mir vor, überhaupt das sein, daß die Leute schlechterdings ihr Nicht-Ich nicht werden aufgeben wollen. In moralischer Rücksicht fürchten sie Beleuchtung – und den Kampf, in den ihr behagliches Bequemlichkeits-System geraten kann. Im theoretischen Sinne haben sie von Kant zwar gelernt, daß der bisherige Beweis für Unsterblichkeit und der ontologische u.s.w. nicht stichhaltig sind (sie hielten es für Aufdeckung einer künstlichen Täuschung, s. S. 17 Deiner Schrift) aber sie haben noch nicht begriffen, daß das Mißlingen solcher Abenteuer der Vernunft und ihres Ueberfliegens des Ichs in ihrer Natur selbst gegründet ist. Daher ist bei ihnen z. B. auch in ihrer Behandlung der Eigenschaften Gottes nichts geändert worden; nur der Grund wurde anders gelegt, und diese Eigenschaften Gottes sind (wie sich unser Lebensläufer irgendwo ausdrückt) noch immer der Dietrich, womit diese Herrn alles aufschließen. Wenn ihnen S. 103 Deiner Schrift nicht auch darüber das Verständnis öffnet (denn selbst diese Schlüsse zu machen, sind sie zu träg; man muß ihnen alles totidem verbis vorsagen), so sind es capita insanabilia.
Der Rezensent Deiner ersten Schrift in der Tübinger Gelehrten Zeitung mag in andern Rücksichten verehrungswürdig sein, aber in ihr einen objektiven Grundsatz als den höchstens zu finden zu glauben, hat doch wahrlich keinen Tiefsinn gezeigt, – es wird wohl Abel sein. Den heillosen Rezensenten aber in Jakob's Philosophischen Annalen hast Du behandelt, wie er es verdiente. Jakob wird wohl auch an der Fichte'schen Philosophie zum Ritter werden wollen, wie Eberhard an der Kantischen, und ihre pompvoll angekündigten Zeitschriften werden ein gleiches Schicksal haben.
Die trüben Aussichten, die Du für die Philosophie in Deinem Briefe zeigst, haben mich mit Wehmut erfüllt.
[Hier sind anderhalb Zeilen durch Schellings Hand fast unleserlich gemacht worden. Der Anfang läßt sich noch entziffern: „Du sagst, Du habest viele Bedenken, und Du müßtest wieder"]
Ueber die Folgen, die das Mißverstehen Deiner Grundsätze für Dich haben könnte, bist Du erhaben. Du hast schweigend Dein Werk in die unendliche Zeit geworfen: hie und da angegrinst zu werden, das, weiß ich, verachtest Du. Aber in Rücksicht auf andere, die vor den Resultaten zurückbeben, ist Deine Schrift so gut als nicht geschrieben. Dein System wird das Schicksal aller Systeme derjenigen Männer haben, deren Geist dem Glauben und den Vorurteilen ihrer Zeit vorausgeeilt ist. Man hat sie verschrieen und aus seinem System heraus widerlegt; indes ging die wissenschaftliche Kultur still ihren Gang fort, und in fünfzig Jahren später hat die Menge, die nur mit dem Strom ihrer Zeit fortschwimmt, mit Verwunderung gefunden, daß die Werke, die sie in der Polemik vom Hörsensagen als längst widerlegte Irrtümer enthaltend kennen lernte, wenn sie zufälligerweise selbst ein solches zu Gesicht bekommen, das herrschende System ihrer Zeiten enthalten. Es fällt mir hiebei ein Urteil ein, das vorigen Sommer ein Repetent von Dir fällte; er sagte mir, Du seiest nur zu aufgeklärt für dieses Jahrhundert, im nächsten etwa werden Deine Grundsätze an ihrem Platz sein. In Rücksicht auf Dich scheint mir dies Urteil fade, aber charakteristisch in Rücksicht auf den, der es fällte, und die ganze große Klasse derjenigen, die es nicht für wohlgetan halten, über die Linie der in ihrem Zeitalter, Zirkel und Staate herrschenden Aufklärung, über das allgemeine Niveau sich zu erheben, sondern die behagliche Hoffnung haben, es werde alles schon mit der Zeit kommen, und dann sei es für sie noch übrig Zeit genug, einen Schritt vorwärts zu tun; oder vielmehr haben sie die Hoffnung, sie werden schon auch mit fortgeschoben werden. Selbst die Beine aufgehoben, meine Herm!
Den Geist, den die vorige Regierung einzuführen drohte, habe ich in Deiner Beschreibung erkannt, er ist in Heuchelei und Furchtsamkeit (einer Folge des Despotismus) gegründet und selbst wieder Vater der Heuchelei, – der Geist, der in jeder öffentlichen Konstitution herrschend werden muß, die den chimärischen Einfall hat, Herzen und Nieren prüfen zu wollen und Tugend und Frömmigkeit zum Maßstab der Schätzung des Verdiensts und der Austeilung der Aemter zu nehmen. Ich fühle innigst das Bejammernswürdige eines solchen Zustandes, wo der Staat in die heilige Tiefe der Moralität hinabsteigen und diese richten will; bejammernswürdig ist er, auch wenn der Staat es gut meinte, noch unendlich trauriger, wenn Heuchler dies Richteramt in die Hände bekommen, welches geschehen muß, wenn es anfangs auch gut gemeint gewesen wäre. Dieser Geist scheint auch Einfluß auf die Ergänzung Eures Repetentenkollegiums gehabt [zu] haben, das, wenn es aus gut organisierten Köpfen bestünde, manchen Nutzen stiften könnte.
Bemerkungen über Deine Schrift kannst Du von mir nicht erwarten. Ich bin hier nur ein Lehrling; ich versuche es, Fichtes Grundlage zu studieren. Erlaube mir eine Bemerkung, die mir einfiel, damit Du wenigstens den guten Willen siehst, deinem Verlangen, Dir Bemerkungen mitzuteilen, Genüge zu tun. § 12 Deiner Schrift legst Du dem Ich das Attribut als einziger Substanz bei; wenn Substanz und Akzidenz Wechselbegriffe sind, so scheint mir, wäre der Begriff von Substanz nicht auf das absolute Ich anzuwenden; wohl auf das empirische Ich, wie es im Selbstbewußtsein vorkommt. Daß Du aber von diesem (die höchste Thesis und Antithesis vereinigenden) Ich nicht sprechest, machte mich der vorhergehende § glauben, wo Du dem Ich Unteilbarkeit zuschreibst, welches Prädikat nur dem absoluten, nicht dem Ich, wie es im Selbstbewußtsein vorkommt, beizulegen wäre, in welchem es nur als einen Teil seiner Realität sich setzend vorkommt.
Was ich Dir über Deine Disputation schreiben könnte, wäre, Dir meine Freude über den freiem Geist der hohem Kritik, der darin webt, zu bezeugen, der, wie ich nicht anders von Dir erwartete, unbestochen von der Ehrwürdigkeit der Namen, das Ganze vor Augen hat und nicht Worte für heilig hält, – und Dir über Deinen Scharfsinn und Gelehrsamkeit Komplimente zu machen. – Ich habe darin besonders auch einen Verdacht bestätigt gefunden, den ich schon längst hegte, daß es für uns und die Menschheit vielleicht ehrenvoller ausgefallen wäre, wenn irgend eine, es sei welche es wolle, durch Konzilien und Symbole verdammte Ketzerei zum öffentlichen Glaubenssystem gediehen wäre, als daß das orthodoxe System die Oberhand behalten hat.
Fichte dauert mich; Biergläser und Landsväterdegen haben also der Kraft seines Geistes widerstanden; vielleicht hätte er mehr ausgerichtet, wenn er ihnen ihre Roheit gelassen und sich nur vorgesetzt hätte, sich ein stilles, auserwähltes Häufchen zu ziehen. Aber schändlich ist es doch wohl, – seine und Schillers Behandlung von seinwollenden Philosophen. Mein Gott, was für Buchstabenmenschen und Sklaven sind noch darunter!
Niethammers Journal hoffe ich alle Tage zu erhalten und freue mich besonders auf Deine Beiträge. Dein Beispiel und Deine Bemühungen ermuntern mich von neuem, der Ausbildung unserer Zeiten, so viel möglich, nachzurücken.
Hölderlin, höre ich, sei in Tübingen gewesen; gewiß habt immer angenehme Stunden miteinander zugebracht; wie sehr wünschte ich, der dritte Mann dazu gewesen zu sein!
Von meinen Arbeiten ist nicht der Mühe wert zu reden; vielleicht schicke ich Dir in einiger Zeit den Plan von etwas zu, das ich auszuarbeiten gedenke, wobei ich mit der Zeit Dich besonders auch um freundschaftliche Hülfe, auch im kirchenhistorischen Fache, wo ich sehr schwach bin und wo ich mich am besten bei Dir Rats erholen kann, ansprechen werde.
Da Du Tübingen bald verläßt, so sei so gut, mich von dem, was Du vorzunehmen im Sinne hast und von dem künftigen Orte Deines Aufenthalts, wie von allen Deinen Schicksalen, bald zu benachri[cht]igen. Schone vor allem, um Deiner und Deiner Freunde willen, Deine Gesundheit; sei nicht zu geizig mit der Zeit, die Du auf Erholung anzuwenden hast! Grüße meine Freunde herzlich. Das nächstemal lege ich Dir einen Brief an Renz bei; es würde den Abgang dieses verzögern. Grüße ihn indes herzlich von meiner Seite, wenn Du ihm schreibst! Lebe wohl, antworte mir bald! Du kannst nicht glauben, wie wohl es mir tut, in meiner Einsamkeit von Dir und meinen andern Freunden von Zeit zu Zeit etwas zu hören.
Dein Hgl.
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  • Date: Sonntag, 30. August 1795
  • Sender: Georg Wilhelm Friedrich Hegel ·
  • Recipient: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Place of Dispatch: Tschugg ·
  • Place of Destination: Tübingen · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 72‒76.

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