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Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling to Joseph Friedrich Schelling, Gottliebin Maria Schelling TEI-Logo

Darmstadt d. 3. Apr. 96.
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Den 2. April früh reisten wir nach Darmstadt... Viele ehemalige Bekannte meiner Eleven ... erwarteten sie hier. Es freute mich, hier ihre Empfindlichkeit für alte Freundschaft in vollem, ungeheucheltem Ausbruche zu sehen. Jedermann freute sich ihres Wuchses, ihrer gesunden Farbe, mitunter auch ihres unveränderten guten Gemüths, es war ein recht froher Anblick. Die Liebe für sie geht so weit, daß auch ein Theil davon auf ihren Hofmeister übergeht. Ich habe durch sie in zwei Tagen eine Menge Bekanntschaften gemacht.
Kaum waren wir abgestiegen, als schon ein Bedienter vom H. Geh. Rath von Gatzert da war und sich nach unserer Ankunft erkundigte. Wir ließen uns auf den folgenden Tag die Erlaubniß ausbitten, ihm aufzuwarten. Wir wurden hierauf zum Mittagessen auf den andern Tag gebeten. Der Geh. Rath nahm mich mit sehr vieler Distinktion auf. Ich hatte das nicht erwartet, man hatte mir hier gesagt, il a l'orgeuil d'un parvenu. Aber mein Aufsatz hatte das bewirkt. Er sagte mir selbst nachher, welche gute Begriffe von mir ihm dieser beigebracht habe. Sonderbar, wie diesen Leuten alles, was geschrieben ist, imponirt. Das kommt daher, weil sie blos schwatzen, aber nicht denken lernen. Ueber Tisch waren wir alle heiter. Ich fühlte mich glücklich auf das steife Wesen in Heilbronn. Ich hatte etwas ähnliches erwartet, aber ich sah bald, daß wir bei einem weiland Bürgerlichen – und bei einem ehemaligen Professor in Göttingen zu Tische seien. Die Frau vom Hause – eine gute, ältliche Dame, die im Reden anstößt, im groben Gießener Dialekt spricht und ihre Gäste beinahe zu Tode füttert. Die übrige Gesellschaft – was man erbärmliches sehen kann. Ich glaube schon öfters bemerkt zu haben, daß angesehene Männer gerne in Gesellschaft schwacher, einfältiger, geistloser Leute sind. Sie fürchten ihre bürgerliche Superiorität in freier Unterredung am Tisch und in Gesellschaft nicht behaupten zu können und erkaufen den Triumph ihres Ansehens gerne mit der Langenweile und dem Mitleiden, das ihnen solche Creaturen erregen müssen. Sprach über Tisch Se. Excellenz ein Wort, so war alles Ohr, noch sperrten sie dazu Mund und Nase auf, verzogen lächelnd den Mund, und war es geendigt – respectvoller Beifall, durch eine Verbeugung erklärt! Wie ein sonst vernünftiger und wirklich aufgeklärter Mann sich solchen Creaturen gegenüber süperiör fühlen meiner Eleven ist. Ich werde an ihm eine Stütze gegen den aristokratischen kann! Die eine davon war die Figur eines Leibmedicus, die lebendige Aderlaßtafel genannt Dr. Balthasar: die andern zwei Regierungsräthe, von denen einer aussieht wie Freund Lazarus, als er aus dem Schlaf erwachte, der andere kein lautes Wort hervorbringt, endlich der vierte der Herr Archivrath Streckher, Cassier der jungen Herren von Riedesel, ein Wesen, das immer lacht, in seinem Leben wenig Zeit mit Denken verdorben hat und sich dabei recht gescheut und klug fühlt. Alle diese Menschen hatten Hofdegen angeschnallt und den unterthänigen Hut unter'm Arm. – Gern möcht' ich Ihnen im Detail sagen, welche Begriffe ich von der Darmstädter Koch-, Eß- und Trink-Kunst hier erhielt. Frau Mama möchte das interessant sein. So viel sag' ich Ihnen, daß ich nicht lüge, wenn ich sage, daß wenigstens 24 Schüsseln aufgetragen wurden, die kleinen Teller nicht gerechnet, von denen viele beim Nachtisch keinen Raum mehr auf der Tafel fanden. Über Tisch ward Hochheimer 83er getrunken, zum Dessert Rüdesheimer von 1724, weißer Burgunder und uralter Strohwein. Sie wissen, daß ich kein Kostverächter bin; dasselbe kann ich von meinen Eleven sagen, aber an diesem Tische galten wir für Wunder der Mäßigkeit, und Herr Streckher freute sich des geringen Kostgelds, das man für uns in Leipzig bezahlen würde. Doch fand ich bald, daß diese Esserei und Trinkerei hier zum Geist des Volkes gehört. Schon die Gesellschaft, die wir hier im Gasthof vorfanden, war halbbetrunken, und seitdem ist kein Mittag und kein Abend vergangen, ohne daß ich betrunkene Officiere, Räthe, Advokaten und selbst Geistliche (vornämlich ein Paar katholische) gesehen hätte. Dieß gehört zum Ton in einem aristokratischen Lande, wie das hiesige. Auf altdeutsche Weise fing der Herr Geh. Rath nach Tisch die Unterhandlungen mit mir an. Ich fand ihn als einen Mann von Geist und Kenntnissen, und ich schätze mich glücklich, daß er Mitvormund meiner Eleven ist. Ich werde an ihm eine Stütze gegen den aristokratischen Sinn der übrigen finden. Ich erwartete aristokratische Prätensionen. Nichts weniger! Ich sollte die jungen Leute erziehen, wie man jeden andern erzieht, der ein brauchbarer, kenntnißreicher gebildeter Mann werden soll. Ich soll Adelsstolz und Aristokratism im Keim zu unterdrücken suchen. Sie staunen vielleicht, ich staunte auch, ich fand den Mann ganz anders als man ihn mir geschildert hatte. Er kennt den Geist des Zeitalters und weiß recht gut, wie der Adel beschaffen sein muß, um sich gegen den Andrang des Bürgerstandes, der doch immer eine unendliche Majorität brauchbarer, gebildeter, kenntnißvoller und geist- und talentvoller Menschen enthält, zu behaupten.
Er verabredete mit mir einen Studienplan, der mir äußerst erwünscht war. Die beiden Eleven sollen anfangs, wenigstens ein Jahr, beinahe einzig allgemeine Wissenschaften, Philosophie, Geschichte, Mathematik, Physik, Musik, Statistik u.s.w. hören. Erst später sollen sie zum förmlichen Brodstudium übergehen. Die Forderung, daß ich Collegien mit ihnen besuche, habe ich bis jetzt wenigstens so weit heruntergesteigert, daß er sie blos auf die Vorlesungen über allgemeine Wissenschaften beschränkt hat. Ich hoffe übrigens, auch davon noch etwas wegzubringen. Auch das gehört noch zu seiner Charakteristik, daß er enthusiastischer Verehrer der Alten ist, und daß er vorzüglich auch durch die Lectüre derselben seine Mündel gebildet wissen will. Bis jetzt (5. April) habe ich nur Eine Unterredung mit ihm gehabt. Er ließ mir aber gestern schon sagen, daß er mich heute – wie, wo, wann? weiß ich nicht – wieder sprechen werde. Gewinne ich Zeit, so werde das weitere noch hinzusetzen. Dem Landgrafen und der Landgräfin sollen meine Eleven morgen präsentirt werden. Von mir war bisher noch nicht die Rede. Es kommt darauf an, ob vielleicht die letztere ausdrücklich nach mir fragt, und fordert, daß ich ihr aufwarte, darum bitten darf weder Herr Geh. Rath von Gatzert noch ich selbst. Was ich sonst für Bemerkungen zu machen Gelegenheit hatte, ist ungefähr Folgendes. Der Geist des hiesigen Publicums ist so beschaffen, wie er in einer so aristokratischen Stadt, als Darmstadt ist, beschaffen sein kann. Auch einige hellere Köpfe, die ich kennen lernte, haben doch nur lucida intervalla, denn sonst vergnügen sie sich, wie hier alles, an der Bouteille. Einen gewissen Geist der Kriecherei kann man bis zum Kellner im Wirthshaus hinunter bemerken. Seit ungefähr anderthalb Jahren hat sich hier Bouterweck aufgehalten, ein Mann, der sich als Dichter und Philosoph ausgezeichnet hat. Er unternahm es, Vorlesungen über Kantische Philosophie hier zu halten. Er bekam mehrere Zuhörer, von denen die eine Hälfte schlief, die andere wenigstens nicht viel begriffen zu haben scheint. Die übrigen, die diese Vorlesungen nicht besuchten, spotten noch jetzt über die anderen. Der einzige beinahe, der mit einem gewissen Interesse darin aushielt, war der Obertribunalrath Höpfner, der Ihnen wahrscheinlich als Naturrechtslehrer bekannt ist. Überhaupt bemerkt man hier überall, was man in allen Staaten, wo aristokratische Gesinnung vorherrschend ist, bemerken kann – Verachtung aller gründlichen Wissenschaften, einen unüberwindlichen Abscheu vor aller Anstrengung, völlige Abspannung aller Geisteskräfte u.s.w. Der freidenkendste Kopf, den ich hier kennen lernte, ist ein Buchhändler und Buchdrucker, Krämer, der ehemals viel Verkehr und Umgang mit Voltaire hatte, aber auch dieser ist den ganzen Tag betrunken. Gestern wurde ich in einen hiesigen Club eingeführt. Da wurde auch nicht Ein vernünftiges Wort gesprochen. Alles war stumm und saß am Spieltisch, stand am Billard oder schmauchte eine Pfeife. – Der berüchtigte Hofprediger Stark ist nun vollends zum Söldner des Despotism und zum Delator aufgeklärter Menschen herabgesunken; er ist, wie man mir hier versicherte, Herausgeber des politischen Journals Eudämonia, das voll ist von Lobreden der Tyrannei und von politischen Verleumdungen. Der achtungswürdigste Stand beinahe ist hier das Militär. Da sind wenigstens brave, biedere Männer darunter, die sich im Krieg tapfer gehalten haben. Das Avancement ist äußerst schnell, ohne alle Rücksicht auf Stand, Geburt, Alter u.s.w. Ich lernte hier einen Sohn vom Superintendenten Schulz in Gießen kennen, der vor zwei Jahren Gemeiner war und nun Hauptmann ist. Neuerdings will der Landgraf von seinen Truppen wieder nach Westindien in Sold der Engländer schicken. Man spricht von lauter Freiwilligen, bieten sich aber nicht genug Freiwillige an, so wird man mit Gewalt ausheben! – Moser ist hier ein verhaßter Name, nur einige wenige habe ich in der Stille noch mit Enthusiasm von ihm sprechen hören. Ein Hauptverbrechen machte man ihm aus dem neuen Canzleigebäude, das er aufgeführt hat und das doch schon jetzt zu eng ist, um alle Acten, Prozesse u.s.w. zu fassen. Die Stadt Darmstadt selbst hat keine einige Straße, die man schön oder auch nur gut angelegt nennen könnte. Die Environs der Stadt aber haben sich sehr verschönert durch die neuen Häuser, die der Landgraf bauen ließ und die durch die hiesige Baulotterie verloost werden. Ich schreibe Ihnen in einem Gasthofe vor der Stadt, einem prächtigen Hause mit freier Aussicht auf die ganze Gegend und weitem hellem Horizont. Die Gegend an sich hat wenig Reize, doch wird sie jetzt durch das treffliche Wetter und den reinen Himmel verschönert. Man sieht beinahe nichts als Sandboden, doch hat die Cultur auch diesem Land viel abgewinnen können.
Zu den Anlagen um die Stadt her gehört der Riedeselsche Garten, den jetzt Prinz George gepachtet hat. Er mag ehemals schön gewesen sein; jetzt ist er in voller Zerstörung, da sein gegenwärtiger Inhaber alles drin reformiren will und nichts ausführt. Auch das gehört zu den Geschichtchen, die man an kleinen Höfen erleben kann. Die Vormünder meiner Eleven haben diesen Garten auf 18 Jahre(!) an den Prinzen verpachtet, ohne irgendeine Bedingung als die, daß er für ein Land vielleicht von 12 Morgen, mit trefflichen Anlagen, einem schönen Wohnhaus, einer Meierei und allem, was zu einem solchen Garten und zu ländlichen Anlagen gehört, jährlich 1800 fl. bezahlt. Wahrscheinlich wird Herr Geh. Rath v. Gatzert nun die guten Jungen noch überreden wollen, daß sie dieses Werk ihres Vaters, seinen Lieblingsaufenthalt, das Haus, wo sie ihre Kindheit verlebt haben, an den Prinzen verkaufen.
Nun habe ich doch wahrhaftig viel geschrieben, vielleicht manches für Sie Uninteressante; aber erlauben Sie mir, daß ich in diesen Briefen neben dem, was für Sie interessant ist, auch das niederlege, was für mich vielleicht nur ein zufälliges Interesse hat. – Wir werden hier ungefähr noch bis zum Anfang der andern Woche bleiben. In Frankfurt, will Herr Geh. Rath von Gatzert, sollen wir einige Tage uns aufhalten. Tant mieux pour moi! Komme ich mit Herrn v. Gatzert sobald ins Reine, daß ich von hier abkommen kann, so werd' ich eine kleine Nebenreise nach Mainz, Worms u.s.w. machen. Wo nicht, so gehe ich von Frankfurt aus dahin. – Vielleicht daß ich Ihnen von hier aus noch einmal schreibe. Doch kann ich nichts Gewisses versprechen. Da ich die Zeit zu Briefen erobern muß, so fürchten Sie nichts, wenn ich nicht schnell aufeinander schreibe.
Ich habe so viel von mir geschrieben, daß ich mich bis jetzt nach Ihrem Wohlbefinden nicht erkundigte. Ich hoffe, Sie seien wohl, und wünsche, daß Sie es ferner bleiben. Haben Sie Nachrichten von Gottlieb? Haben Sie mir etwas zu schreiben, so bitte gehorsamst, mit umgehender Post nach Frankfurt den Brief unter der Adresse der Mde. Eyssen, oder noch besser unter meiner Adresse (Hofmeister der Herrn Baron von Riedesel) mit der Aufschrift poste restante abzuschicken. Ich werde ihn dann auf der Post daselbst sicher finden.
Ich hoffe, Sie haben meine Koffer von St. richtig erhalten. Aber ich sorge, der Gmünder Fuhrmann habe sie nicht abgeholt und Frau Prof. Strählin habe Unkosten mit dem Transport gehabt. Könnten Sie sich doch darnach erkundigen.
Ich grüße Sie alle bestens. Leben Sie wohl und vergessen nicht
Ihren Fr.
N. S. Indem ich mein Paquet Briefe ansehe, fällt es mir ein, daß Mama vielleicht auf den Einfall kommen könnte, Visiten-Vorlesungen daraus zu halten. Das verbitte ich doch ernstlich.
Metadata Concerning Header
  • Date: 03. bis 05. April 1796
  • Sender: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Recipient: Joseph Friedrich Schelling · , Gottliebin Maria Schelling ·
  • Place of Dispatch: Darmstadt ·
  • Place of Destination: Schorndorf (Rems-Murr-Kreis) · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 87‒92.

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