Single collated printed full text without registry labelling not including a registry

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling to Karl Josef Hieronymus Windischmann TEI-Logo

Jena, den 8. Mai 1801.
Womit soll ich mich, nicht bei Ihnen nur, sondern bei mir selbst entschuldigen, daß ich auf Ihren mir so äußerst werthen Brief vom 22. Febr. d. J. nicht früher geantwortet habe? Denn ich darf versichern, daß mir keine literarische Bekanntschaft seit langer Zeit ein so reines Vergnügen gemacht, wie die Ihrige, und daß mich keine Freundschaft so angezogen hat, als die, welche ich auch meines Theils mit Ihnen zu schließen wünsche. So different wir auch in Ansehung der ganzen Methode und vieler einzelner Ideen sein mögen, so bin ich doch überzeugt, daß wir in Einem einig sind, in der Voraussetzung, es seie möglich über die Natur zu einem Wissen zu gelangen, dem Meinen, Vermuthen u.s.w. ebenso, wie dem bloßen Bilder- und Zeichenspiel der bisherigen Physik ein Ende zu machen. Noch kenne ich Ihr System nicht vollständig, vielleicht auch Sie nicht das meinige, und wenn Sie von mir eine kleine Aenderung meines Gesichtspuncts fordern, so erlauben Sie dagegen mir, Sie zu bitten, daß Sie Ihr Vorurtheil gegen Philosophie eine Zeit lang – solange wenigstens vergessen, bis Sie sich überzeugt haben, daß die Philosophie, wie sie jetzt ist, und, wie ich wenigstens sie denke – mit Ihnen über viele Puncte weit einiger ist, als Sie zu glauben scheinen. Davon hat mich wenigstens Ihr Aufsatz, den Hr. Hufeland mir zu communiciren die Güte gehabt hat, überzeugt. Alles, was Sie gegen die chemische Ansicht der Natur, der organischen insbesondere sagen, unterschreibe ich und habe es zum voraus schon z. B. in meiner Schrift Von der Weltseele unterschrieben. Wollen Sie mir, verehrtester Hr. Doctor, die Gefälligkeit erzeigen, meine neuern Darstellungen der Naturphilosophie, besonders in dem bei dieser Messe erschienenen Heft meiner Zeitschrift für speculative Physik, das ich Ihnen selbst gern überschickte, wenn sich eine Gelegenheit dazu anböte, zu lesen und mit Ihren Entwürfen zu vergleichen, so würden Sie wahrscheinlich die Ideen, die Sie sich von meinem System gemacht haben, selbst ändern, ja sogar vielleicht die „kleine Aenderung des Gesichtspuncts" mir erlassen. Denn der Gesichtspunct, in dem ich jetzt stehe, ist ein unveränderlicher, wie ich denken muß, nicht nur in Ansehung meiner, sondern in Ansehung des Wissens überhaupt: es ist der einzige centrale, der die Dinge im Mittelpunct sieht, womit uns ja allein gedient sein kann, da es keine Frage ist, daß die Natur unzählige Seiten hat, von welchen aus sie sich darstellt und betrachtet werden kann, so daß man fast von jedem Punct der unendlichen Peripherie aus eine eigene – nicht falsche – aber auch nicht in der Totalität wahre Naturansicht geben kann. Da es mein sehnlicher und aufrichtiger Wunsch ist, daß wir beide vereint zu dem Ziel schreiten, welches wir uns doch beide gesetzt haben, so wünsche ich, daß Sie mit meiner Philosophie die vorläufige Bekanntschaft machen, um die ich Sie oben gebeten habe. Wie auch Ihr Urtheil darüber ausfalle, ich werde es ehren, aufs redlichste prüfen und nur nach Überzeugung Ihnen oder mir selbst Recht geben. Die Zeitschrift für speculative Physik ist eigentlich für die Untersuchungen bestimmt, die uns beide beschäftigen. Ich bitte Sie also recht angelegentlich um Ihre Grundzüge zur allgemeinen Physik, sie sollen baldmöglichst in jener Zeitschrift abgedruckt werden; mein Urtheil darüber, wenn es Sie interessirt, und wenn es sich nicht von selbst durch meine eignen Aufsätze ausspricht, werde ich gewissenhaft mittheilen, dagegen habe ich aber auch den Eigennutz und Eigensinn, wenn Sie wollen, gerade Sie, den ich von Seiten des Kopfs und Characters so sehr hochzuschätzen mich gedrungen, mit dem ich in socialer Rücksicht mich einig fühle, zu einem Urtheil über mein System zu bewegen, und vielleicht finden Sie Gelegenheit dieß gleich in der versprochenen Abhandlung zu thun, damit wir so gleich mehrere Schritte zur Vereinigung vorausthun. Es versteht sich, daß die Correspondenz hierzu gleichfalls nützlich sein wird, und mit Vergnügen nehme ich dieses Anerbieten an, wenn Sie mir nur zum voraus einige Nachsicht versprechen wollen, da ich, wie z. B. diesen Frühling, mit Geschäften überhäuft, und noch dazu mit einem, seit einiger Zeit kränklichen Körper im Kampfe bin, der mich oft an aller schriftlichen Mittheilung hindert und nur die Zeit für die nothwendigsten Geschäfte läßt. Die Bedingung jeder Verbindung ist wechselseitige Bekanntschaft. Ich werde mir alle Mühe geben, die Eigenthümlichkeit Ihres Geistes aus der versprochenen Abhandlung zu studiren. Die Schrift „Über die Natur des Menschen" werde ich baldmöglichst mir zu verschaffen suchen. Urtheilen auch Sie über mein Beginnen nicht nach allgemeinen Begriffen, die Sie sich von Philosophie gebildet haben, sondern aus dem, was ich selbst davon geäußert habe. In der letzten Zeit glaube ich wirklich bis zu dem Punct gekommen zu sein, von welchem aus sich nicht nur ein bloßer „Entwurf", sondern das System selbst mit aller möglichen Evidenz darlegen läßt. – Um den Charakter der Naturphilosophie Ihnen noch genauer bekannt zu machen, bin ich so frei, Ihre Aufmerksamkeit auf eine diese Messe erschienene Schrift:
Steffens, Beiträge zur inneren Naturgeschichte der Erde" zu erregen. Sie wird Ihnen vielfache Unterhaltung gewähren und mit manchem ihrer Resultate Ihre Bewunderung erregen. – Ich empfehle mich Ihrer Freundschaft und bin mit der aufrichtigsten Hochachtung
Der Ihrige.
Schelling.
Metadata Concerning Header
  • Date: Freitag, 8. Mai 1801
  • Sender: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Recipient: Karl Josef Hieronymus Windischmann ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Mainz · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 318‒320.

Zur Benutzung · Zitieren