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Carl A. Eschenmayer to Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling TEI-Logo

Kirchheim, den 21. Juli 1801.
Durch das letzte Heft Ihrer Zeitschrift haben Sie die Geistes-Armuth, in welcher ich einige Zeit lebte, wieder auf die angenehmste Weise unterbrochen. Erlauben Sie mir, einige Reflexionen, welche ich dabei gemacht habe, niederzuschreiben.
Da Sie die absolute Identität zur alleinigen Basis Ihres Systems nehmen, so stimmt zwar Ihr A = A mit Fichte's erstem der Form und dem Gehalt nach unbedingtem Grundsatz überein, aber Fichtes zweiter Grundsatz – A nicht = A findet sich nicht mehr in Ihrem System. Fichte nimmt nämlich einen ursprünglichen Gegensatz an und sein – A nicht = A ist daher ein Grundsatz, der zwar dem Gehalt nach durch den erstern bedingt, der Form nach aber eben so unbedingt ist als der erste. Bei Ihnen fällt der ursprüngliche Gegensatz ganz hinweg, für Sie giebt es kein ursprünglich Positives und Negatives, sondern nur einen Unterschied in der Größe des Seins (quantitative Differenz) oder ein Übergewicht der Identität mit sich selbst, in welchem Übergewicht Ihr A = B oder Subjectivität und Objectivität besteht. Ich gestehe ein, daß ich bisher mit Fichte das A = B in einem ursprünglichen Gegensatz und der Form nach wenigstens eben so unbedingt annahm, als das A = A, etwa wie der Dynamiker, welcher die unendliche Mannichfaltigkeit der Richtungen im Raume schlechthin nicht in Eine Richtung, sondern nur in zwei entgegengesetzte auflösen kann.
Der Unterschied beider Annahmen äußert sich schon bei der ersten Construction und ich halte mich daher an Ihre Grundformel:
+ +
A = BA = B
—————————————————————
A = A

[...]
Meine Bearbeitung der Naturphilosophie, welche ich mir für die Folge vorgenommen habe, geht, sobald die Momente der Construction sich aus der Philosophie hervorthun, mitten durch die Mathematik hindurch, und obwohl ich für jetzt nur wenige Aussicht für ein solches Geschäft habe, so ist doch dieses wenige so einladend für mich, daß ich ihm gerne jede andere Beschäftigung unterordne; auch ist in dieser wenigen Aussicht doch schon das enthalten, daß ich recht viel von Ihren bisherigen Sätzen werde benutzen können. Sollte ich nach meinem Verfahren einst leer ausgehen, so glaube ich mich doch dadurch entschädigt, daß meine Idee ein Vehikel war, mich wenigstens mit allen Theilen der Mathematik bekannt zu machen, was mir schon an und für sich einen reichlichen Genuß gewähren muß.
Die letzte Hälfte Ihres geschätzten Briefes enthält einen der schätzbarsten Beweise Ihrer freundschaftlichen Gesinnungen gegen mich, und obwohl ich im gegenwärtigen Falle keinen Gebrauch von Ihrem gütigen Offert machen kann, so legt es mir doch eine Verbindlichkeit gegen Sie auf, welche ich nie werde vergessen können. In Ihren freundschaftlichen Gesinnungen sehe ich zugleich ein Recht, mein Urtheil über Ihre Werke Ihnen künftighin privatim vorlegen zu dürfen, welches ich um so lieber thue, da ich über literarische Differenzen der Appellation an´s Publicum für immer überhoben sein möchte, denn was geht es die Welt an, wenn wir beide uns einander verständlich machen wollen? Ihre Erwiderung meiner Zweifel, welche wegen Sparsamkeit Ihrer Zeit so kurz ausfallen mag, als sie will, werde ich immer zur Rectification meines Maßstabs benutzen. Diese Art, uns zu verständigen, scheint mir viel liebreicher und aufrichtiger als jede andere, und der Weg zur Mittheilung weit kürzer, als wenn er durch so viele Midas-Ohren genommen wird, wodurch jedes Urtheil seine achromatische Wirkung verliert.
Mich an Hufelands Stelle zu sehen, halte ich nicht gerade für ein zu kühnes Unternehmen; auch würde mir der literarische Focus in Jena äußerst wohlthuend sein, ob er gleich manchmal so stark erwärmt, daß man seine eignen Fittiche daran verbrennt, und ich möchte in der That nicht dafür stehen, daß meine Federn nicht auch hie und da, wie des Icarus, mit Wachs gekittet sind; auch sehe ich ein, daß durch den schnellern und liberalern Umsatz von Ideen mein jährlicher Ertrag derselben um vieles erhöht werden müßte.
Aber das schlimmste ist, ich habe kein System für meine Wissenschaft; mein Weg zur Medicin geht durch die Philosophie und ich bin eben noch nicht weit vom Anfangspunct. Ich betrieb meine Wissenschaft bisher con amore und vergaß darüber das Systematische. Ich kenne zwar diese Systeme alle, halte aber noch für schlimmer, aus allen ein neues zusammenzuflicken, wie etwa Hufeland, als gar keines zu haben. Kurz ich tauge gegenwärtig nicht auf einen Lehrstuhl der Art; – ich müßte einen beständigen Skepticismus ausüben und könnte für das, was ich wegdemonstrirte, kaum etwas besseres geben, und dieß hieß doch vielmehr einen Lehrstuhl ausleeren, statt ihn ausfüllen. Hierzu kommen noch andre Gegengründe, besonders meine angenehme Lage, welche außer traulichen Familienverhältnissen und außer einer nicht zu überladenen Praxis, die in meiner trefflichen Gegend selbst mit Anmuth verknüpft ist, mir vorzüglich auch durch eine ganz ungezwungene Muße schätzbar ist und das – ex officio gelehrt und gründlich thun – ganz beseitigt; auch ist meine letzte Veränderung, welche seit drei Jahren die dritte ist, noch zu neu, um mit Recht schon wieder eine andre zu wünschen. Empfangen Sie übrigens meinen wärmsten Dank für Ihre Güte und sind Sie versichert, daß ich den Verlust, den ich durch meine Nicht-Versetzung nach Jena an Ihrer und anderer trefflicher Männer Nähe und Umgang erleide, sehr hoch anschlage; vielleicht um fünf bis sechs Jahre später hätte ich eine solche Gelegenheit mit Eifer ergriffen. Indessen gestehe ich, daß ich eine Vocation mit Zudringlichkeit erwerben, für eine indelicate Sache halte; es heißt sich ein Urtheil über seine eignen Fähigkeiten erlauben, wobei man nie als ein competenter Richter auftreten kann.
Nehmen Sie Achtungs- und Freundschaftsversicherungen
von dem Ihrigen
Eschenmayer.
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 21. Juli 1801
  • Sender: Carl A. Eschenmayer ·
  • Recipient: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling ·
  • Place of Dispatch: Kirchheim unter Teck
  • Place of Destination: Jena · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Briefe und Dokumente. Bd. 2. 1775‒1809: Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1973, S. 336‒338.

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