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Ludwig Tieck to Sophie Bernhardi TEI-Logo

Liebste Schwester,
Es thut mir weh, so oft deine gänzlichen Mißverständnisse zu bemercken, wie so oft du etwas, was ich sage, ganz falsch nimmst; ich gab mir in meinem Briefe Mühe, dir mein aufgeschobenes Kommen unter einem Gesichtspunckt darzustellen, unter dem du es kälter ansehn solltest, und du hältst mich selbst für kalt. Sei doch überzeugt, daß die Liebe nichts werth sei, die sich so leicht vermindern läßt und traue mir diese triviale armseelige Alltagsliebe nicht zu, traue mir überhaupt einigen Charakter zu, dein Brief beweißt mir, daß du mich für einen Menschen hältst, der wenig reelle und grosse Ideen liebt und leicht an kläglichen Aussendingen kleben bleibt,– ich kann dich versichern, daß du dich hierinn ganz und gar geirrt hast, eben so, wie in dem Glauben, daß ich in der Welt lebe, – du bist hierüber in einem vollkommenen Mißverständniß, ich lebe nur etwas mehr unter Menschen, – wie kann man auf der Universität in der Welt leben? Eitler bin ich auch nicht geworden, nur hab’ ich meinen Hang für Kleinlichkeiten und meine Einseitigkeit etwas mehr verloren, ich weiß, was an mir ist und werde nie stolz werden, ich weiß aber auch, daß es noch dummere Leute giebt und Autoritäten keiner Art werden je etwas über mich vermögen. Ich glaube ein simpler, nicht gerade dummer, ziemlich guter Mensch zu sein, dessen höchstes Bestreben und einziger Zweck es ist, alle seine Seelenkräfte zum allgemeinen Nutzen auszubilden und täglich edelmüthiger und besser zu werden. Hier hast du in wenigen Worten mein aufrichtiges Glaubensbekenntniß.
Wäre es nicht ein sehr allgemeines Vorurtheil, so würde ich dir rathen, irgend einige philosophische Bücher zu lesen, die du nehmlich verstehen kannst, dein Gefühl ist zu starck und reizbar und beugt sich nicht unter der Herrschaft der Vernunft. Versteh’ mich nicht wieder unrecht, – dein Schmerz ist mir heilig und achtenswürdig, aber ich sehe ein, daß er nicht so starck sein sollte, wie er in deinem Briefe herrscht. – Glaube mir, daß ich dich ewig lieben werde und daß meine Liebe wohl zunehmen, aber nie geschwächt werden kann. Halte mich darum nicht für kälter, weil meine Briefe nicht im Ton der deinigen geschrieben sind; ich würde es eben so bei mir für Schwäche erklären, so wie es bei dir nur Schwäche nennen kann.
Könnt’ ich bei dir sein, glaube mir, daß ich auf viele Tage glüklich sein würde, auf Ostern, spätestens auf Pfingsten, (vielleicht aber auf beide Mahle) sehn wir uns gewiß und recht lange, dann trennen wir uns aber noch einmahl, vielleicht noch länger als auf ein Jahr; ich sage dir dies vorher, damit es dich dann nicht überrascht, ob es dich gleich nicht überraschen sollte, denn du kennst ja zum Theil meine Projekte und Lieblingsideen. – Dann leben wir gewiß bei einander, wo und wie kann dir und mir völlig gleichgültig sein. –
Den Mantel brauchst du mir nicht zu schikken, wenn du nach Golzow schreibst, so grüsse sie alle herzlich von mir, auch in Kloster, auf Ostern will ich sie alle wieder besuchen. –
Bernhardi leistet dir zuweilen Gesellschaft, danck’ ihm doch dafür in meinem Nahmen recht sehr, vielleicht ist er auch so gut dir einige Bücher zu schaffen, bitt’ ihn doch um die Anna St. Ives; von Moritz aus dem Englischen übersetzt, lies das Buch recht aufmerksam und schreibe mir dann dein Urtheil, es ist vielleicht der beste Roman, der besonders in unserem Zeitalter viel würken kann.
Grüsse doch meine lieben Eltern und [de]n Künstler und glaube nie, daß ich mich in Rüksicht deiner ändern könne, wenn sich auch manches in meiner Denkungsart und meinen Grundsätzen ändert, wie denn das bei jedem Menschen der Fall sein muß, der nur einigen Werth hat, das Stehnbleiben in Meinungen und Ideen verräth immer einen sehr armen Geist. –
Bleibe gesund, ja gesund, ich bitte dich recht sehr, wenn dir nur etwas an meiner Gesundheit liegt. – Bis izt werde ich mit jedem Tage muntrer und an Kräften stärker, mache nicht, daß das aufhöre. – Ich bin ewig, ewig
Dein dich aufs zärtlichste liebender Bruder.
Tieck.
Göttig. am 12 Oktbr. 93.
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 12. Oktober 1793
  • Sender: Ludwig Tieck ·
  • Recipient: Sophie Bernhardi ·
  • Place of Dispatch: Göttingen · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
  • Notations:
Printed Text
  • Bibliography: Letters to and from Ludwig Tieck and His Circle. Unpublished Letters from the Period of German Romanticism Including the Unpublished Correspondence of Sophie and Ludwig Tieck. Edited by Percy Matenko, Edwin H. Zeydel, Bertha M. Masche. Chapel Hill 1967 (= UNC Studies in the Germanic Languages and Literature; 57), S. 338–340

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